Deutende Inhaltsangabe [Wege und Irrwege der Interpretation]
In seinem „Faust“ bringt Goethe das Tragische und das unfreiwillig Komische des Menschen gleichermaßen “auf den Punkt”:
- Der Teufel wirft Gott vor, uns Menschen mit Vernunft begabt zu haben: Wir würden damit bloß Unsinn machen. Gott widerspricht: Mit der Vernunft könnten wir den rechten Weg sogar ohne Gottes Hilfe finden, und das selbst dann, wenn der Teufel versuchen würde, uns in die Irre zu führen. Sie wetten. Als Versuchskaninchen wird ein gewisser Dr. Faust ausgewählt… – [Prolog im Himmel].
- Faust ist sein ganzes Leben lang kompromißlos seiner Sehnsucht nach dem Erlebnis höchster Daseinserkenntnis gefolgt, sogar vor dem Einsatz geächteter Magie schreckte er dabei nicht zurück. Doch alles ohne Erfolg. Das Beste, was er erreichen konnte, war die Beschwörung eines Geistes, der ihn verhöhnte. Desillusioniert glaubt Faust, daß der Mensch seine Würde nur im Freitod wahren kann, doch als er das Gift an seine Lippen setzt, wird er überwältigt von Erinnerungen, die die Frühlingsgefühle seiner Jugend wiederbeleben.
- Der Teufel erscheint, doch Faust verachtet ihn. Aus dem Pakt wird nichts. Aber Faust sieht plötzlich eine Chance, mit Hilfe des Teufels zu beweisen, daß das menschliche Leben nur scheitern kann – allerdings anders, als der Teufel glaubt: nicht wegen zu wenig Lust und zu viel Leid, sondern aufgrund des Widerspruchs zwischen unserem hohen Streben und unserer natürlichen Begrenztheit. – [Fausts Problem].
- Dank der Anti-Aging-Therapie in der Hexenküche wird Faust wieder 20. Doch bereits sein erster Schritt geht anders schief als geplant: Statt eines erotischen Abenteuers mit einer Minderjährigen, verliebt Faust sich in sie. Er gerät in Konflikt: seine Liebe fordert Verbindlichkeit, sein Daseinsgroll Unabhängigkeit. – [Faust und Margarete]
- Faust ist dem Konflikt nicht gewachsen, er haut einfach ab und läßt Margarete sitzen – obwohl er weiß, daß sie öffentliche Häme über sich ergehen lassen muß, falls sie schwanger wird.
- Aus panischer Angst vor einem Shitstorm („Häckerling streuen wir ihr vor die Tür!“) bringt Margarete nach der Geburt ihr Kind um. Dafür wird sie hingerichtet. – [Urlaubsparadies und Todeszelle]
- Margarete ist tot, Faust macht Karriere: Er begründet eine New-Economy, deren Fadenscheinigkeit zwar geahnt, aber wegen des großen Geldsegens von allen ignoriert wird. – [Inhaltsangabe 1. Akt] – [Geld, Geist, Geiz und Gewalt – die Plutus-Episode]
- Dann versteigt Faust sich so hoffnungslos in eine virtuelle Realität von dem Top-Model Helena, dass Mephisto Rat suchen muß bei einer vom Fachidioten Wagner geschaffenen künstlichen Intelligenz: Homunkulus. Homunkulus ist ein lebendes Wikipedia, lebensfähig aber nur im Reagenzglas. Das nervt ihn total: er will da unbedingt raus. – [Inhaltsangabe 2. Akt]
- Doch zunächst schleppt er den komatösen Faust auf eine mega Party mit, wo Faust eine Chance hat, sein virtuelles Top-Model in echt zu treffen: in der griechischen Walpurgisnacht. Mephisto, der ausländerfeindlich ist, sträubt sich, bis Homunkulus ihm Sextourismus in Aussicht stellt.
- Auf der Party zerschlägt Homunkulus auf Rat eines Meergeists sein Reagenzglas und löst sich ins Meer auf, um noch mal ganz von vorne mit dem Entstehen anzufangen.
- Faust kriegt seine Chance, Helena anzumachen, und hat – dank Mephistos Inszenierungskünsten – damit auch Erfolg. – [Inhaltsangabe 3. Akt] [Helena]
- Den hochbegabten Sohn, der dieser Verbindung entspringt (Euphorion), benutzen die Eltern um ihr persönliches „Arkadien“ zu inszenieren: ihren Traum von der heilen Familie.
- Euphorion versucht, sich durch Delinquenz aus diesem Klammergriff zu befreien: Weil es ihn nervt, daß alle ihn so toll finden, will er ein Mädchen vergewaltigen, schafft es aber nicht. Dann will er in einen Heiligen Krieg ziehen, verunglückt aber aus Leichtsinn schon beim Aufbruch tödlich. – Nach seinem Tod zeigt sich, dass die Ehe ohne den Sohn keinen Bestand hat. – [Euphorion]
- Die Welt stürzt wegen des Zusammenbruchs von Fausts New-Economy zunehmend ins Chaos. Faust mischt bei dem daraus entstehenden Krieg eifrig mit, um als Kriegsgewinnler seine nächste Vision realisieren zu können: er will die Menschheit mit einem Landgewinnungsprojekt beglücken. – [Der Wille zur Wirkung] – [Inhaltsangabe 4. Akt]
- Finanziert durch Piraterie, schreitet die Landgewinnung mit unheimlicher Geschwindigkeit voran. Doch Faust denkt nur an seinen Ärger über Einheimische, die sich seinen Umsiedlungsplänen widersetzen. Er beauftragt Mephisto. Der erledigt das mit seinen Schergen auf eine Weise, die die Einheimischen nicht überleben. – [Inhaltsangabe 5. Akt] – [Faust und #MeToo]
- Als Faust der Brandgeruch in die Nase steigt, kriegt er Schuldgefühle. Es gelingt ihm, eine Depression abzuwehren, indem er sich erneut in eine Fantasiewelt versteigt: in die Vision von seinem neuen Land. Das macht ihn blind für das, was wirklich vor sich geht: während er von freiem Volk auf freiem Grunde träumt, haben Kirche und Kaiser das neue Land längst für ihre Zwecke verplant. – [Faustische Verblendung – Goethes Formel für grandioses Scheitern]
- Berauscht von der Großartigkeit seiner Vision kann Faust sich dann vorstellen, was er gewettet hat, sich nie vorstellen zu können: den Augenblick zum Verweilen aufzufordern. Damit fällt seine Seele Mephisto anheim.
- Doch die Muttergottes macht den Zockern einen Strich durch die Rechnung: Sie schickt Jünglingsengel los, die mit einer Kombination aus Messdiener-Ernst und Stricherbuben-Verruchtheit den Teufel so aufgeilen, daß er die Seele kurz aus den Augen läßt.
Nachdem Goethe auf diese Weise Testosteron gesteuerte Lebensformen als Verlierer auf der ganzen Linie entlarvt hat, schließt er mit den Worten: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“. – [Epilog: So modern wie verkannt? ]
Die Gesamtaufführungsdauer des Stückes beträgt bis zu 20 Stunden. Erst durch das Fernsehen wissen wir, was Goethes Faust wirklich ist: Eine Serie! Viele Folgen in zwei Staffeln…
Link zu Quellenangaben und Literaturnachweisen
Empfehlungen:
(1) „Der kleine Gott der Welt bleibt stets vom gleichen Schlag und ist so wunderlich als wie am ersten Tag“ , das behauptet Mephisto. – „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“, spottet er später, und man könnte meinen, er habe dabei ARD und ZDF im Sinn gehabt. – Also habe ich an ARD und ZDF beispielhaft untersucht, was an Mephistos abschätziger Behauptung über uns Menschen dran ist: Gedanken zum Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunk
(2) Zu verschiedenen Aspekten des Dramas gibt es „Parallelgeschichten“ im Sinne Goethes: Geschichten, in denen ein Gleiches in verschiedenen Erscheinungsweisen zum Vorschein kommt und dadurch erkennbarer wird. – Zu den „Parallelgeschichten“ unserer NetzSchriftenInitiative geht es hier. – Zu einem Überblick über alle Geschichten unserer Autoren geht es hier.
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