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(1) Die Anmache (Erste Straßenszene)
Faust hat die Entscheidung getroffen, skrupellos Frauen zu verführen, so skrupellos, daß er selbst bei einer Minderjährigen keine moralische Hemmung spürt und damit sogar den Teufel verblüfft: „Du sprichst ja wie Hans Liederlich!“ (Vers 2628ff).
Wie kann ein Mann, der die Menschen bessern und bekehren wollte, der als Arzt unerschrocken Pestkranke behandelte, der den Teufel wegen dessen Niedrigkeit verachtet, wie kann so ein Mann in seinem „hohen Streben“ so tief sinken?
Klar, Faust hat Hexentrank getrunken. Das erklärt alles. Aber welchen Sinn können wir diesem Bild abgewinnen?
(1.1) Faust hat eine außergewöhnliche Autonomie: Er läßt sich nicht von Tradition und Gesellschaft vorschreiben, was gut und was böse ist, sondern bedient sich dazu seines eigenen Verstandes. – Die Gefahr dabei: daß er sich von niemandem was sagen läßt und sich versteigt.
(1.2) Faust fühlt sich von der Natur nicht würdevoll behandelt sondern erlebt das Leben als unerträgliche Zumutung. Das könnte ihn bereiter machen zur Rücksichtslosigkeit gegen andere Menschen, nach dem Motto: „Wenn mir das Leben so blöd kommt, seh ich gar nicht ein, warum ich mich noch an irgendeinen Wert gebunden fühlen sollte! – Außerdem: Warum soll es anderen besser gehen als mir?“ – Sicher, es ist fraglich, ob eine so rücksichtslose Einstellung vor Fausts Bewußtsein und Selbstbild Bestand hätte. Doch die Einstellungen, die das Leben in uns ausprägt, werden uns nicht immer ganz bewußt, und können auch ohne uns bewußt zu sein unsere Entscheidungen beeinflussen. (Eine der Aufgaben von Psychotherapie ist es, soetwas bewußt zu machen.)
(1.3) Faust glaubt, daß die Wette mit dem Teufel etwas Gutes ist, zumindest etwas Richtiges, zumindest richtiger, als sich umzubringen. Und wenn er stellvertretend für alle Menschen beweist, wie toll der Mensch ist, ist das nicht auch gut für die Menschheit? (Er könnte später einen lehrreichen Bestseller schreiben: „Wie ich meine Wette gegen den Teufel gewann“.) Faust hält es daher für in Ordnung, daß für diese Zwecke ein gewisses Maß an Opfern in Kauf genommen werden darf.
Die Kombination dieser Faktoren ermöglichen Faust, die Entscheidung zu treffen, sich ohne Skrupel der Triebhaftigkeit zu überlassen, so wie es für sein Experiment erforderlich ist.
(2) Die Eintrittskarte in Marthens Garten (Zweite Straßenszene)
Stellen wir uns in dieser Szene Mephisto als die Personifikation einer Instanz in Faust selbst vor, dann geschieht hier Folgendes: Die bequemste Strategie, Margarete zu verführen, ist mit einem Meineid verbunden. Jede andere Strategie würde erst später zum Ziel führen. – Es paßt nicht in Fausts Selbstbild, ein Lügner und Betrüger zu sein. Er möchte aber auch nicht länger auf das Liebeserlebnis mit Margarete warten.
Es ist dieser Konflikt, der ihm schlagartig bewußt macht: Er plant einen weit größeren Betrug: Er will Margarete ewige Liebe schwören, damit sie sich ihm hingibt. – Faust versucht zunächst, sich vor sich selbst herauszureden: Seine Empfindung für Margarete ist so überwältigend, es gibt nur ein Wort, das diese Überwältigung treffend zum Ausdruck bringen kann: das Wort „ewig“. – In diesem Sinne ist es hier doch ehrlich von „ewig“ zu reden, und kein Betrug! – Doch schließlich muß Faust sich zugeben: Damit belügt er sich selbst.
Zwei Seelen sind in seiner Brust: Die eine liebt Margarete und würde ihr gerne gerecht werden, die andere weiß, daß er keine Kompromisse machen will. Faust hat das Gefühl: Auf das Erlebnis mit Margarete verzichten geht nicht, aber zu verzichten auf sein Weitertaumeln im Rauschen der Zeit geht auch nicht. Er muß beides haben, unbedingt.
Wenn Faust ausruft: „Ich muß“: hat er hier keine Freiheit?
Doch. Wenn er genau wüßte, daß der Tod von Margarete und ihrer Familie mit naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit eintreten wird, würde er nicht denken: „Egal, ich mach es trotzdem, weil: ich muß einfach!“ Denn Margarete ist ihm nicht skrupellos egal. Das zeigt sich später, als er sie retten will. Faust will nicht über Leichen gehen.
Er muß daher soetwas denken wie: „Ja, eigentlich bin ich ein Dreckskerl, wenn ich sowas mache; aber sowas passiert doch immer wieder, und für sie ist es doch auch ein tolles Erlebnis! – Klar, es wäre ganz schön Scheiße für sie, wenn sie schwanger würde. Aber da wär sie doch nicht die einzige, damit kann man doch klar kommen! Das Leben geht doch auch damit weiter! – Und außerdem: Vielleicht wird sie ja gar nicht schwanger!“
Jedes Verlangen will sein Ziel erreichen und verdreht uns den Kopf: Es biegt unsere Gedanken so zurecht, daß wir ihm „grünes Licht“ geben, über alle Einwände, Skrupel und Zweifel hinweg.
Aber macht Faust sich hier überhaupt Gedanken? Er scheint ja gerade durch das „ich muß“ das Nachdenken abzubrechen! – Wir haben hier eine Situation, die Menschen, die von Alkohol oder Drogen abhängig geworden sind, gut kennen: „Ich hab nicht groß nachgedacht, als ich rückfällig wurde, ich hab es einfach gemacht!“
Katastrophen sind selten. Deshalb haben wir eine verfängliche Intuition, in der unsere Lebenserfahrung soetwas behauptet wie: „Ach, es wird schon nichts Schlimmes passieren, mir ist doch noch nie was wirklich Schlimmes passiert!“ Dieses Sicherheitsgefühl läßt uns glauben, wir bräuchten den Sachverhalt nicht mehr dem Bewußtsein zur Überprüfung vorzulegen. Deshalb kann das Gefühl aus dem Vorbewußten heraus wirken, ohne daß uns das ganz klar wird.
Ein solches Blockieren des Nachdenkens wird um so wahrscheinlicher, je stärker ein Verlangen ist, weil wir unter starkem Verlangen jene neuronalen Netzwerke in unserem Hirn nicht richtig hochgefahren kriegen, in denen die lebendigen Erinnerungen an die Einwände gespeichert sind1.
„Lebendig“ sind Erinnerungen, wenn nicht nur das Wissen erinnert wird, sondern wenn auch die Gefühle wiedererlebt werden, wenn wir also nicht bloß erinnern, daß wir traurig waren, als Oma starb, sondern etwas von dieser Trauer wieder auflebt, wenn wir an Oma denken. – In Fausts Fall geht es um die Erinnerung an die Anflüge von Skrupel, die er überwinden mußte, um sich die Erlaubnis erteilen zu können, skrupellos Frauen zu verführen. (Goethe verrät nichts von Fausts Skrupeln, aber wir können davon ausgehen, daß es sie – zumindest anflugweise – gegeben hat.)
Ohne diese Anflüge von Skrupel wieder zu erleben, weiß Faust bestenfalls noch, daß es sie gab. Falls er mit ihnen gerungen hat, wird er noch wissen, daß er mit ihnen gerungen hat, vielleicht auch, daß er stark mit ihnen gerungen hat, aber er wird die Stärke dieses Ringens nicht fühlen. Falls er nicht mit den Skrupeln gerungen, sondern sie gleich in den Wind geschlagen hat, wird er vielleicht noch erinnern: „Na, so ganz wohl fühlte ich mich damit nicht.“ Aber allein diese Erinnerung wird ihn das Unwohlseinnicht spüren lassen.
Solange er das Ringen oder das Unbehagen nicht wieder erlebt, bleibt das Wissen um die überwundenen Skrupel trügerisch, so daß er sie verkennt. Deshalb glaubt er, den Vorentscheidungsprozeß nicht nochmal aufrollen zu müssen und gibt sich die Erlaubnis, seine selbsterteilte Erlaubnis zur Verführung Margaretes nicht zu hinterfragen. (Er schlägt den Gedanken in den Wind, daß er eigentlich nochmal darüber nachzudenken müßte, ob es in Ordnung war, die Skrupel in den Wind zu schlagen.)
Doch vielleicht bemerkt Faust morgens beim Erwachen eine Beklommenheit, eine kurze Phase, in der er die Einwände gegen die Verführung Margaretes nochmal in ihrer ganzen Bedeutsamkeit erlebt; und vielleicht ist er öfter kurz davor, alles abzublasen. Aber mit zunehmender Wachheit verblaßt das alles, denn ähnlich wie beim Verlangen wird auch im Tagesgeschäft die Erinnerung an die Einwände nicht lebendig genug.
Doch je häufiger, je verläßlicher so eine morgendliche Beklommenheit auftritt, desto weniger kann sie weggeredet werden.
Und tatsächlich entscheidet sich Faust ja schließlich, den Prozeß zu unterbrechen und ins Gebirge zu fliehen. – Wir sehen nicht wie er mit dem Konflikt ringt, wir sehen nur seine Entscheidung. Wir können davon ausgehen: Das Gefühl, was es heißt, Margarete so schändlich zu betrügen, mußte Faust öfter erleben, damit eine Entscheidung entstehen konnte, gegen die das Verlangen mit seinen Umwertungen, optimistischen Intuitionen und bagatellisierenden Gedanken keine Chance mehr hatte. – Wenigstens eine Zeit lang nicht. Später, im Gebirge, schafft es der Teufel dann doch wieder, Faust den Kopf zu verdrehen.
Wie auch immer: Erklärungsbedürftig ist, wieso Faust glaubt, ein Mensch hohen Strebens zu sein, und dennoch entschieden skrupellos eine Minderjährige verführt. Erklärungsbedürftig ist, wieso Faust trotz dieser Skrupellosigkeit die Verführung abbrechen will und ins Gebirge flieht. Erklärungbedürftig bleibt schließlich, wieso er Margarete trotz seiner Skrupellosigkeit retten will. – Meine Erklärung: So skrupellos, wie er glaubt (und wie viele Philologen glauben), ist Faust gar nicht. Seine Skrupel kommen ihm immer wieder in die Quere.
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Anmerkungen
(1)
Neuronale Netzwerke: Mein Gebrauch dieses Begriffs gibt wieder, was ich von den Neurowissenschaften verstanden habe. Inwieweit die Neurowissenschaften diesen Gebrauch „korrekt“ finden und inwieweit er differenziert werden müßte, weiß ich nicht.
In der Suchttherapie ist das hier zugrundegelegte „Modell“ von neuronalen Netzwerken sehr hilfreich, weil es gut erklärt, was bei Rückfällen passiert, wenn Menschen gegen ihre Erfahrung, ihre Einsicht und ihren Vorsatz handeln und hinterher über sich selbst den Kopf schütteln. Aus dieser Erklärung können hilfreiche Interventionen für die therapeutische Praxis abgeleitet werden, so daß hier Denken und Handeln füreinander ein Korrektiv sind.
Weiterführende Informationen hier: Die Tücken der Sucht (Link auf meine Web-Site pro-psychotherapie).