Zu Goethes Modernisierungskritik

In der Philemon und Baucis Episode (Faust II, 5. Akt) problematisiert Goethe das – wie er es nennt – „veloziferische Zeitalter“. („Veloziferisch“ ist eine Kombination aus „Velocitas“ (Geschwindigkeit) und „Luzifer“.) – Wir dürfen natürlich nicht vergessen – und auch Goethe würde das mit Sicherheit nicht – welcher Segen mit der Modernisierung verbunden ist: Hunger, Armut und Krankheiten sind in der westlichen Zivilisation drastisch zurückgegangen und auch weltweit so niedrig, wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. – Ein Beispiel: Die Sterberate von Frauen bei der Geburt sank seit Goethes Zeit um das 300-fache! (D.h.: für jede Frau, die heute bei einer Geburt stirbt, starben früher 300. – Lit.: Steven Pinker, Aufklärung Jetzt.) – Dennoch sollten wir die Augen nicht verschließen vor den Folgen der Modernisierung, die nicht nötig gewesen wären, wäre unsere Zivilisation besonnener. – Dazu paßt folgende kleine Geschichte (Lesezeit: 10 Minuten):

Lars Lehmann

Der alte Kremp

„1949 übernahmen meine Eltern das Kramwarenlädchen in Eichfels, einem winzigen Städtchen im Hunsrück. Es lag über einem Tal, das ein kleiner Fluss sich gegraben hatte. Zu beiden Seiten hatte das Flüsschen schmutzig-graue Schieferfelsen freigelegt. Im Mittelalter hatte sich ein Graf auf einem dieser Felsen eine Burg erbaut und die Siedlung davor mit einer Stadtmauer eingefriedet. Von Burg und Wall war nicht mehr viel übrig, nur noch die Stümpfe, alles andere hatten die Bewohner seit Jahrhunderten als Steinbruch genutzt. An einer Seite hatten sie außerhalb der Stadtmauer Kleingärten angelegt. Und am Rande dieser Kleingärten, kurz bevor das Gelände zu abschüssig wurde, stand, an einem Stumpf der Stadtmauer angebaut, ein winziges Häuschen mit nicht viel mehr als 15 Quadratmetern Grundfläche. Es war aus Steinen der ehemaligen Stadtmauer und verwitterten Ziegeln zusammengestoppelt, hatte nur zwei winzige Fensterchen und Holzschindeln. Ein Bretterverschlag, der am Häuschen lehnte, diente als Schuppen und Stall. Alles sah ziemlich selbstgemacht aus. Das war das Häuschen vom alten Kremp.

Im Mittelalter, zur Zeit des Grafen, hatte man alle Bäume vor der Stadtmauer gerodet, um ein freies Schussfeld zu haben. Der Regen hatte an den Rändern die Erde fortgeschwemmt, so wuchs die Hügel hinab nur noch Heidekraut. Das Häuschen und sein Garten befanden sich auf diesem unfruchtbaren Streifen, doch hatte der alte Kremp offenbar einen „grünen Daumen“, denn er pflegte dort einen Gemüsegarten und eine kleine Plantage mit kleinen stämmigen Apfel- und Nussbäumen. Diese Bäumchen hatten Äste mit seltsamen Zacken, die jedesmal ins Auge stachen, sobald das Gärtchen ins Blickfeld kam. Die Zacken hatten wahrscheinlich mit der besonderen Pflege zu tun, die die Bäumchen auf dem unfruchtbaren Boden brauchten. – Um den Rest der Vegetation kümmerten sich zwei Schafe.

Der Alte Kremp war ein schmächtiges Männlein, höchstens einssechzig groß, hager und ein wenig gebeugt. Als ich ihn zum ersten Mal sah, kam er mir schon uralt vor. Kinder haben natürlich noch keine Vorstellung vom Alter, deshalb ist es schwer zu sagen, wie alt der Alte Kremp wirklich war, als wir ins Städtchen zogen. Jedenfalls war sein Gesicht schon ganz runzlig. Da die Menschen damals, vor allem die Landbevölkerung, schneller alterten, will das natürlich nicht viel heißen. Es kann sich durchaus um einen vorgealterten Mittfünzigjährigen gehandelt haben.

Er war im wahrsten Sinne ein „Unikum“. Man sah ihn immer in den gleichen schwarzen Gummistiefeln, den gleichen graubraunen viel zu weiten Hosen mit braunem Rock, über dem er im Winter einen grauen ranzigen Mantel trug, mit einem speckigen Hütchen auf dem Kopf. Nur in heißen Sommern sah man ihn in einem blaugrauen Flanellhemd und Hosenträgern. Er hatte auch immer den gleichen Gesichtsausdruck: man sah ihn nie anders als ernst. Dabei wirkte seine Mimik jedoch nicht starr. Dennoch erinnerte sein Gesicht an das einer Schildkröte. Es wurde von ihm gesagt, daß ihn noch nie jemand lächeln gesehen habe. Sprechen tat er auch nicht. Das einzige Wort, das man ab und zu von ihm hören konnte war: „Tja.“ Allerdings konnte er dieses „Tja“ auf so vielfältige Weise betonen, daß er – für seine Verhältnisse – mit diesem „Tja“ Bände sprechen konnte.

So lebte der Alte Kremp am Rande des Dorfes in der unfruchtbaren Zone unbehelligt vor sich hin, „schon immer“, wie die Dorfbewohner beteuerten. Er hatte keinen Beruf und bezog kein Einkommen. Er war autark. Wahrscheinlich hatte er seit Jahren kein Geld mehr angefasst. Wenn er mal etwas brauchte, tauschte er es gegen Garn ein, das er aus der Wolle seiner Schafe selber gesponnen hatte. Sonst hatte er mit niemandem etwas zu tun. Geschweige denn zu reden. Und auch über ihn wurde so gut wie nie geredet. Er war da, aber er interessierte nicht. Dennoch gehörte er dazu. Egal welchen Bewohner des Städtchens man gefragt hätte: das Städtchen ohne den alten Kremp wäre für jeden völlig unvorstellbar gewesen, ohne ihn hätte man sich nicht so heimisch darin gefühlt. Daher rührte wohl auch der Spruch, der Alte habe schon immer hier gelebt.

Kremp selbst wollte offenbar auch dazugehören. Er ging z.B. jeden Sonntag in die Kirche, ins Hochamt. Dort stand er ganz hinten in einer Nische, man sah ihn nie knien oder sich bekreuzigen, die heiligen Sakramente empfing er auch nie. Er stand nur da, jeden Sonntag. Allerdings auch nur Sonntag. Nie zu den andern Kirchfesten, nie zu Weihnachten. (Es sei denn, es fiel auf einen Sonntag.) Genauso wars beim Schützenfest: Er stand mit den andern und sah dem Schießen zu. Mit unbewegter Mine. Nach dem letzten Schuß sagte er nur „Tja“. Je nachdem wer verloren hatte war es mehr mitfühlend oder mehr schadenfroh. – Er grüßte auch jeden, auch uns Kinder. Sein Gruß bestand aus einem kurzen aber nicht scheu wirkenden Blick, mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken.

Jede Kindergeneration musste mit ihm ihre eigenen Erfahrungen machen – obwohl sie nie etwas anderes erfuhren, als sie von den Erwachsenen bereits durch Erzählungen wussten. Aber man glaubte es nun mal nicht, wenn man es nicht selbst erfahren hatte. Man konnte dem Alten z.B. keine Äpfel klauen. Egal wie man es anzustellen versuchte, selbst mitten in der finstersten und stürmischsten Nacht: sobald man nach einem Apfel griff, kam der Alte an. Es sah aus, als käme er zufällig vorbei. Er schimpfte nicht, er schaute nicht einmal verärgert oder unfreundlich – er hatte ja immer den gleichen ernsten Gesichtsausdruck – sondern grüßte nur, wie er immer grüßte, und machte sich an einem der Bäumchen zu schaffen, so als wäre er nur deswegen hier. Man hätte den anvisierten Apfel einfach pflücken können, der Alte hätte nichts gemacht, jedenfalls hatten selbst die größten Angsthasen keine Angst vor ihm. Aber merkwürdiger Weise mochte man nach dem Gruß des Alten den Apfel nicht mehr pflücken. Selbst die ärgsten Lausbuben hatten bisher jede Wette verloren: der Gruß des Alten hatte irgendetwas so Entwaffnendes, daß man es nicht über sich brachte, ihm den Apfel weg zu nehmen.

Die Früchte seines Gartens waren seine ganze Leidenschaft. Wenn er seine Äpfel pflückte, umfasste er seltsam umständlich jeden mehrfach mit der ganzen Hand. Es hatte etwas Liebevolles, um nicht zu sagen Erotisches: er legte seine Hand auf die Äpfel wie ein Liebender auf seine Geliebte. Sein Gesichtsausdruck verschob sich dabei ganz leicht: er wirkte etwas heller, vitaler, ja, fast ein wenig strahlend, es zeichnete sich eine Emsigkeit darauf ab und ein ganz entschiedenes Haben-Wollen. Das wirkte aber nicht gierig sondern beschaulich. Dennoch wollte er alle Früchte seines Gartens nur für sich. Nie schenkte er einem Kind einen Apfel, nicht mal eine Nuß. Doch jeder gönnte ihm seinen Geiz, weil er niemandem auf der Tasche lag und ganz allein durch den Winter kommen musste. Und er kam auch ganz allein durch den Winter, immer. Niemand konnte sich daran erinnern, daß er – selbst in den härtesten Kriegswintern – je einmal auch nur um eine Nuß gebeten hätte!

Sein Garten brachte ihm übrigens viel Achtung ein: Selbst die erfahrensten Bauern schüttelten die Köpfe und gaben zu, nicht zu wissen, wie der Alte es schaffe, auf so unfruchtbarem Boden einen so üppigen Garten zu haben und Jahr für Jahr so viele Äpfel und Nüsse von seinen kleinen Bäumchen zu ernten.

Doch was ich eigentlich erzählen wollte: Bis zu meinem 19. Lebensjahr lebte ich bei meinen Eltern. In all dieser Zeit schien sich der Alte nicht im geringsten verändert zu haben. Natürlich kann ich mich täuschen, weil man ihm ja mehrmals die Woche über den Weg lief und sich an jede kleine Veränderung gewöhnte, wie beim Wachsen der eigenen Kinder. Aber immerhin: in den 12 Jahren, in denen ich im Städtchen wohnte, hatte er sich nicht merklich verändert. – Nach dem Abitur suchte ich das Weite, und da ich eher noch weniger Interesse an meinen Eltern hatte, als die an mir, kam ich auch nur noch ganz selten für ganz kurze Besuche zurück, und dann interessierte mich der Alte nicht und ich bekam ihn meist auch nicht zu Gesicht.

1984 verbrachte ich einige Tage mit meiner Frau in Eichfels. Es interessierte mich, noch einmal meine alte Heimat zu durchstreifen. Allerdings übernachtete ich nicht bei den Eltern sondern bei einem Schulfreund, dessen Frau eine Pension führte. Ich hatte an den Alten gar nicht mehr gedacht. Meine Erzählung täuscht: Erst im Nachhinein habe ich mich für ihn interessiert. Ich sagte ja schon: Niemand hat sich je für ihn interessiert. Seine liebenswürdigen Schrullen lenkten manchmal die Aufmerksamkeit kurz auf ihn, aber sonst nahm man ihn gar nicht war, genauso wenig wie einen Felsvorsprung am Wegrand, an dem man täglich vorüber kommt. Daher dachte ich, als ich sein Häuschen wiedersah, nichts anderes als: „Ach ja“. Ich machte nicht einmal meine Frau darauf aufmerksam, so wenig hatte ich den Alten je bemerkenswert gefunden. Ich machte mir auch keine Gedanken darüber, ob er überhaupt noch lebte.

Beim Spaziergang im Wald sah ich ihn, wie er seinen selbst gezimmerten Leiterwagen zog, voll beladen mit gesammeltem Holz. Das wunderte mich schon etwas, denn er musste jetzt steinalt sein. Ich rechnete nach: gesetzt, er wäre 1949 55 Jahre alt gewesen, müsste er heute 93 sein! Ein Louis Trenker des Hunsrücks, wenn er mit 93 noch so einen Karren den Berg hochziehen konnte! Selbst wenn er damals ein stark vorgealterter 45 jähriger gewesen sein sollte, hätte er sich verdammt gut gehalten! Zumal er nicht älter aussah, als ich ihn in Erinnerung hatte! Doch Erinnerungen können täuschen. – Daß er noch da war, gab mit ein Gefühl von: „Die-Welt-ist- noch-in-Ordnung“. – Als er mich sah, grüßte er wie immer, doch dann stutzte er, aber ohne eine Miene zu verziehen, schaute mich noch einmal an, erkannte mich offenbar wieder, und nickte noch einmal, bevor er weiter ging.

Als ich meinen ehemaligen Klassenkameraden nach ihm fragte, sagte er bloß: „Ach der, du weißt doch, der überlebt uns noch alle!“

„Weiß eigentlich irgendjemand, wie alt der ist?“ fragte ich. Er zuckte die Achseln: „Keine Ahnung, wen interessierts?“

Ich fragte seine Eltern. „Den hats schon immer gegeben und den wird’s immer geben“ bekam ich lachend zur Antwort. Offenbar machte sich niemand Gedanken um den Alten. Ich beschloß, ihn selber zu fragen. Ich glaube, es war noch nie jemand ernsthaft auf die Idee gekommen, ihn irgendetwas zu fragen! Außer der neue Pfarrer, der soll ihn einmal gefragt haben, warum er die heiligen Sakramente verschmähe, wenn er doch jeden Sonntag in die Kirche käme. Darauf soll der Alte nur mit den Achseln gezuckt, „Tja“ gesagt und hilflos geblickt haben. – Ich hatte Gelegenheit, ihn in seinem Garten anzusprechen: „Sagen Sie, Herr Kremp, wie alt sind Sie jetzt eigentlich? Ich staune, daß Sie immer noch den schweren Karren hier herauf ziehen!“ Er blickte mich an mit großen Augen, die wohl seine Verwunderung über meine Ansprache ausdrückten, und sagte mit unbewegter Mine: „Tja“. Dann wandte er sich wieder seinem Kohl zu.

Ich halte eigentlich nichts vom Fotografieren. Doch als ich sah, wie viel sich in all den Jahren im Städtchen verändert hatte, entschloß ich mich doch, Bilder zu machen. Die Region hatte den Tourismus entdeckt. Eine Straße war zur Schnellstraße ausgebaut worden und nun hatten sich um den Ort herum Stadtflüchtlinge angesiedelt und Supermärkte. Eine bekannte Supermarktkette hatte den Bürgermeister sogar erpresst: die Filiale, die Arbeitsplätze schaffe, würde nur gebaut, wenn diese und jene Äcker als Bauland ausgeschrieben würden. – Auf der Burg stand ein Kran. Und überall standen Tafeln herum, die alte Fotos zeigten, wie es zu meiner Zeit ausgesehen hatte, neue Fotos, wie es jetzt aussah und Fotos von Modellen, wie es künftig aussehen würde: man wollte die Stadtmauer mit ihren Toren und Türmen sowie einiges von der Burg wieder aufbauen. – Mit zwiespältigen Gefühlen verließ ich meine alte Heimat.

1998 – meine Eltern waren längst gestorben – verschlug es mich auf einer Dienstreise in die Nähe von Eichfels und ich ergriff die Gelegenheit, dem Städtchen noch mal einen Besuch abzustatten. – Wie hatte es sich verändert! Die Burg war ausgebaut worden – allerdings mit Scheinfachwerk und Stahlbeton, ebenso wie Teile der Stadtbefestigung. Die Umgebung war mit eintönigen, weit sich hinziehenden Eigenheimsiedlungen völlig zersiedelt, die Altstadt kaum wieder zu erkennen: In die alten Häuschen waren riesige Schaufensterfronten gebrochen und einige Häuser waren abgerissen und durch Billig-Gestelle ersetzt worden, behängt mit schlecht stilisierten gotischen Fassaden.

Plötzlich schoß mir durch den Kopf: „Der alte Kremp!“ Richtig, sein Häuschen stand nicht mehr! Die Steine hatte jemand genutzt, um am Abhang ein Mäuerchen aufzuführen und mit Mutterboden die Kleingartenanlage zu erweitern. Anstelle des Häuschens stand jetzt eine schicke große Holzdatscha. Den Mann, der den Garten bestellte, kannte ich nicht. Ich fragte nach dem Alten Kremp, er hatte nie von ihm gehört. Ich fragte nach den Apfel- und Nussbäumchen. Er sagte: die habe er erhalten wollen, er habe alles versucht, aber sie seien ihm alle eingegangen. Das müsse ein Meister gewesen sein, sein Vorgänger, der diese Bäumchen auf so schiefrigem Boden durchgebracht habe.

Ich besuchte meinen Schulfreund und fragte nach dem alten Kremp, wann er gestorben sei. Er hatte keine Ahnung, empfahl mir aber, einen alten Bauern zu fragen, einen der letzten Kleinbauern am Orte, der habe den alten Kremp vor Jahren zuletzt gesehen. – Der Bauer schmunzelte, als ich ihn nach dem Alten fragte und ich hörte wieder den abgedroschenen Spruch, „Tja, der alte Kremp, der wird uns noch alle überleben!“

„Aber er ist doch tot! Sein Häuschen steht doch nicht mehr!“

„Tot, der? Von dem haben schon meine Großeltern erzählt! Der war schon alt, als die noch Kinder waren!“ Er lachte, so daß ich ihn nicht ernstnehmen konnte.

„Und wo ist er dann jetzt?“ fragte ich ihn herausfordernd und ein wenig ärgerlich, weil ich mir verarscht vorkam.

„Keine Ahnung. Der is´ weg von hier.“

„Weg von hier? Wann?“

„Na, das muß so vor drei, vier Jahren gewesen sein. Ich hab ihn hier in den Feldern getroffen, Anfang Oktober. Er hatte erst noch seine Äpfel geerntet bevor er fort is. Die hatte er alle in sein Wagen, mit Strohsack, Kartoffeln, Gartengerät. Und die beiden Schafe hinterdrein. Er grüßte wie immer, als er mich sah, mehr nich. Traurig sah er aus, so hat man ihn sonst nie gesehen. „Willste weg?“ frag ich. Blöde Frage. Immerhin blieb er stehen und schaute mich an. Ich sach: „Zu viele Touristen, ne? Is dir nix, ne?“ sach ich. Da sacht er „Tja“, zuckt traurig die Achseln, nickt mir noch ma zu und zieht weiter.“

„Wie alt mag er da gewesen sein?“

„Da haben wir uns nie Gedanken drüber gemacht, wie alt der is!“ lachte der Bauer wieder und wendete sich seiner Arbeit zu.

Der musste mindestens weit über 90, wenn nicht über 100 gewesen sein, überlegte ich, und geht vor dem Winter noch auf Trebe, mit so nem schweren Karren!

Ich beschloß, im Ortskern noch ein Eis zu essen und dann weiter zu fahren. Als ich die Hauptstraße entlang schlenderte, die jetzt Fußgängerzone war, blieb ich an einem Ansichtskartenladen stehen. Ich schaute mir die verschiedenen Bilder an und fand sie alle hässlich, bis auf eines, das eine historische Stadtansicht wiedergab, aus dem späten 16. Jahrhundert, als das Geschlecht des Grafen längst ausgestorben und die verwaiste Burg zerfallen war.

Daß das alte Häuschen darauf zu sehen war, war es nicht, was mich erschütterte, Häuser können alt sein. – Was man von Kindheit an fast täglich sieht, bleibt intuitiv im Gedächtnis, wir würden es vielleicht nicht reproduzieren können, aber unzweifelhaft wiedererkennen. – Als ich mir die Ansichtskarte genauer anschaute, sah ich die Apfel- und Nussbäumchen in genau  der gleichen Anordnung, der gleichen Größe und mit den genau gleichen Zacken in den Ästen, wie ich sie von Kindheit an kannte!“

(„Der alte Kremp“ wurde 2011 veröffentlicht.)

Weiterlesen: „Die Revolte“, Psychjatergarn Nr. 3

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