Thalheimer-Inszenierung

„Es ist zwar gut, dass man´s einmal probiert,
dann aber wieder zu was Neuem!“

Umkehrung und Entdifferenzierung als kontraintuitives Inszenierungskonzept ist zu billig – doch einen Versuch wars wert. – Das Verdienst Thalheimers ist es, neue Wege versucht zu haben und damit zu zeigen, wie verflixt schwer es ist, ein überzeugendes neues Paradigma von Inszenierung eines klassischen Texts zu finden.

(1) Thalheimers Faust
Fausts Eingangsmonolog ist beispielhaft für Thalheimers „kontraintuitive“ Art der Inszenierung: Der Text wird großenteils monoton, statisch, flächig, undifferenziert dargeboten, so, wie eine Person im realen Leben nie sprechen würde . Das muß ja an sich nicht schlecht sein, aber es muß ein ästhetischer Sinn, ein ästhetisches Prinzip erkennbar sein, sonst ist es reine Willkür. Der Zuschauer denkt: „Wenn der das so spricht könnte er es doch auch anders sprechen, z.B. so, daß er jedes 3. Wort besonders betont oder jedes Mal den Buchstaben „O“ lang zieht oder immer einen Vers laut und schnell und den andern leise und langsam…“ Der Zuschauer ist irritiert, es stellt sich kein Erleben ein, weil man sich fragt, wie man das erleben soll. (Das muß man aus dem Begleitbuch zur Aufführung entnehmen: daß da jemand seinen Schmerz herausringe.) Die Inszenierung wird zu einem Chiffren-Rätsel: die Expression wird durch ein Expressionszeichen ersetzt, daß man dechiffieren muß. – Das ist ärgerlich, denn ich gehe nicht ins Theater um Rätsel zu lösen, Rätselhefte sind billiger als Theaterkarten. Durch die Entnuancierung des Sprechens wirkt der Text wie Staffage. Außerdem fragt man sich, warum schließlich nicht auch noch mehr Text weggelassen wird, vielleicht immer mal einzelne Wörter oder Satzteile, das könnte dann Fausts Sprachlosigkeit ausdrücken. Man sieht, welches Pennälerniveau solche Chiffrierungskünste haben… Die Entdifferenzierung erweckt den Verdacht, daß hinter dem kontraintuitiven Ansatz kein ausgereiftes oder überhaupt kein Konzept steht sondern daß da einfach nur jemand mal was Anderes machen wollte, was Ungewöhnliches. Es ist Pseudo- oder Möchte-Gern-Kontraintuitiv.

(2) Thalheimers Populismus
Thalheimers Inszenierung scheint mir einem Konzept von Popularisierung kontraintuitiver Dramaturgie zu folgen, wie eine musikantifizierte Dodekaphonie. – Wenn ich aus dem Faust ein „Volksstück“ machen will, dann in dem Sinne, daß es keiner überdurchschnittlichen Bildung mehr bedarf, sich seinen Gehalt in den wichtigsten Grundzügen zu erschließen. Aber Thalheimers Inszenierung hat Tendenzen, ein Popstück daraus zu machen: Der Text wird genutzt, um Wiedererkennungseffekte zu inszenieren, z.B. das Gretchen, das auf seiner Frage beharrt und der Faust, der drumrumredet. Hier geht es nicht einmal darum, diese eine Szene verständlicher zu machen, denn durch die Vergrößerung des einen Aspekts treten die anderen in den Hintergrund. Und für das Verständnis des Zusammenhangs ist erst recht nichts gewonnen. Popularisierung macht nichts verständlicher aber alles platter.

(3) Thalheimers und Steins Helena
Gäbe es von der Thalheimeraufführung eine DVD, wäre es interessant, Steins und Thalheimers Helena nebeneinander zu stellen: Thalheimer gibt Helena als abgehalfterte Lebefrau. Das hat einen hohen Wiedererkennungs- aber keinen hohen Erkenntniswert. Man merkt hier noch den Desillusionierungsnarzismus früherer Faust-Inszenierungen: „Ich zeige Euch mal, was sich in Wirklichkeit hinter Euren hehren, heiligen Figuren aus Euren Bildungsschätzen verbirgt!“ – Wo Thalheimer jedoch mit seiner Heuristik des Umkehrens frappiert und neue, überraschende Zusammenhänge stiftet, ist seine Euphorion-Interpretation, sie rettet auch seine an sich wenig gehaltvolle Helenakonzeption: Das Jugendlich-Euphorische in die dünkelhafte Fantasie eines steifen, alt gewordenen, kleinbürgerlichen Muttersöhnchens zu verlegen, ist ein Geniestreich! Und keine andere Helena als die Thalheimers könnte besser zum Ausdruck bringen, wie fassungslos manche Formen des Männlichen eine leidgeprüfte, männererfahrene Frau machen können, die glaubte, sie hätte schon alles durch…

Die Helena Steins ist subtiler: sie ist in erster Linie Herrin, Führungskraft, souverän, intelligent und kompetent. Wieviel Luder in dieser Hülle außerdem stecken mag, darüber muß nicht viel geredet und davon muß nicht viel gezeigt werden, darüber sind alle Beteiligten verständigt… Und daß sie außer dem Luder auch noch eine gewisse Reife und Weisheit erworben hat und daß einmal ein anrührendes Mädchenherz in ihrer Brust geschlagen hat, das wird ebenfalls vorstellbar. – Thalheimer gibt nur das Luder zu.

Link zu einer Kritik des Inszenierung im Deutschlandfunk

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