Insomnia, „schlaflos“, von Steven King

Der Roman ist weit besser als sein Ruf, entschieden besser als z.B. Duddits.

Das Gute am Roman sind die Themen, die er beleuchtet: Alter und Abtreibung.

„Thema Alter interessiert mich nicht“ werden jetzt viele denken, aber schmunzelnd macht der Roman klar, warum alle, die nicht selber alt sind, so denken müssen und nicht kapieren, wie sinnvoll und interessant die Auseinandersetzung mit dem Altwerden ist, dieser Urtatsache des Lebens. Es gelingen King hier Aphorismen, die nicht mehr aus dem Kopf gehen: Alter ist ein schlechtes Dessert nach einem guten Essen. – Und das ist nicht der einzige ins Mark treffende Vergleich. – Es sind immer wieder solche Worte und Bilder, die zeigen, daß King ein Künstler unter den Kunsthandwerkern der Genreliteratur-Gilde ist.

Am Stärksten ist der Roman in seiner Schilderung unschuldigen psychopathischen Männlichkeitswahns, „unschuldig“ ist der, weil diesen Männern was fehlt: die schaffen es nicht, ein Unrechtsbewußtsein zu entwickeln, sie sind – typisch für Wahn – schuldunfähig. Gehaltvoll sind auch Kings Schilderungen und Hinweise, wie die patriarchalische Ideologie Amerikas solche ans Wahnhafte grenzenden Einstellungen begünstigt und schützt. Ich mußte mehrmals nachschauen, wann der Roman geschrieben wurde, weil ich kaum glauben konnte, daß sich seit 30 Jahren diesbezüglich in vielen Männerköpfen in Amerika noch nicht viel getan zu haben scheint. (Und hier bei uns auch zuwenig.)

Das Gleiche gilt für das Thema Abtreibung und fanatische, gewaltbereite Abtreibungsgegner. Die Dokumentation dieser Leute und ihrer Ideologie ist das Gehaltvollste des Buches.

Am Rande macht King dabei auf ein sozialpsychologisches Problem aufmerksam, von dem Optimisten wie ich immer denken, das könne es nicht geben, so blind könnten Menschen nicht sein: King schildert, wie der Überfall auf ein Frauenhaus gelingt, weil eine militante Abtreibungsgegnerin am Steuer des ankommenden Autos sitzt, und weil sie eine Frau ist, schöpfen die Wächterinnen des Frauenhauses keinen Argwohn, obwohl die Polizei vor militanten Aktionen von Abtreibungsgegnern gewarnt hatte.

Wir können weiterphantasieren: Wäre der männliche Held früher aufgetaucht, um die Frauen zu schützen, wäre er von den Wächterinnen wahrscheinlich rausgeschmissen worden, weil er ein Mann ist… – Ähnlich lassen sich auch viele Leute durch Gendern gewogen machen, als ob Arschlöcher nicht gendern würden. Das Gendern liefert Schafspelze für Wölfe – vor allem für solche Wölfe, die sich selbst nicht dafür halten sondern fest davon überzeugt sind, sie seien die Guten, und weil sie nur das Gute wollten, sei ihnen alles erlaubt… (Gut, mir könnte erwidert werden: Hätte die Polizei statt vor Abtreibungsgegnern vor militanten Abtreibungsgegner*Innen gewarnt, wären die Wächterinnen gewarnter gewesen.) – Mehr dazu in unserem Beitrag über Gendern (auf dieser Website).

Nun zu den Schwächen des Buches.

Das Buch wäre mühelos um 100 Seiten kürzbar. Und mit etwas Mühe könnten nochmal hundert Seiten in den Papierkorb wandern, und mit ein wenig Kunstfertigkeit weitere Hundert bis Zweihundert. Aber ich schätze, King schreibt so, wie er schreibt, weil er es mag, so zu schreiben und weil viele ihn genau deshalb gerne lesen. Doch das muß man mögen: bloß um des Lesevergnügens willen zu lesen, ohne sonst etwas vom Lesen zu haben. Ich mag das nicht. Ich finde es lästig, wenn z.B. die Handlung verkompliziert wird, mit einem Oberdämon, der die Gestalt der verstorbenen Mutter des Helden annimmt. Sowas sind Handlungsschnörkel, Füllstoff, der weder dem Plot noch dem Gehalt irgendwas hinzufügen. – Gut, Märchen machen das auch: da zaubert der böse Zauberer dem Helden ein Meer vor die Füße, dann ein Gebirge, dann eine Wüste. Aber das Märchen braucht dafür drei Sätze, King dreihundert Seiten.

Ich finde auch Sätze wie diese lästig: „Fünf Minuten später klirrte Lois Schlüssel im Schloß ihrer Eingangstür“. (S.756). Da fühle ich mich ein wenig verarscht: King hat mich scharf darauf gemacht, zu wissen wie es weitergeht, und nun nutzt er das aus, um mich hinzuhalten, er kostet seine Macht aus, die die Neugier, die er in mir entfacht hat, ihm gibt. – Jedoch sind manche Details auch bereichernd und ist es oft nicht unmittelbar entscheidbar, an welchen Stellen sie bereichernd sind und wo Füllstoff.

Die größten Schwächen des Buchs treten geballt erst im zweiten Teil auf, ab Kapitel 14, wenn es zur Sache geht.

Nett und interessant ist zwar, wie King hier den antiken Mythos der Parzen aufgreift und sich damit seinen eigenen Mythos vom Kampf im Götterhimmel strickt. Allerdings finde ich es dann ermüdend, die Regeln dieser Parallelwelt begreifen zu müssen: Wie das mit dem Aufstieg in die Paralleldimensionen geht und wie es nicht geht, und welche Effekte damit möglich sind und welche nicht. Hier ist immer das Problem, daß nicht einsehbar ist, wieso etwas in der einen Situation möglich ist, in einer anderen aber nicht. Um zu erkennen, ob da Willkür oder Logik vorliegt, müßte man mit mühsamer und zeitaufwändiger philologischer Kleinarbeit die Regeln von Kings Mythos rekonstruieren. – King selbst spielt mit diesem Problem der Willkür, wenn er den Helden darüber nachdenken läßt, wieso er in der Paralleldimension durch Decken und Wände schweben aber dennoch fest auf dem Dach stehen kann.

Lästig finde ich auch, wenn nicht nachvollziehbar ist, warum etwas geschrieben wird, warum sich z.B. plötzlich ein Ring vervielfältigt. Ich dachte, das klärt sich vielleich später, das tut es aber nicht, es scheint ein Rätsel um des Rätsels willen, eine Komplikation um der Komplikation willen. Aber selbst wenn es sich klären würde, bliebe es lästig: Die Vervielfältigung gehorcht dann offenbar einer weiteren unmittelbar nicht einsehbaren Regel dieser Parallelwelt, die man im Sinn behalten muß, um irgendwann mal irgendwas zu verstehen.

Eine grundsätzliche kompositorische Schwäche des Buches – die King bei seiner Selbstkritik möglicherweise im Sinn hatte – liegt darin: Beim Kampf von Gut und Böse kommt es auf die 400 vorherigen Seiten eigentlich gar nicht mehr an. Es geht darum, tausend unschuldige Menschen einer Versammlung zu retten. Ob das nun Leute sind, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzen oder ein Weltkongress der Briefmarkensammler ist eigentlich egal. Sicher: durch ein moralisch stark aufgeladenes Thema, das viel Empörung ins Spiel bringt, wird die Geschichte plastischer. Aber dafür würden sich auch die Themen Pazifismus oder Umweltschutz eignen. Es paßt nicht ganz zusammen, das Thema Abtreibung so gekonnt und gehaltvoll auf 400 Seiten zu exponieren und dann auf den zweiten 400 Seiten nichts Spezifisches daraus zu machen. – Es wirkt, als sei King irgendwo falsch abgebogen. Das gibt er auch selber zu: Er habe ein bestimmtes Ende haben wollen und da sei dann das Buchkonzept der Boss seines Schreibens gewesen.

Ein weiterer interessanter Mangel ist untersuchungswürdig: King gelingt es nach meiner Einschätzung nur schwach befriedigend, den Lesenden das Leiden des Helden unter der Schlaflosigkeit nachvollziehbar zu machen. Möglicherweise ist King mit „schwach befriedigend“ schon weit besser, als alle anderen Genreautoren. Aber die Schwäche wird auffällig, wenn plötzlich nicht mehr die Rede ist von den Mißbefindlichkeiten und Beeinträchtigungen durch Schlaflosigkeit. Freilich: Im Eifer des Gefechts fällt so eine hintergründige Mißbefindlichkeit den Betroffenen auch weniger auf und die Lesenden wollen es wahrscheinlich auch gar nicht wissen, weil es zur Sache geht, d.h. viel schwerwiegenderes Geschehen im Vordergrund steht. Aber dann wäre zu erwarten, daß der Held sich selber darüber wundert, warum ihm auf einmal die Folgen seiner Schlaflosigkeit gar nicht mehr auffallen.

Wir stehen hier vor einem grundsätzlichen literarischen Problem: Wie können wir Leuten, die es nicht selbst erlebt haben, Leid nachvollziehbar machen? Der russische Schriftsteller Solchenizyn drückt es in einem Bericht aus einem sibirischen Gulak so aus: „Die im Warmen sitzen werden die Frierenden nie verstehen.“ – Ich denke, Kafka hat für dieses Problem die genialsten Lösungen gefunden: manches Leid ist nur annähernd verstehbar, wenn wir uns vorstellen, als Riesenungeziefer aufzuwachen.

Weiterlesen: Die Kunst von Stephen King (auf dieser Website)

Weiterlesen: Stephen King, Schlaflos (Rezension auf phantastik couch)