King hat eine beneidenswerte Auffassungsgabe für Menschen. Ein Beispiel: Eine junge Frau die zwanghaft ist, ängstlich und von anderen Menschen abhängig, beschreibt er auf eine so lebensechte Weise, wie ich es als Therapeut, der dieses Störungsbild gut kennt, unmittelbar nicht könnte. Außerdem fehlt mir die „Antizipationsfähigkeit“, wie Goethe das nannte, um mir gleich die ganze Familie vorstellen zu können, und vor allem: die Art und Weise, wie die Beeinträchtigungen der Frau und die Verhaltensweisen der Familienmitglieder zu einem System zusammengewachsen sind. Ich hätte mindestens eine Woche mit so einer Familie zusammenleben müssen, um so eine Beschreibung hinzukriegen.
Offenbar vereint King ein nahezu filmisches Gedächtnis mit einer schnellen Auffassungsgabe, die ihm gestattet, aus wenigen markanten Punkten den Rest zu erschließen. Steven King hat eine phänomenale Menschenkenntnis. Und das entschädigt.
Denn die Stärken des Autors wenden sich künstlerisch gegen ihn: Viele seiner Geschichten sind langatmig und bringen wenig Erkenntnisgewinn – auch wenn sie so gut geschrieben sind, daß es sich wie von selber liest, es gibt sozusagen ein nahezu abschüssiges Lesegefälle: man will immer weiter lesen. Erst hinterher stellt sich ein Gefühl von Unzufriedenheit und Leere ein, allerdings auch nur, wenn man mehr gesucht hat, als pures Lesevergnügen. Und auch das ist Kings Kunst: So verteufelt gut schreiben zu können! Und das wie am Fließband! (Mittlerweile laut Wikipedia hat er 60 Romane veröffentlich, dazu mehrere Bände Erzählungen und Sachliteratur.) – Möglicherweise gibt es in manchen Romanen, die ich noch nicht kenne, mehr Reflektion und Durcharbeitung.
Einige seiner Romane und Erzählungen habe ich nicht zu Ende gelesen, es war mir zu unergiebig: „Brennen soll Salem“, „Das Bild“, „Sara“. Bei anderen, wie „Friedhof der Kuscheltiere“ habe ich bedauert, sie zu Ende gelesen zu haben. Wieder andere, wie „Sie“ oder „Dolores“ waren toll zu lesen, doch hinterher dachte ich: „Das hättest Du Dir auch sparen können.“ Ähnlich ging es mir mit „Atlantis“. – Der Roman „The Cell“ ist ärgerlich und ich frage mich, ob King ihn selbst geschrieben hat.
Dennoch: in manchen Romanen gibt es Abschnitte, in denen sich der Text zu höherer Kunst verdichtet, z.B. die Beschreibung einer schweren unheilbaren Nervenerkrankung eines Mädchens in „Friedhof der Kuscheltiere“ (Kap. 32) , oder die Beschreibung stark rechtslastiger Männlichkeitsvorstellungen in „Das Bild“ . – In „The Stand“ gibt es eine Passage über eine junge Frau, die unehlich schwanger ist und ihre Mutter darüber informiert. Aus dem Roman herausgelöst könnte diese Passage als Kurzgeschichte in einer Sammlung der besten Kurzgeschichten der amerikanischen Gegenwartsliteratur stehen.
Das beste, was man über seine Geschichten sagen kann ist: sie sind verspielt: Gehaltvolles, eingebettet in Spannendes und Gruseliges. – Die künstlerische Qualität ist großen Schwankungen unterworfen. Die Erzählung mit der ängstlichen Frau z.B. mündet in eine Zombiegeschichte, die völlig abgeschmackt wäre, würde sie nicht auch von Elementen der Menschenbeobachtung getragen. – Zombies: das ist einfach einfallslos, und alles, was da an Horror kommt, wirkt aufgesetzt, vorhersehbar, aber vor allem „man fühlt die Absicht und man ist verstimmt“. Der ganze zweite Teil der Geschichte ist – zumindest da, wo er „phantastisch“ ist, einfach langweilig. So geht es mit vielen seiner Geschichten.
Die Romane „In einer kleinen Stadt“ und „Die Arena“ gehören mit Abstand zum Besten, was ich von King gelesen habe. „Die Arena“ ist beklemmend und auf diese Weise ohne jedes genretypische Horrorelement horrorhafter, als alles, was ich sonst von King gelesen habe.
Allgemein ist festzustellen: Was die „phantastischen“ Elemente seiner Geschichten angeht, ist Steven King nicht sehr einfallsreich und phantasievoll. Er hält sich an die altbackenen Schauermärchenelemente: Gespenster, Hexerei, Dämonen, Zombies, Vampire und nicht sehr originelle Monster, die auffallende Ähnlichkeit mit Spinnen oder Oktopussen haben. Und alles wird zusammengekittet mit Telepathie und Telekinese.
Dadurch flachen seine Geschichten nicht selten ab: Einem athmosphärischen, lesenswerten und vielversprechendem ersten Teil folgt der eigentliche Horror, der oft eher grotesk ist (z.B. eine Stadt, die von den Geistern früh verstorbener Rock- und Bluesmusiker bewohnt wird) oder klischeehaft (wenn die Figuren aus dem Lovecraft-Museum ausgeliehen werden oder die übliche Zombiemasche abgezogen wird.) – Auch viele minutiöse Schilderungen körperlichen Schmerzes wirken aufgesetzt, um genretypische Erwartungen zu erfüllen. – Aber wie gesagt: das Atmosphärische und das Menschliche, und natürlich das Lesevergnügen, entschädigen für die Enttäuschungen.
Die besten unheimlichen Geschichten die ich kenne sind immer noch: „Arthur Gorden Pym“ von E.A. Poe, „Die Weiden“ von Algernoon Blackwood, „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann, „Ratten im Gemäuer“ und „Ctullus Ruf“ von Lovecraft, „Der Horla“ (2. Fassung) von Guy de Maupassant.
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Es gibt einen Unterschied zwischen der Literatur der Angst und der Literatur des Leids. In den besten Werken der Angstliteratur sind Elemente der Literatur des Leids nicht ausgeschlossen – wie z.B. bei E.A.Poe oder die erwähnte Passage aus Kings „Friedhof der Kuscheltiere“. Und Literatur des Leids – wie z.B. „Der Horla“ – kann auch ängstigen.
Doch meist ist die Horrorliteratur weit entfernt davon, eine Literatur des Leids zu sein, weil alle wissen: Hier soll jetzt gegruselt oder schockiert werden, es ist nur ein Spiel. Wir wollen uns verunsichern lassen, mit unseren Ängsten auseinandersetzen, Sensationslust stillen, aber nicht mit dem auseinandersetzen, was uns existentiell erschüttert, was beklemmend ratlos macht und am Leben zweifeln läßt.
Goethes Darstellung von Margarete im Kerker war für mich weit schockierender als alles, was ich bei King oder Lovecraft gelesen habe. Das Gleiche gilt für eine Szene in Kafkas „Der Verschollene“: die Darstellung von Mobbing durch Vorgesetzte in einer Situation, in der der Betroffene vor dem Nichts steht und buchstäblich verloren ist, wenn er die Stelle verliert.
3 Zu Verfilmungen von Werken Steven Kings
„Shining“ von St. Kubric ist keine Verfilmung sondern ein Film, das muß man ihm zu Gute halten. – Ich halte ihn als Kunstwerk jedoch für fragwürdig wegen der Filmmusik: Was wäre der Film ohne die Musik von Görgy Ligeti und Krzysztof Penderecki? Wahrscheinlich streckenweise armselig und ein krasser Gegensatz zu Jack Nickolsens grandiosen Darstellungsleistungen. Ich finde es grundsätzlich ästhetisch fragwürdig, autonome Musikkunstwerke als Filmmusik zu benutzen. Dieser Film ist daher kein eigenständiges Kunstwerk, sondern eines, das sich auf andere Kunstwerke stützt, es braucht die Musik wie ein schwaches Rückgrad ein Korsett.
Die Verfilmung von „Shining“, die King veranlaßte, steht im Schatten von Kubrics Film, wirkte auf mich aber atmosphärisch und erlebnisreich.
Der Film „Der Nebel“, von Frank Darabont nach Kings gleichnamiger Erzählung, ist nach meiner Einschätzung einer der wenigen Fälle, in denen die Verfilmung besser ist, als die Vorlage. Der Regisseur gab dem bei King nur angedeuteten religiösen Fanatismus mehr Raum und buchstabierte ihn aus. Das fand ich am horrorhaftesten. Gleichzeitig ist es aber eine anschauliche lebensechte Studie über jenen neurotischen religiösen Fanatismus, der das weiße Amerika von Beginn maßgeblich geprägt hat und sozusagen in seine Fundamente eingeschrieben ist.
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