Hexenküchen

(Lesezeit: 10 Minuten)

Inhalt:

(1) Das Sinnbild
(2) Heimlichkeit
(3) Das Hexeneinmaleins
(4) Studierzimmer und Hexenküche
(5) Die Heimlichkeiten des Küchenpersonals
(6) Nachsatz zur Interpretation

 

(1) Das Sinnbild

Faust ist sauer: Er will Anti-Aging, doch statt Wellness und Arjuveda schleppt Mephisto ihn in ein Labor. Faust will Bio und kriegt Chemie. Mephisto grinst: Bio geht auch, aber nicht so schnell und bequem. Da nimmt Faust dann doch lieber Chemie.

Die „Hexenküche“ ist ein Sinnbild dafür, wie schnell wir bereit sind, unseren Einsichten und Werten zuwiderzuhandeln, wenn wir etwas erreichen wollen. – Statt Bio Chemie, statt Vernunft Esoterik, kurz wird noch der Mund verzogen, doch schon verrät man seine eigenen Werte.

Die Szene ist ebenfalls Sinnbild für die Irrationalität, die entsteht, wenn Menschen (hier: die Hexe) sich abschotten, weil sie glauben, über das, was sie wollen und denken, können die andern sich eh kein Urteil erlauben, da braucht man gar nicht erst mit ihnen reden…

Eine moderne Hexenküche, bei der beides der Fall ist, Abschottung der Akteure und Selbstverrat der Konsumenten, ist z.B. die Massentierhaltung: Die Betreiber sind bestrebt, daß keiner weiß, was da wirklich vor sich geht, und von den Konsumenten will wahrscheinlich niemand, daß Tiere gequält werden, und minderwertiges, mit Schadstoffen angereichertes Fleisch will eigentlich auch niemand. Aber weil es so schön billig ist, ist alles egal…

Moderne Hexenküchen sind auch die Labore der Gentechnologie und der künstlichen Intelligenz, deren Ziele zu wenig der öffentlichen Willensbildung unterliegen. – Die Medien, deren Aufgabe es wäre, die Bürger für mehr öffentliche Willensbildung zu interessieren, sind dazu nicht in der Lage, weil sie, um auf dem Aufmerksamkeitsmarkt konkurrieren zu können, über das reden müssen, über das alle reden. – Und so können die Hexenküchen weiter ungestört vor sich hin sudeln… – (So schnell gelangt man von der Hexenküche zum Rundfunk, über den Mephisto spottet: „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage„…)

Abgeschottetes mutiert: „In allen Instituten, in welche nicht die Luft der öffentlichen Kritik hineinweht, wächst eine unschuldige Corruption auf, wie ein Pilz“ (Friedrich Nietzsche, „Menschliches, Allzumenschliches“ Nr. 468)


(2) Die Heimlichkeiten der Hexenküchen

Die Hexe der Hexenküche hat sich isoliert von den Menschen und ist versponnen in esoterische Fantasien von ihrer magischen Macht (Hexeneinmaleins). – Vielleicht ist sie Hexe geworden, weil sie sich verkannt fühlte. Deshalb fand sie alle doof: „Mit denen kann man nicht reden!“ Sie zog sich in ihre eigene Welt zurück und richtete sich die Hexenküche ein. Dort umgibt sie sich mit Menschen, die ihr unterlegen sind und von ihr abhängig  („Affen“), so daß sie nicht wagen, das Selbstbild ihrer Cheffin offen in Frage zu stellen.

Für Faust ist es eigentlich abwegig, sich auf abergläubischen Hokuspokus einzulassen.  „Sudelköcherei“ ist das Stichwort: Es herrscht Unordnung, Unsauberkeit und Unverstand. Und die Hexe unterbindet den Austausch mit dem Rest der Welt, um eigensinnig ihren Bestrebungen, Umtrieben und Trägheiten frönen zu können. Vor Desillusionierung schützt außerdem, daß Fremden das Betreten bei Todesstrafe verboten ist („die Feuerpein euch ins Gebein“). So braucht die Hexe sich nicht zu fragen: „Was würden andere Leute denken, wenn sie meine Wirtschaft hier sähen?“

(3) Das Hexeneinmaleins

Angenommen jemand, der keine Ahnung von Chemie hat, versucht das erste Mal in seinem Leben, ein Streichholz zu entzünden. Es ist etwas feucht und beim ersten Streich entzündet es sich nicht. Beim zweiten Versuch sagt er laut „Feuer“ in der Hoffnung, damit auf das Streichholz einzuwirken. Jetzt zündet’s. Wenn er das öfter macht, wird er irgendwann glauben, die Zündung würde sicherer klappen, wenn er das Streichholz mit Aussprechen des Wortes „Feuer“ beschwört. Er kann damit nur Recht behalten: Wenn es mal nicht klappt, denkt er: „Naja, keiner kann einen Zauber haben, der so mächtig ist, daß er immer Erfolg hat.“ – Wenn es klappt denkt er: „Ohne würde es wahrscheinlich nicht so oft klappen, der Zauber wirkt!“

Soetwas wie das Hexeneinmaleins entsteht aus einer urtümlichen, uns oft unterlaufenden Verwechslung von Korrelation und Kausalität. Es ist eines der stammesgeschichtlich ältesten Programme von Wirbeltiergehirnen, ein Verhalten zu wiederholen, das mit Erfolg einhergeht –  („operantes Lernen“). So lassen sich auch Tiere abergläubisch machen: Bei einer regelmäßigen Futtergabe beginnen Tauben, eine ihrer Bewegungen, die zufällig öfter mit der Futtergabe zusammenfiel, zu wiederholen. Nach einiger Zeit wird die eine Taube ständig den Hals recken, die andere ständig mit dem Flügel schlagen…

Mit dem Hexeneinmaleins kann die Hexe sich einbilden, sie könnte die Wirkung in die Droge hexen – ohne selbstkritisch einzugestehen: Sie selber hat gar keine Macht, die Macht sitzt allein in der Droge, und die hat sie auch nicht selbst entdeckt, sondern der Teufel hat sie ihr gegeben.

Und auch, um diese Einbildung aufrechtzuerhalten, braucht es die Hexe, sich abzuschotten, damit sie mit niemandem reden muß über das, was sie tut und denkt. Sie bleibt in ihrer eigenen Welt wie in einem Kerker.


(4) Studierzimmer und Hexenküche

Faust läßt sich auf geächtete, verfemte Mittel ein. – Das zeigt das Ausmaß seines Grolls aufs Dasein. Er denkt soetwas wie: „So war das nicht abgemacht, daß ich mich mein Leben lang bemühe und trotzdem bloß mit Belanglosigkeiten abgespeist werde! Wenn ich redlich nicht zu meinem Recht komme, muß es eben anders gehen!“

Faust ist wie jemand, der mit Doping oder Drogen etwas erreichen will, was ihm ohne nicht möglich ist. Die guten Gründe für die Ächtung dieser Mittel werden von Faust ignoriert und die Auseinandersetzung darüber wird genauso verweigert wie die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, sich der Magie zu ergeben, oder ob es gegen den Daseinsfrust nicht was Besseres gibt. Faust war vermutlich intuitiv klar: „Wenn ich mich darüber mit jemandem auseinandersetze, könnte das ja dazu führen, daß ich mich nicht der Magie ergebe! Und dann verpasse ich die Chancen, die die Magie vielleicht zu bieten hat!“

Darin liegt eine Verwandtschaft von Studierzimmer und Hexenküche: „Das weiß ich besser, da brauche ich gar nicht erst mit jemandem zu diskutieren, da kann sich sowieso kein anderer ein Urteil drüber erlauben!“

(5) Die Heimlichkeiten des Küchenpersonals

Die Gehilfen der Hexe, die Laborarbeiter, sind „Affen“. Affen sind Sinnbild für Menschen die weit unterhalb ihrer Möglichkeiten geblieben sind, weil sie keine Chance hatten, sich zu entwickeln. Eine der Meerkatzen bringt es auf den Punkt: „wär ich bei Geld, wär ich bei Sinnen“.

Während sie auf die Rückkehr der Hexe warten, entspinnt sich zwischen Mephisto und den Affen ein ironisches Spiel, das die „Klassenunterschiede“ zum Gegenstand hat: Die „Arbeiter“ verlieren ihre Motivation zur Arbeit, sobald ihr Boss nicht hinschaut („Pfoten wärmen“). – Sie erkennen, daß die Ausbeutung, die ihre Bosse betreiben, eigentlich Diebstahl ist, dürfen das aber nicht laut sagen. – Sie trauen den Herrschenden auch nicht zu, verantwortlich mit der Welt umzugehen. Sie sehen sie mit der Welt und dem Leben ihrer Untertanen spielen, wie Kinder mit einer Glaskugel. Die Glaskugel kann nur abwarten, was passiert, sie hat keinen Einfluß auf die Hände, die sie halten.

Als die Hexe zurückkommt, ist die Suppe angebrannt, die Affen werden gezüchtigt. – Diese kleine Sequenz erklärt das Verhalten der Arbeiter: Weil die Hexe die Arbeiter mit Drohung und Einsatz von Zwangsmitteln zu mehr Disziplin und Leistung nötigen will, haben die Arbeiter „keinen Bock mehr“: sie fühlen sich zu nichts verpflichtet, sind nur noch darauf bedacht, sich möglichst schadlos zu halten, pfuschen und bummeln wo sie können, und tun nur noch, was unbedingt nötig ist, damit sie ihren Lohn bekommen und nicht rausfliegen. („Zeig nie, was du alles kannst“ ist eine alte Arbeiterweisheit.)

Und je ungerechter und schlechter sie behandelt werden, desto mehr werden sie es den Bossen heimzahlen durch Dienst nach Vorschrift oder mit anderen Mitteln nicht nachweisbarer Sabotage („passive Aggression“): Die Krone hat einen Knacks, die Diener überreichen sie dem König zur Reparatur, aber dabei zerbrechen sie sie aus Versehen.

Passive Aggression und Mangel an Kooperationsbereitschaft sind den Arbeitern der Hexe derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß bereits die Alltagsverständigung dadurch verzerrt wird: Wie lange ist die Hexe aus dem Haus? „Solang wir uns die Pfoten wärmen“.

Mephisto ist über Kommunikationspathologien wie diese entzückt, weil er weiß, daß das Böse nur gedeihen kann, wenn die Menschen zu wenig miteinander reden. (Weil er die Macht des Wortes kennt, machte Mephisto sich im Studierzimmer über Faust lustig: „einer der das Wort so sehr verachtet“. Faust hatte zuvor bei der Bibelübersetzung „logos“ lieber mit „Tat“ als mit „Wort“ übersetzt.)

Eine „ungelernte“ Arbeiterin, die über 20 Jahre in verschiedenen Produktionen gearbeitet hat, kann mehr Intuition für Verfahrensabläufe haben, als mancher Ingenieur. Wenn der sich dann denkt: „Was brauch ich Rat, von einem alten Weibe“, dann ist das nicht nur schlecht für die Effizienz, sondern die Mitarbeiter sind frustriert, weil sie ihre Erfahrung nicht einbringen können und stattdessen ihre Lebenszeit für Unsinn aufwenden müssen. Sie werden der Führungsebene den Stinkefinger zeigen – unter vorgehaltener Hand…

Die Affen in der Hexenküche sind alles andere als äffisch. Sie sagen: „Wir reden und sehen, wir hören und reimen … und wenn es uns glückt und wenn es sich schickt, sind es Gedanken“. Sie wollen sich „ihren Reim“ auf die Vorgänge machen, auf das Spiel ihrer ahnungslosen Herrn mit der Weltkugel, aber sie sind sich bewußt, wie wenig sie „mitreden“ können, wie vorsichtig sie mit ihrem Urteil sein müssen. – Mephisto lobt sie dafür als: „aufrichtige Poeten“.

(Die Affen sind weiter als die AfD und die ihr nahestehenden Bürgerbewegungen, die immer gleich besserwisserisch überzeugt sind von dem, was ihnen ihre kurzsichtige Empörung eingibt.)

Die Affen mahnen an, daß jede Entscheidung im Spiel mit der Weltkugel eine Art Operation in einem riesigen Experiment ist. Und wenn die, die entscheiden, nicht mit denen reden, die von den Entscheidungen betroffen sind, geht jede Menge hochrelevanter Information verloren, wie bei einer Experimentalanordnung, die unzureichend mit Sensoren ausgestattet ist und nur ein Bruchteil des Geschehens aufzeichnet.

Die Affen beklagen sinngemäß einen Mangel an Transparenz und öffentlicher Diskussion: Sie bleiben mit dem, was sie hören und sehen und wie sie darüber denken, unter sich. Deshalb wissen sie nicht, was sie von den Vorstellungen, die sie sich machen, halten sollen: sie müssen davon ausgehen, daß es weitgehend Glückssache ist, ob ihre Vermutungen stimmen oder nicht.

(Sicher: Im Gegensatz zum Experiment hat die Politik nicht bei jeder Entscheidung alle Zeit der Welt, um ihre „Versuchsanordnungen“ mit Sensoren auszustatten und deren Informationen auszuwerten. In Gemeinwesen kommt es daher darauf an, das Rückmelden der Betroffenen immer besser zu institutionalisieren. Da ist unsere Demokratie schon einen großen Schritt weiter als der Absolutismus. – Doch solange es noch sowenig Austausch gibt zwischen Bürgern und Politik, könnte eine Lösung für dieses Problem in der eigeninitiativen Gründung von Bürgerräten liegen. – Ein rudimentäres Beispiel dafür könnte mein Briefwechsel mit der MDR-Intendantin Carola Wille sein.)

Das Verhältnis Affen-Hexe bildet das Verhältnis Mephisto-Faust ab: Mephisto ist passiv aggressiv: Er sagt nicht, was er weiß, er läßt sich bitten, er erklärt seine Unzuständigkeit, so daß Faust später (am Kaiserhof) schimpft: „Da haben wir den alten Leierton! Bei dir gerät man stets ins Ungewisse. Der Vater bist du aller Hindernisse, für jedes Mittel willst du neuen Lohn!“ – Auch hier ist eine eigenartige Verkennung: Es müßte Faust doch klar sein, daß der Teufel nicht für ihn engagiert ist, Faust sagt doch selbst: „Der Teufel ist ein Egoist“.

Am Schluß des Dramas will Faust Arbeiter „herbeipressen“, feiert sich selbst als „ein Geist für tausend Hände“, befiehlt, einen Graben zu schaufeln – und kriegt nicht mit, daß sie ihm sein Grab schaufeln…

Weiterlesen auf dem Faustpfad: Fausts Lügenspiel

Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel)

 

Weiterführend:
(1) Das galaktische Bewußtsein – eine „Parallelgeschichte“ zur Hexenküche (Lesezeit: 30 Minuten)
(2) Die „Pläät“ – eine Gendergeschichte  (eine weitere Parallelgeschichte zur Hexenküche – 35 Min.)

 

Nachsatz zur Interpretation

Aus der „Hexenküche“ Züge der französischen Revolution heraus zu lesen, hat nichts mit Interpretation zu tun. Und was für einen Wert hätte Literatur, die einfach bloß Wirkliches chiffriert? Das wäre nicht Poesie, sondern bloß Rätselspaß, wie ihn jede Zeitung liefert.

Selbst wenn sich solche Zeitbezüge entdecken lassen, waren sie für Goethe nur Mittel um eine „Formel“ zu schaffen, die auf etwas Zeitloses verweist. Man vergißt solche Bezüge am Besten, um frei zu sein für das Erlebnis eines Bildes, einer beispielhaften „Anschauung“, hier: des Zusammenspiels von Versponnenheit, Beschränktheit, Duckmäuserei und Machtmißbrauch, das über all da, wo Menschen sich abschotten und zu wenig miteinander reden, in dem einen oder anderen Maße entsteht.

 

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