Zusammenfassung der Interpretation in einer Kurzgeschichte

Schief gewickelt

Faust erzählt straffälligen Jugendlichen von seinen Untaten und Irrtümern

(Lesezeit: 15 Minuten)

„Ihr mußtet bangen und kämpfen von früh an. Da kann ich über meine Kindheit nicht meckern, bei weitem nicht! Meine Eltern waren bloß ziemlich mit sich selbst beschäftigt.

Mein Frust begann, als ich in eurer Alter kam. – Manches von dem, was ich jetzt erzähle, werdet ihr wahrscheinlich nicht nachvollziehen können. Aber ich sag einfach mal, wie es war.

Es fing an mit den körperlichen Veränderungen. Ich mochte das nicht, daß da auf einmal überall Haare wuchsen, wo vorher keine waren. Ich fand das häßlich und lächerlich.

Ihr grinst. Naja, kling ja auch komisch. Aber jeder erlebt das auf seine Weise, und ich habe es eben so erlebt. – Ich hatte für diese Veränderungen keine Zeit, ich hatte mehr als genug zu tun: Ich war wißbegierig, ich wollte wissen, wie alles funktioniert. Und ich konnte super rechnen. Für mich war das wie ein faszinierendes Computerspiel.

Nee, ich hatte keine Zeit für Pubertät. Mädchen mochten mich zwar, aber dieses belanglose Gelaber langweilte mich, und nachdem ich mich mal mit einer geküßt hatte, wurde es furchtbar kompliziert. Mit sowas wollte ich mich nicht abgeben. – Das Rudelgebahren und Imponiergehabe der Jungs fand ich lächerlich. Die fanden sich alle ganz toll selbstbestimmt, taten aber bloß, was die Natur pubertierenden Jungs vorschreibt, völlig vorhersagbar, kein eigener Kopf, kein eigener Wille!

Naja, um ganz ehrlich zu sein: Für einige Mädchen, die Aufregensten, für die interessierte ich mich schon. Aber bei denen hatte ich keine Chance. – Ich hatte es aber nicht nötig, mich deshalb zu grämen, durch die Wälder meiner Heimat zu streifen, fand ich faszinierender als Mädchen. Die Stimmung der wilden Hügel, der Zauber der nebelverhangenen Felsen: ich war so empfänglich dafür, daß ich oft hingerissen taumelte.

Naja, wenn ich ganz ehrlich bin: Das Erleben der Natur wurde von meiner Hoffnung verstärkt, ich würde bald meine Prinzessin finden. Und weil die Prinzessin fehlte, blieben Stimmung und Zauber immer schmerzlich vorläufig und unvollkommen. – Hätte ich damals gewußt: nein, deine Prinzessin findest du nicht – da wären mir Hügel und Felsen weit nichtssagender erschienen.

Damals hatte ich zum ersten Mal das Gefühl der Entwürdigung: Entweder, meine Sehnsucht blieb ungestillt, oder ich hätte ein Mädchen, das mich nicht wirklich überzeugte, oder ich müßte diesen abgeschmackten Affentanz mitmachen für ein Weibchen, das mich ebenso aufregte wie langweilte.

Es gab nur unwürdige Möglichkeiten. Zumal ich eigentlich lieber alleine geblieben wäre, ich sah gar nicht ein, irgendwas mit Mädchen anfangen zu sollen, wie gesagt: dafür hatte ich gar keine Zeit. – Aber dennoch so eine Sehnsucht! Ich litt darunter, ohne Prinzessin zu sein! – Doch wenn es nach mir gegangen wäre: Ich hätte mir das alles nicht ausgesucht, ich wollte die Sehnsucht nicht, ich wollte die Liebe nicht, auch nicht den Körper dafür, weder die männliche noch die weibliche Variante. Wäre es nach mir gegangen, wäre ich einfach Kind geblieben. Doch ich mußte hinnehmen, was die Natur mir auferlegte. – Ich fand das schmachvoll.

Ich wollte kein Opfer sein, sondern Täter. Opfer können nichts ändern und durchschauen das Geschehen nicht. Deshalb war klar, daß mir nur Forschung und Wissenschaft Genugtuung im Leben verschaffen würden. Ich ging schon mit 16 zur Uni und ließ diesen pubertären Pavianhügel weit hinter mir.

Für euch werden das Luxusprobleme sein, was ich hier erzähle. Aber das macht die Sache nur schlimmer, es zeigt, welches Unheil aus Luxusproblemen entstehen kann.

Fast 25 Jahre wurde ich von der Hoffnung getragen, in der Forschung die Erfüllung zu finden: in der Physik der Sterne und der Chemie des Lebens. Ich stellte die raffiniertesten Fragen, die Natur beantwortete vieles, aber ihre Geheimnisse gab sie nicht preis: Was vor dem Anfang war und wie es enden wird, wieso es überhaupt die Möglichkeit gibt, daß Leben und Bewußtsein entsteht, über all das erfuhr ich nichts, gar nichts. – Ich erkannte, daß wir nichts erkennen können über Sinn und Wert unseres Daseins. – Planeten in warmen, nicht zu heißen Umlaufbahnen schimmeln. Sobald ihre Sonne ausgebrannt ist, ist Schicht im Schacht. Das ist alles, was wir wissen können.

Die Mühen und Entbehrungen, die ich für die Wissenschaft auf mich genommen hatte: alle vergeblich! Ich konnte die aberwitzigsten Zusammenhänge und Wahrscheinlichkeiten berechnen, aber meine Sehnsucht blieb ungestillt. Der ganze scheiß Rechenkram hatte zu nichts geführt. Ich fühlte mich betrogen: Nicht mit erleuchtenden Erlebnissen sondern mit Kopfzerbrechen und Zahlenspielen hatte ich mein Leben hingebracht, und dafür auf alles verzichtet: Gelebt wir ein Mönch aber nie von Gott erhört.

Zwar gesellte sich mehrmals eine Frau zu mir, aber, weil ich selber unsportlich war, waren es nur schmächtige Intellektuelle. Und alle verließen mich schnell wieder, weil ich zu zerstreut war für eine laue Liebe. – Aufregender Sex? 25 Jahre Fehlanzeige, die schönste Zeit meines Lebens vertan! Denn zu Nutten gehen mochte ich nicht. Ich finde es lächerlich und unerotisch, eine Frau mit Geld dafür zu entschädigen, daß ich überall ran darf. Das bringt mir gar nichts. Ich will erleben, daß eine Frau von meiner Begeisterung genauso begeistert wird, wie ich von ihrer. Drunter mach ich es nicht. Wenn schon, denn schon.

Und nicht nur war mir die Liebe entgangen. Auch an der Welt hatte ich nichts verbessern können: Die Einwände und Vorschläge, die ich als namhafter Wissenschaftler gemacht hatte, die zahlreichen Petitionen und Offenen Briefe, die ich mit unterschrieben hatte: Alles war wirkungslos geblieben. – Als Mann war ich einsam, als Forscher betrogen, als Weltbürger hilflos.

Ich wollte mich umzubringen – weniger aus Verzweiflung, als aus Neugier: Ich wollte endlich hinter den Schleier! – Ich kletterte auf einen Felsen. Doch als ich heruntersah, erblickte ich die Buchenhänge und Felsenklüfte, die mich einmal mit Stille, Staunen und Jubel erfüllt hatten. Es fühlte sich falsch an, ein Dasein wegzuwerfen, das sich einmal so wahr angefühlt hatte! – Erstmal war das Umbringen vertagt.

Natürlich war die Verzweiflung bald wieder da. Aber ich dachte: Erst mal weiterleben und schauen, was sich noch machen läßt! Umbringen kannste dich immer noch, das läuft dir nicht weg. Wenn Du wirklich glaubst, nichts mehr zu verlieren zu haben, dann kannst du auch was völlig anderes machen als je. Und wenn das Leben dich derart betrogen hat, dann brauchste dich jetzt auch an nichts mehr gebunden zu fühlen.

Ich war so sauer auf das Dasein! Warum gibt es uns ein solches Würdegefühl, aber nicht die Fähigkeiten, dieser Würde gemäß zu leben? Ich haderte mit einem Leben, in dem man soviel unabänderlich hinnehmen muß, ohne zu wissen, ob es einen Sinn hat.

Mein Unmut wurde stärker in dem Maße wie meine Natur mir immer unabweisbarer vorgaukelte, ich hätte meine Jugend verpaßt, ich könne jetzt nur noch glücklich werden, wenn ich alles an Genüssen noch mitnähme, was geht. Das machte mich so wütend! „Das wollen wir doch mal sehn!“ sagte ich mir. „Ich laß mir von der Natur nicht vorschreiben, was ich zu tun habe!“ – Aber was blieb mir noch? Forschen nicht, Genießen nicht – was dann?“

„Schon mal an bewußtseinserweiternde Drogen gedacht?“

„Nein, daran habe ich keinen Gedanken verschwendet. Ich schließe nicht aus, daß es irgendwann mal möglich sein wird, mit Substanzen genau die Gefühle im Gehirn zu erzeugen, die meine Sehnsucht stillen würden. Aber wie unbeholfen wäre das: Sehnsucht mit Substanzen zu stillen? Lieber autark, als gestillt! Lieber am Berg herumkraxeln und es nie bis zum Gipfel schaffen, als die Aussicht vom Gipfel in einem Hologramm genießen.

Was mir blieb, war meine Genugtuung: Mir selbst zu beweisen, daß ich mich durch keinen Genuß und keinen Erfolg dazu bestechen lassen würde, die Suche nach einer Antwort auf meine Frage aufzugeben: ob und wie ein würdevolles Leben für uns möglich sei, für Wesen, die mit unserem Bewußtsein begabt sind, aber eine tierhafte Ausstattung mit Trieben und Bedürfnissen hinnehmen müssen. – Also beschloß ich: Ich werde alles ausprobieren und soviel Menschenmögliches wie möglich erleben! – Naja, vielleicht wollte ich auch möglichst viel von dem Verpaßten nachholen. Aber ich hätte mir das nie erlaubt ohne meinen Willen, mir was zu beweisen. 

Ich bin Physiker, ich kann gut rechnen. Also ging ich in die Finanzwirtschaft, um richtig doll Reibach zu machen. – Naja, unsere Rechnungen gingen nicht auf wie geplant, 2008 gab es einen Finanzkräsch. Der gehörte zu den ersten Sachen, die ich verbockt habe – gut, nicht ich alleine, aber ich habe daran mitgewirkt. – Doch hinterher hatte ich mehr Kohle als die meisten andern Menschen.

Von meiner Wißbegierde nicht mehr abgelenkt, und reich genug um die besten Trainer zu engagieren, machte ich mich körperlich richtig fit: muskulös wie ein Gorilla und geschmeidig wie ein Panther. Als ich nach drei Jahren, mit 44, in den Spiegel sah, mußte ich lachen: „Man fühlt die Absicht und man ist verstimmt“ dachte ich. Ich fand diesen auf Maskulinität getrimmten Mann einfach bloß abgeschmackt. – Aber ich muß gestehen, klammheimlich war ich auch ein wenig stolz und selbstzufrieden.

Als erstes wollte ich meine Prinzessin finden. Meine Prinzessin! Keine Frau, die zu dem Mann, der ich war, gepaßt hätte. Nein, ich wollte bestechenderen Zauber! Ich wollte die Sehnsucht meiner Jugend stillen – um ihr den Stinkefinger zu zeigen! – Ich wollte eine ganz junge Frau, und zwar eine, die nicht leicht zu haben war, eine, die möglichst große Widerstände überwinden mußte, um sich einem Mann hinzugeben.

Ich zog in ein Land, in dem streng traditionell gelebt wurde. Da ich jung aussah und da ich reich war, hatte ich Chancen: Djadewa, sie war 16, verliebte sich in mich – und ich mich in sie! – Trotzdem wollte ich auf weitere Tests meiner Emanzipiertheit von der Lust nicht verzichten: Immer wieder jettete ich in die Metropolen der Welt, um Kokainpartys zu feiern. – Allerdings trieb ich dort auch finanzwirtschaftliche Projekte voran: Ich wollte Macht gewinnen, ich war fasziniert von der Möglichkeit, die Weltgeschichte mit zu gestalten.

Ich hätte es wissen müssen! Djadewa wurde schwanger, ich war nicht da, viel zu lange nicht! Da trieb sie das Kind ab. – Das wurde entdeckt. In ihrer Tradition stand darauf die Todesstrafe. Sie wurde hingerichtet.

Ich war schockiert. – Aber das Leben ging weiter.

Ich diente mich einem fragwürdig regierten Land als Finanzexperte an. So wurde ich zu einem bedeutenden Mann, einer, der zugleich sportlich, intelligent und reich war. Die richtige Kombination, um der schönsten Frau der Welt den Hof zu machen, Elena, einem Supermoddel. Ich hatte bei ihr Erfolg und wir wurden ein Paar.

Wir kauften eine kleine Südseeinsel, lebten dort  in einer Villa am Meer und ließen uns von jungen Frauen bedienen, eine schöner als die andere. Mit jeder von ihnen hatte ich was. Das war okay, weil Elena regelmäßig die maskulinsten Hollywoodstars traf. Sie war Pilotin, besaß ihr eigenes kleines Flugzeug und flog damit nach Lust und Laune weg.

Dennoch erlebten wir uns als zusammengehörig und wollten ein Kind miteinander. Wir ließen es von einer Leihmutter austragen. – Wir liebten Jeremy über alles. Er war sehr begabt und dank der besten Förderung hätte er die besten Chancen gehabt. Doch irgendwas müssen wir falsch gemacht haben. Ich glaube: Wir haben nicht ihn geliebt, sondern unsere Liebe zu ihm, wir ließen ihm zu wenig eigenes Leben. Jedenfalls: Mit 16 riß er mit Mamas Flugzeug aus, schloß sich den Hitzköpfen des selbsternannten Islamischen Staates an und war nach drei Tagen tot. – Elena und ich versuchten alles, um uns nicht gegenseitig verantwortlich zu machen. Doch es gelang uns nicht, unsere gegenseitigen Vorwürfe zu zerstreuen. Wir trennten uns.

Die Zeit mit Elena und Jeremy war wunderbar. Aber das hatte mir nie gereicht. Ich hatte stetig daran gearbeitet, mehr Macht zu bekommen. Für die Trauer – wie schon bei Djadewa – für die Trauer hatte ich keine Zeit.

Die Folgen meiner Finanzmanipulationen stürzten das Land in einen Bürgerkrieg. Für mich bot das eine ganz große Chance: Ich stellte eine Privatarmee auf, mit der ich der aussichtsreichsten Partei beisprang, in der Berechnung, die Insel, die zu dem Land gehörte, übereignet zu bekommen, eine Insel so groß wie Rügen. Ich wollte dort eine Utopie verwirklichen: ein freies Volk auf freiem Grund. – Klar war mein Handeln schäbig. Aber ich dachte: der zivilisatorische Fortschritt, der durch meine verwirklichte Utopie eintreten würde, rechtfertige mein Vorgehen.

Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, daß die Leute auf der Insel keine Utopie wollten. Sie wollten ihr angestammtes traditionelles Leben. Ich einigte mich mit der neuen Regierung, die Leute auf das Festland umzusiedeln, wo viele Landstriche wegen des Bürgerkriegs, wegen Mord und Flucht, nur noch dünn besiedelt waren. Natürlich verlief die Umsiedlung nicht ohne Gewalt. Wieviele Menschen ihr Leben dabei verloren weiß ich nicht und wollte es auch nicht wissen.

Ich warb in den westlichen Zivilisationen tausende Menschen an, alle begierig, ihrem Groll auf Politik und Wirtschaft zu entfliehen und ein freies Volk auf freiem Grund zu gründen.

Doch der Diktator, dem ich auf seinen Thron geholfen hatte, dachte gar nicht daran, sich an die Abmachung zu halten. Nachdem ich mit meiner Privatarmee die Insel von ihrer angestammten Bevölkerung geleert hatte, bestach er meine Soldaten, holte sich die Insel zurück und verwandelte sie in ein riesiges Endlager für Gift- und Atommüll aus aller Welt, mit dem er sich nun eine goldene Nase verdient. – Die Deportation der Bevölkerung stellte er als mein Werk da, das ich ohne seine Erlaubnis begangen hätte. Und damit ich es nicht anders darstellen konnte, ließ er einen Anschlag auf mich planen. Ich konnte zwar fliehen, stehe nun aber auf seiner Todesliste.

Geholfen bei meiner Flucht und bei meinem Untertauchen hat mir Maria. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, sie war sehr verliebt in mich, aber sie war zu pummelig, da wär nie was gelaufen. – Sie gehört jetzt zu den „freien Leuten“, ein lockerer Zusammenschluß von Leuten überall auf der Welt, die ein unscheinbares Leben führen, aber sich  engagieren für Soziale Intelligenz, Konfliktlösungen, Demokratie und Menschenrechte. Sie leben es vor im Alltag, ohne es an die große Glocke zu hängen.

Als ich Einwohner für mein Utopia suchte, hatte ich als erstes an diese Leute gedacht. Aber sie wären nur bereit gewesen, sich beratend zu engagieren. Mein Utopia erwuchs auf den Toten von Bürgerkrieg und Deportation, die freien Leute lehnten es ab, davon nutzzunießen. Außerdem waren sie nicht so blind wie ich, sie vermuteten gleich, daß der Diktator mich ausbooten würde.

Maria setzte sich bei ihnen persönlich dafür ein, daß ich gerettet wurde. – Maria gehört zu den  charakterstärksten Menschen, die ich kenne. – Allerdings: als ich ihr die Sache mit Djadewa erzählte, ist sie ausgerastet und hat mich verprügelt – sie ist sowas von ausgerastet: ich mußte hinterher ins Krankenhaus, ich hatte keine Chance mich zu wehren, obwohl ich stärker bin als sie! Den abgebrochenen Schneidezahn, den ihr hier seht, das ist von ihr. Doch unserer Zusammenarbeit hat das nicht geschadet.

Ohne Maria und ihre Leute wäre ich jetzt tot. – Nun mache ich bei ihnen mit und reise so oft es geht in Strafanstalten um mit jungen Leuten zu reden.“

„Im Gegensatz zu uns, hast du doch krass schlimme Sachen gemacht, du hast viele Menschen umgebracht – aber wir sind im Knast und du nicht!“

„Im Knast würde ich keine 5 Tage überleben, der Diktator hat seine Leute überall. – Ich führe ein bescheidenes arbeitsames Leben im Dienste meiner Schuld: um noch möglichst viel Gutes zu tun. – Ginge es nach den freien Leuten, wären auch die meisten von Euch nicht im Knast. Wer irgendeine Scheiße gebaut hätte, müßte möglichst viel davon wiedergutmachen, statt eingesperrt zu werden. Es gäbe keine Knäste, außer Sicherheitsverwahrung für gefährliche Menschen.“

„Aber so jemand wie du ist doch gefährlich!“

„Ja, ich war gefährlich – weil ich mich verstiegen hatte. Aber glücklicherweise bin ich kein Psychopath, keiner, der ohne Skrupel Leid zufügen kann und bei dem das immer so bleibt. Allerdings können Psychopathen nichts dazu, gefährlich zu sein. Es sucht sich niemand aus, Psychopath zu werden. Wer keiner ist, hat einfach bloß Glück gehabt. Deshalb haben auch Psychopathen Solidarität verdient. Klingt vielleicht komisch, ist aber so.

Glücklicherweise sind Psychopathen weit seltener, als Menschen wie ich. Für die Menschheit sind deshalb Verstiegene gefährlicher als Gefährliche. Deshalb ist es wichtig, mich der Aufgabe zu widmen, daß Verstiegenheit seltener wird, eher auffällt und schneller entschärft wird.

Die freien Leute schützen mich vor Knast und Killern, damit ich möglichst viel von meiner Schuld abarbeite; sie würden mich sofort dem internationalen Gerichtshof für Menschenrechte überstellen, wenn ich mich auf die faule Haut legen würde. – Doch ich bin selbst am allermeisten dafür engagiert, wieder was gutzumachen.“

„Diese Gemeinschaft freier Menschen – das klingt nach Sekte!“

„Nein, es ist keine Sekte. Es geht nicht darum, das Leben auf irgendeine Erlösung auszurichten, nicht mal auf Selbstvervollkommnung oder Selbstlosigkeit. Und sie sind auch keine Gemeinschaft, sie arbeiten bloß zusammen bei verschiedenen politischen und sozialen Projekten.

Sie haben keine gemeinsamen Überzeugungen, sie haben nur gemeinsame Verfahren: Sie stellen alles in Frage, zuallererst ihre eigenen Überzeugungen. Dennoch versuchen sie, allem wertschätzend zu begegnen oder zumindest mit Respekt, egal wie komisch ihnen etwas vorkommt. Es sagt keiner „Ihh“, wenn jemand sein Butterbrot auspackt, und da ist was drauf, was den andern nicht schmeckt.

Moralische Urteile halten sie für Unsinn, weil wir nie wissen können, wie frei eine Handlung erfolgt. Daher halten sie auch moralische Empörung für unreif.

Unreif finden sie es auch, Ziele auf Kosten anderer zu verfolgen. – Reif dagegen finden sie, solidarisch zu sein, d.h. Not, Leid und Armut so gut wie möglich zu verringern und auszugleichen. Außerdem wollen sie nicht Opfer von Politik sein, sondern ihre Möglichkeiten politischer Wirksamkeit nutzen, und seien sie noch so gering. Das ist es, was sie unter Selbstbestimmung verstehen. Deshalb gehört ein Minimum an sozialem und politischem Engagement zu ihrem Leben dazu wie Zähneputzen. – Zur Reife gehört für sie auch, über möglichst viel miteinander zu reden, statt einsam Entscheidungen zu treffen und über möglichst vieles alleine zu bestimmen.

„Das klingt aber nicht nach Selbstbestimmung, wenn man möglichst wenig alleine bestimmt!“

„Wenn wir alleine sind, wissen wir nicht, wie fremdbestimmt wir sind. Hast du z.B. als Kind zuwenig Anerkennung bekommen, läufst du dein ganzes Leben der Anerkennung hinterher, das wirst du nie völlig unterdrücken können. Nur an genervten Kommentaren kannst du erkennen, daß die andern dein Verhalten oft völlig unnötig finden; du selbst erlebst dein Verhalten als völlig stimmig, als fraglos richtig, als frei entschieden, jedes andere Verhalten würdest du als falsch erleben, als unstimmig, ja, als Verrat an dir selbst.

Und das wird sich nicht ändern, wenn du nicht oft darüber redest. – Viel ändern können wir an uns zwar nicht, aber gewisse Freiheiten können wir auf Dauer gegen unsere Neigungen erringen. – Wenn wir uns zuwenig mit andern auseinandersetzen, arbeiten wir dagegen bloß sklavisch das Programm ab, das unsere Kindheit geschrieben hat. Und wie ihr an mir seht: Manche dieser Programme können richtig übel sein. – Selbst Starke sind am unfreisten allein.“

„Haben Sie kein schlechtes Gewissen?“

„Gute Frage. – Wenn ich mir vor Augen führe, was ich alles angerichtet habe, müßte ich eigentlich starke Schuldgefühle haben, so stark, ich müßte gelähmt sein vor Schuld! Aber das ist nicht der Fall. Vielleicht fehlt mir was, vielleicht ist das aber auch normal.

Ich fürchte, es ist normal. Ich fürchte, unser Gehirn ist für unsere Untaten nicht gemacht. Als wir in der Evolution entstanden sind, konnten wir so schlimme Sachen noch gar nicht anrichten. Nur Menschen gegenüber, denen wir in die Augen schauen können, können wir ein schlechtes Gewissen haben. – Wirklich schlimme Schuldgefühle habe ich nur, wenn ich an Djadewa denke.

Wir können nicht damit rechnen, daß das menschliche Gewissen dafür sorgt, daß kein Unheil in großem Maße angerichtet wird. Wir müssen anders dafür Sorge tragen: indem wir unsere politische Kultur immer weiter entwickeln – global. Dafür engagiere ich mich.“

„Das ist trotzdem nicht in Ordnung! Egal, wie Sie sich engagieren, Sie selber können noch so viel vom Leben genießen! Die Leute, die wegen Ihnen umgekommen sind, nicht. – Die arme Djadewa! Das war so fies von Ihnen!“

(Ein anderer:) „Genau! Du bist so ein Arsch! Wenn du hier drin wärst, du würdest mehr als einen Zahn verlieren!“

(Ein dritter:) „Wieso, die war doch selber schuld, ist doch klar, was passiert, wenn man sich auf die Reichen und Schönen einläßt!“

(Faust:) „Eine gewisse Mitverantwortung hatte sie, sicher. Aber es gibt nichts zu beschönigen: Ich habe sie benutzt, betrogen und im Stich gelassen. Ihr habt völlig Recht: Ich war ein Riesenarschloch.

Doch was ist die Konsequenz? – Was würde es Djadewa, was würde es irgendjemandem von denen, die wegen mir umkamen, nützen, wäre ich von Schuldgefühlen gelähmt, wäre ich so schockiert, daß ich nichts mehr leisten könnte? Oder was würde es nützen, wenn ich umgebracht würde? Oder so bestraft, daß ich nichts Gutes mehr tun könnte?

Ich bin den Toten verpflichtet, ich denke, es ist im Sinne der Toten, wenn ich arbeitsfähig bleibe, wenn ich mich von meiner Pflicht ihnen gegenüber anstacheln lasse, mich für eine bessere Welt zu engagieren. – Oder?“

(Geschrieben und Veröffentlicht Herbst 2023)

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Weiterführend:  Wikipedia-Artikel zu dissozialer Persönlichkeitsstörung und Psychopathie

Link zu einem Modellprojekt für jugendliche Straftäter: Jedem seine Chance! › Projekt Chance e. V. (projekt-chance.de)