Fausts Erlebnisse von Mangel und ihre Aktualität

Lesezeit: 11 Minuten

Inhalt:
(1) Die Mangelerlebnisse
(2) Szeneninterpretation: Makrokosmosszene

Faust leidet Mangel an Wissen, Wirkung und Verbundenheit, an Sinn, Freude und Erlebnis.

Die Entbehrungen, die er für die Wissenschaften auf sich genommen hat, haben sich nicht ausgezahlt: Sie haben zu keinen faszinierenden Erlebnissen geführt, zu keiner befriedigenden Erkenntnis und zu keinem gelungenen Werk, wie z.B. einem wirksamen Medikament gegen die Pest.

(1)  Mangel an Wissen

Trotz der Fortschritte der Wissenschaften ist Fausts Leiden am Nichtwissen nach wie vor aktuell:

(1.1) Philosophie

Das einzig sichere Wissen in der Philosophie ist die formale Logik, über die Mephisto sich in der Schülerszene lustig macht.

Heute ist nur eines sicher: Alle Philosophie versagt dabei, eine Lehre zu entwickeln. Der Sinn der Philosophie liegt nicht in einer „Doktrin“, sondern in der Ausbildung der Kompetenz, Fragen zu stellen, um Illusionen und Widersprüchen auf die Spur zu kommen. Philosophie ist die „Befreiung der Seele aus einem Urteilskorsett … Es geht um die Autonomie einzelner, nicht um die Wahrheit von Allgemeinheiten“1. 

Warum reicht Faust die Kompetenz nicht, Fragen zu stellen und sich von Werten und Illusionen zu befreien? Warum leidet er unter der Ungewißheit nur, statt sich an der Befreiung, die mit ihr einhergeht, zu freuen?

Faust möchte die Rätsel des Daseins lösen, er möchte Antworten auf die Fragen: Wie ist das Universum entstanden? Was war vorher? Was ist die Stellung des Menschen im Kosmos? Hat das Dasein, hat unser Leben, haben unsere Leiden einen Sinn? Ist nach dem Tod alles aus oder nicht?

Bei Fragen wie diesen versagt unser Erkenntnisvermögen grundlegend. Wir wissen nicht einmal, ob wir einen freien Willen haben oder gänzlich determiniert sind: Wir können uns nicht vorstellen, daß für uns die Naturgesetze nicht gelten und wir außerhalb der Kausalität stehen, wie ein gottgleicher „Erster Beweger“ 2; falls wir aber gänzlich determiniert wären, ist rätselhaft, wieso wir dem Spiel der Kräfte in uns zuschauen können, was unser Bewußtsein da noch soll.

Wir wissen auch nicht, ob unser Bewußtsein nicht bloß eine hirnerzeugte Illusion ist. Und dieses Nicht-Wissen könnte einmal fatal werden: Falls es irgendwann eine „künstliche Intelligenz“ gibt, mit der wir uns so unterhalten können, daß wir nicht unterscheiden können, ob wir eine Maschine oder einen Mensch vor uns haben, und die auch technisch vergleichbar komplex ist wie unser Hirn: Müssen wir dieser Maschine dann Menschenrechte zubilligen?

Und wie blöd wäre das, wenn dann nach Tausend Jahren ein Genie erweist: die Maschine hat gar kein Bewußtsein, sie tut bloß so, in Wirklichkeit ist sie ein Zombie: „Von außen können Sie keinen Unterschied feststellen, aber innen wäre niemand zu Hause“ 3. Doch wir haben sie tausend Jahre wie einen Mensch, ja vielleicht sogar – weil sie der Menschenintelligenz überlegen war – wie einen Gott behandelt und ihr Menschenopfer dargebracht?

(1.2) Juristerei

Wie die Philosophie, versagt auch das Recht dabei, Aussagen mit so unzweifelbarer Geltung hervorbringen zu können wie z.B. die Newtonschen Gesetze. Daher scheitert das Recht bei der Erkenntnis der Gerechtigkeit und verfranzt sich stattdessen in mehr oder weniger spitzfindigen winkelzügigen Rechtfertigungen bestehender Ansprüche.

Mephisto wird den winkelzügigen Charakter des Rechts später so ironisieren: „Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort. Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage, weh dem, daß du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit dir geboren ist, von dem ist leider nie die Frage!“

Ein Beispiel: Statt die Rundfunkfinanzierung dem grundlegenden Umbruch der Medien anzupassen, wurde lieber alles beim alten gelassen („alte Steuer ist gute Steuer“5). Die Gebühr wurde in einen „Beitrag“ umdefiniert. Dafür mußte dem Rundfunk abgesprochen werden, eine „Gemeinlast“ zu sein, für die gilt: starke Schultern tragen mehr als schwache. Stattdessen wurde seine Leistung umgebogen zu einem „Angebot“, durch das alle gleich begünstigt sind und deshalb gleich belastet werden. Der Kalkulation, daß die meisten Bürger schon nicht meckern werden, weil für sie alles gleich bleibt, wurde mehr Gewicht beigemessen als der Ungerechtigkeit gegen Geringverdienende sowie dem Schildbürgerstreich, in einer Zeit, in der Öffentlich-Rechtliche Medien vor der größten Herausforderung aller Zeiten stehen, ihre Finanzierung vom schwächsten Glied der Einkommenskette abhängig zu machen. (Link zu meiner Kritik am Rundfunkbeitrag auf dieser Web-Site)

(1.3) Medizin

Immerhin ist die Lage in der Medizin heute besser, als Goethe es sich je träumen ließ. Aber auch hier werden wir nach wie vor frustriert: Krebs, Multible Sklerose, Schizophrenie, Querschnittslähmung, Rheuma, Depression, virale Infekte, Migräne: bei vielen schweren Krankheiten sind wir nach wie vor weitgehend hilflos, für sie gilt immer noch Fausts Stoßseufzer und Mephistos Spott: „Was man nicht weiß, das eben bräuchte man und was man weiß, kann man nicht brauchen“ – „Ihr durchstudiert die groß und kleine Welt ums am Ende gehen zu lassen, wie´s Gott gefällt“.

(1.4) Naturwissenschaft

(1.4.1) Enttäuschende Objektivität

Die Fortschritte der modernen Naturwissenschaft müßten Faust zwar märchenhaft erscheinen, doch auch sie könnten ihn nicht zufriedenstellen. Denn dieses Wissen ist immer bloß vorläufig, wir wissen nie, ob es nicht morgen schon widerlegt ist. Und mit seiner Objektivität ist es auch nicht gut bestellt: Wir wissen bloß, wie etwas wirkt, aber nie, was es ist.

Die moderne Naturwissenschaft kann zwar Kräfte berechnen und märchenhafte Maschinen bauen, aber die Modelle, die das ermöglichen, sind nur Modelle die wir uns von der Wirklichkeit machen, wie z.B. die Vorstellung von Licht als Teilchen oder Welle. Wie das Sein an sich ist, d.h. über das hinaus, was wir als „Wirkung“ von ihm mitkriegen, wissen wir nichts, wir gelangen nie hinter den Schleier.

Jeder Versuch,  über das Berechenbare hinaus etwas über die Natur auszusagen, bleibt Spekulation, z.B. wenn manche Astrophysiker behaupten, wegen des Gesetzes der Entropie (dem Zerfall von Ordnung, dem Ausgleich von Energieunterschieden) werde das Universum einmal ein dunkler leerer Raum sein, ein einziges großes Nichts. – Wer weiß denn, was wir alles noch nicht wissen! Vorstellbar ist z.B., daß ab einer bestimmten „Verdünnung“ des Universums Naturgesetze ins Spiel kommen, von denen wir jetzt noch gar nichts wissen können, weil die Suppe eben noch so dick ist.

Ja, es ist nicht einmal sicher, ob Naturgesetze unveränderlich sind! Auch hier ist der Aufklärer Hume wieder der Bösewicht: Er erkannte, daß wir von Regelmäßigkeiten nicht auf Ewigkeiten schließen können (das Induktionsproblem). Der Mathematiker Russel brachte es auf die Formel: daß die Henne auf der Hühnerfarm, die aus Erfahrung damit rechnet, täglich Futter zu kriegen, sich auch nicht vorstellen kann, irgendwann im Kochtopf zu landen.

Die Physikerin Sabine Hossenfelder erlebte damit einen faustischen Schock: „als ich im Grundstudium erstmals von Humes Problem der Induktion erfuhr, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich hatte das Gefühl jemand hätte mir den Teppich der Realität unter den Füßen weggezogen und darunter habe sich eine große klaffende Leere aufgetan. Warum hatte mich niemand davor gewarnt?“ 6

Alles was wir sagen können ist: Die Gesetze der Thermodynamik legen nahe, daß das Universum im Nichts endet, falls keine anderen Faktoren im Spiel sind, die wir noch nicht kennen. Da wir aber auch nicht wissen, was vor dem Urknall war und wieso das, was es da gab, begann, sich zu einem Knall zusammenzubrauen, müssen wir damit rechnen, daß auch alle unsere Vorstellungen vom Ende der Zeiten irren:

„Unsere Möglichkeiten, aus den Naturgesetzen die Vergangenheit des Kosmos zu rekonstruieren, gelangen im „Urknall“ an ihre Grenzen – so daß wir zugeben müssen, daß da noch eine große Unbekannte im Spiel ist: Wenn wir uns ausschließlich an die Mathematik halten, dann muß die Materie zum Zeitpunkt des Urknalls unendlich dicht gewesen sein. Da eine unendlich hohe Dichte physikalisch jedoch keinen Sinn ergibt, signalisiert sie wahrscheinlich nur, daß Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie bei sehr hohen Dichten nicht mehr funktioniert“ 7.

Viele Physiker beginnen an diesem Punkt „mit Hingabe“ zu spekulieren8 – Faust ist da redlicher: „Ein Schauspiel, ach, ein Schauspiel nur!“

(1.4.2) Enttäuschender wissenschaftlicher Alltag

Grundsätzlich ist die moderne Wissenschaft nicht offenbarend sondern mühselig: Sie liefert zunächst nur Vermutungen, für die Belege gefunden werden müssen. Thomas Kuhn, der Wissenschaftstheoretiker, der den Begriff „Paradigma“ prägte, stellt das so dar: „Der Erfolg eines Paradigmas [z.B. des kopernikanischen Weltbilds] … ist am Anfang weitgehend eine Verheißung von Erfolg, die in ausgesuchten und noch unvollkommenen Beispielen liegt. Die normale Wissenschaft besteht in der Verwirklichung jener Verheißung, einer Verwirklichung, die durch Erweiterung der Kenntnis der … Fakten herbeigeführt wird sowie durch Verbesserung des Zusammenspiels dieser Fakten mit den Voraussagen des Paradigmas und durch weitere Präzisierungen des Paradigmas selbst“.

Kuhn nennt diese Tätigkeiten „Aufräumtätigkeiten“, sie seien das, „was die meisten Wissenschaftler während ihrer gesamten Laufbahn beschäftigt. …. Bei näherer Untersuchung … erscheint dieses Unternehmen als Versuch, die Natur in die vorgeformte und relativ starre Schublade, welche das Paradigma darstellt, hineinzuzwängen“ 9.

Doch Kleinarbeit und langer Atem ist nicht Fausts Sache. Irgendwann hätte auch der geduldigste Faust die Nase von der „normalen Wissenschaft“ voll und würde lieber mondsüchtig mit Geistern herumschweben statt die tausendste Variante eines Experimentes mit Routine-Rechenoperationen auszuwerten. Die Geduld, das ist Sache der Wagners.

Experimentieren und Operieren („Hebel und Schrauben“) reichen Faust nicht. Er will sich verbinden mit der Natur, er will einen „direkten Draht“ zu ihr haben, er will unmittelbar ihr Wirken schauen, mitvollziehen und mitbestimmen, er will nicht bloß technisch verwertbare Wirkungen entdecken.

„Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!“, mit diesem „Donnerwort“ wird Faust vom Erdgeist desillusioniert. – Wenn der, der Offenbarung verhieß, zum Aufräumen verdonnert, liegt es nahe, sich etwas anderes zu suchen: „Da herrschet Well auf Welle kraftbegeistet, zieht sich zurück und es ist nichts geleistet! Was zur Verzweiflung mich beängsten könnte: nutzlose Kraft unbändiger Elemente. … Da wagt mein Geist, sich selbst zu überfliegen, hier will ich kämpfen, dies will ich besiegen, erlangen mir das köstliche Genießen, das herrische Meer vom Ufer auszuschließen…“

(2) Mangel an Wirkung

So wichtig ist das Erlebnis eigener Wirkung, daß manche jungen Männer, die an ihrem Ort in der Welt keine Chance sehen, so zu wirken, wie es sie drängt, lieber als Amokläufer ein einziges Mal Tot und Schrecken bewirken und dann sterben, statt ein langes, scheinbar wirkungsloses Leben zu führen. Durch Taten zu beweisen, daß Manneswürde nicht der Götterhöhe weicht, dieses Wort Fausts, mit dem er seinen Selbsttötungswillen artikuliert, könnte auch das Stoßgebet der Amokläufer sein. – Und welche Verwandtschaft Amokläufer mit Faust haben, hat schon Goethe gewußt, als er Fausts Sohn beim Aufbruch in einen „heiligen Krieg“ umkommen läßt. Ob man von den gesellschaftlichen Verhältnissen oder von überbehütenden Eltern daran gehindert wird, Eigenwirksamkeit zu entfalten, kommt auf’s gleiche hinaus.

„Ich wäre lieber ein Meteor, von dem jedes einzelne Atom in herrlichem Glanz erstrahlte, als ein schlafender Planet. Die eigentliche Bestimmung des Menschen besteht darin zu leben, nicht zu existieren. Ich werde meine Tage nicht mit dem Versuch vergeuden, mein Leben zu verlängern. Ich will die ganze Zeit über brennen“.

Jack Londons Wort ist verwandt mit dem Nietzsches: „Licht wird alles was ich fasse, Asche alles, was ich lasse, ständig glühe und verzehr ich mich, Flamme bin ich sicherlich…“ – Darauf kann man nur mit Goethes Thales antworten: „Nie war Natur und ihr lebendiges Fließen auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen, sie bildet regelnd jegliche Gestalt und selbst im Großen ist es nicht Gewalt“.

Doch von dieser Reife weiß Faust nichts. Er leidet unter dem Erlebnis von Ohnmacht und Sinnlosigkeit. Er will Wirkkraft statt Wortkram. Er hat tolle Ideen, aber keine Ahnung, wie sie zu verwirklichen sind: „Der Gott, der mir im Busen wohnt, kann tief mein Innerstes erregen, der über allen meinen Kräften thront, nach außen kann er nichts bewegen!“ – Auch deshalb ergibt er sich der Magie.

Aber dabei übersieht er etwas, was er erst am Ende seines Lebens erkennt, nach den mörderischen Folgen eines unbesonnenen Einsatzes von Magie: „Magie ist immer ein Weg zu unverdienter Befriedigung ohne sich den Mühen und Plackereien direkter Arbeit durch unmittelbaren Kontakt mit Natur und Menschen stellen zu müssen“ 10.

Im Wirken vergewissern wir uns uns selbst. Etwas in uns bleibt wie 2-jährige: „Alleine!“ rufen sie empört, wenn man ihnen auf dem Spielplatz helfen will. Magie ist wie: Papa und Mama zu Hilfe zu rufen.

Faust kann sich in seinem magiegestützten Schaffen nicht selbst erkennen. Es ist keine „reine“ Tätigkeit. Es ist zuwenig von ihm selbst drin. So wie jemand, der einen Rennwagen mit elektronischen Assistenzsystemen fährt, die von alleine das Tempo an die Kurven anpassen, das Bremsen dosieren und den Wagen in der Spur halten.

Deshalb schwört Faust schließlich der Magie ab: „Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß!“ Er will erleben, was er als Mensch wirken kann, ohne Magie zur Hilfe zu nehmen.

Faust will etwas leisten, was so großartig ist, daß seine Spuren noch in der denkbar fernsten Zukunft zu besichtigen sind. Diese Vorstellung versöhnt ihn mit dem Leben. Sein Wunsch, „schaffend Götterleben zu genießen“ kann er am Schluß mit der Vorstellung befriedigen: „es kann die Spur von meinen Erdetagen nicht in Äonen untergehen“. In der Vision des freien Volkes, dem er den Boden bereitet, weiß Faust sich eins mit den zukünftigen Generationen, er spürt sich als Teil eines Größeren. Das zeigt seine Unreife:

Wer seinen Kindern ein guter Vater ist, dessen Spur geht möglicherweise auch in Äonen nicht unter, selbst wenn sein Geschlecht ausstirbt: Wenn seine Kinder sich zu charaktervollen Menschen entwickeln, können sie durch eine reife Lebensleistung daran mitwirken, daß Verhältnisse entstehen oder erhalten werden, die auch bei anderen Geschlechtern für gute Elternschaften förderlich sind. Auch so läßt sich nachhaltig an der Weiterentwicklung der Zivilisation mitwirken.

Das klingt bieder. Doch es gibt kaum etwas Abenteuerlicheres als die Aufgabe, Kindern gerecht zu werden: Die Geduld mit ihnen nicht zu verlieren; nachzuvollziehen, wieso sie von etwas so stark fasziniert sind, daß sie nicht damit aufhören wollen; die Grenzen, die wir für gut halten, von ihnen in Frage stellen zu lassen, aber wo es notwendig ist, das Begrenzen möglichst tränenarm hinzukriegen. – Nicht ohne Grund wurde Faust zur Behebung seiner Unreife schließlich dazu verdonnert, Lehrer der seligen Knaben zu werden…

(3) Mangel an Verbundenheit

Faust sehnt sich nach Entgrenzung, nach Einssein mit etwas, das größer und mächtiger ist als er selbst. Er vergleicht seinen Zustand mit dem eines Säuglings, der nach der Mutterbrust schreit. Er hat ein Gefühl des „Schmachtens“: „wo faß ich dich, lebendige Natur, euch Brüste, wo, ihr Quellen alles Lebens“.

Wie haben wir das wohl erlebt: Als Säugling von Mama liebevoll gehalten zu werden? Wir waren hilflos den Schrecken des Daseins ausgeliefert. Aber da kommt Mama, die ist unermesslich stark und ganz schnell da, wenn es uns nicht gut geht, und sie ist ganz zärtlich und verbindet sich körperlich mit uns, um unsere regelmäßig auftretende Hungersnot zu stillen.

In ähnlicher Weise will auch Faust, daß die Natur keine Wesenheit mit eigenem Willen sei, der Fausts Willen Widerstand entgegensetzt. – Je zuverlässiger Säuglinge gestillt und getröstet werden, desto schneller „lernen“ sie, daß Hunger zwar unangenehm ist aber nicht bedrohlich, und daß ein gutes Leben möglich ist, obwohl Mama nicht alles kann und nicht alles gewährt. – Faust hat das bezüglich seines Hungers nach Entgrenzung noch nicht gelernt.

So wie wir unser Gehirn mittlerweile kennen, können wir davon ausgehen, daß wir die erlösenden und beglückenden Erlebnisse mit Mama nie mehr vergessen, obwohl wir sie nicht erinnern können. Etwas in uns weiß, daß Erlösung möglich ist und strebt danach, sie wieder zu erleben – in der Religion, in der Liebe, in der Ekstase oder durch Suchtmittel.

Für Menschen, die hinreichend gute Entwicklungsbedingungen hatten, um seelisch ausreifen zu können, reicht bereits das, was an Erlösung und Beglückung durch eine ausgewogene Lebensführung erzeugt wird: durch den Wechsel von Verausgabung und Erholung in einem als sinnvoll erlebten Leben, eingebunden in eine Gemeinschaft, auf deren Solidarität Verlaß ist.

Wagner ist in diesem Sinne „reifer“ als Faust. Wagner braucht es nicht, ganz tolle Erlebnisse zu haben und das ultimative Heilmittel zu erfinden, um zufrieden zu sein. Ihm reicht es, die Wissenschaft weiter zu entwickeln und angemessene Anerkennung für seine Bemühung zu bekommen. Daß er keine ganz tollen Wirkungen schaffen kann, ist für ihn kein Grund zur Verzweiflung.

(Weshalb wirkt Wagner dann neben Faust als Witzfigur? Weil Wagner seine Unzufriedenheit nicht wahrhaben will und sich belügt: Er wagt es nicht, das gefährliche Schöne anzuschauen, und hält sich stattdessen an das unproblematisch Erreichbare: Der ganze Himmel steigt zu ihm nieder, wenn er in alten Büchern schmökert, nicht wenn er einem Mädchen nachsteigt. – Deshalb ist Wagner für Gott langweiliger als Faust. Das Navi, daß Gott uns Menschen eingebaut hat, bewährt sich erst, wenn nicht alle Abzweigungen gesperrt sind.)

(4) Die Makrokosmos-Szene: Das Erlebnis der Einheit von Wissen, Wirken und Verbundenheit

Erkenntnis als Schau, als Erlebnis: Das Zeichen des Makrokosmos öffnet den Sinn und belebt das Herz, weil es ein Erlebnis von Ordnung vermittelt, das mit dem Gefühl einhergeht, daß Gott nicht würfelt, daß das Dasein sinnvoll, überschaubar und verläßlich geordnet und der Umkreis des Erwartbaren ausgeleuchet ist, daß der Zusammenhang der Dinge erkennbar ist und wir eine sichere Grundlage haben für Schlußfolgerungen, Herleitungen und Erklärungen. – Faust erlebt im Blick auf das Zeichen des Makrokosmos die Wohltat, die für uns Menschen mit einer Befriedigung unseres Grundbedürfnisses nach Kontrolle und Wirksamkeit verbunden ist: Das Universum wird ausgeleuchtet und überschaubar.

Himmelskräfte die auf- und nieder steigen und sich die goldenen Eimer reichen: Damit beschreibt Faust die Schlußszene der Bergschluchten! Ein Bild dafür, daß wir zusammen etwas qualitativ anderes schaffen können, als alleine: der Unterschied zwischen Hütte und Kathedrale: ein Bild für Zusammenwirken und Kooperation. – Allerdings ist dieser Synergie-Sinn bei Faust noch unreif und reift auch – trotz einer Therapie bei dem weisen Arzt Chiron – bis zum Schluß nicht aus.

Weiterlesen: Der nächste Abschnitt auf dem Faust-Pfad: Der Konflikt zwischen Würde und Wirklichkeit

Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel)

Nachweise
(1) Hampe, S. 87
(2) Rot S. 267, Hossenfelder S.167ff
(3) Blackmoor S. 67
(5) Kirchhoff S. 49
(6) Hossenfelder S. 67
(7) Hossenfelder S. 55ff
(8) Hossenfelder S. 56f
(9) Kuhn, S. 45
(10) Eissler 42

Literatur

Blackburn, Simon, Wahrheit, ein Wegweiser für Skeptiker, Darmstadt 2005 (Primus Verlag)
Blackmore, Susan, Gespräche über Bewußtsein, (2005) Frankfurt a.M. 2007 (Suhrkamp)
Eissler (wird vervollständigt)
Hampe, Michael, die Lehren der Philosophie, Berlin, 2014 (Suhrkamp),
Hossenfelder, Sabine, Mehr als nur Atome, Was die Physik über die Welt und das Leben verrät. München 2023. (Siedler)
Kirchhof, Paul, Gutachten über die Finanzierung des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks Heidelberg 2010
Th. Kuhn, Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen, Frankfurt 1967,
Rot, Gerhard, Über den Menschen. Berlin 2021 (Suhrkamp)

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