Fortschritt als Gestolper: Goethes Kritik am Willen zur Wirkung

(Lesezeit: 4 Minuten)

Unsere Zivilisation ist nahezu zwanghaft im Verwirklichen von Ideen und Ausbeuten von Ressourcen. Mal was sein lassen, mal was liegen lassen, das geht gar nicht. Buchstäblich auf „Teufel komm raus“ wird alles gemacht, was machbar ist. (Mephisto grinst: „Die Elemente sind mit uns verschworen und auf Vernichtung läufts hinaus!“)

Faust hätte sich beinahe umgebracht, weil sein Wille zur Wirkung so frustiert wurde: Er hätte so gerne schaffend Götterleben genossen und mit dem Erdgeist zusammen am sausenden Webstuhl der Zeit der Gottheit lebendiges Kleid gewirkt! Aber der Erdgeist hat ihn ausgelacht.

Nachdem die Aufklärung die Menschen aus den Fesseln der Religion befreit hatte und die beginnende Industrialisierung märchenhafte Produktivkräfte in Aussicht stellte, entstanden Utopien einer völligen Umgestaltung von Natur und Gesellschaft1. – Klar, daß Goethe darin eine Möglichkeit sah, seinem Faust eine Aussicht auf Erfüllung seiner Schaffenssehnsüchte zu geben – und dabei über Leichen zu gehen.

Faust fliegt über die Küste und kann nicht fassen, was er da sieht: die unbändige Kraft des Wassers, die für nichts gut ist! Ihm wird regelrecht schlecht:

Und das verdroß mich. Wie der Übermuth
Den freyen Geist, der alle Rechte schätzt,
Durch leidenschaftlich aufgeregtes Blut,
Ins Mißbehagen des Gefühls versetzt.

Da herrschet Well auf Welle kraftbegeistet,
Zieht sich zurück und es ist nichts geleistet.
Was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte,
Zwecklose Kraft, unbändiger Elemente!
Da wagt mein Geist sich selbst zu überfliegen,
Hier möcht’ ich kämpfen, dieß möcht ich besiegen. Verse 10202ff

Faust erkennt, wie die Schwerkraft ermöglicht, mit Damm und Graben dem Meer Land abzugewinnen. – Die Idee ist gut, die Verwirklichung tückisch. – Ich folgte einem Hinweis des Germanisten Thomas Weitin2 über Goethes Rezeption von Fachliteratur zu den Wasserbau-Projekten seiner Zeit und wurde dank Digitalisierung vom Sofa aus fündig:

Aus: August Gottlieb Meißner, Leben Franz Balthasar Schönberg von Brenkendorf, Leipzig 1792,
(Link zum digitalisierten Buch)

(1) Zur Trockenlegung eines Sumpfes (S.80 ff , im Scan 102ff): „Die Netze und die Warte machen an einigen Orten … sehr große Brüche; und dieser beträchtliche Strich Landes war bisher wenig oder gar nicht genützt worden. Kein Pflug war hier noch iemals gegangen, kein menschlicher Fleis hatte hier sein Glück versucht; Abhauung der Gesträuche, wenn heftiger Frost den unwegsamen Boden betretbar machte, war der höchste mögliche Nutzen; und in einem Umfange von etlichen Meilen war nichts als Sumpf und Geröhricht, ein Wohnplatz von Schlangen und Wölfen anzutreffen. Unmöglich konnte Brenkenhof, der selbst nie müßige Mann, einen solchen weiten Raum ganz müßig und ungenützt erblicken. … Aus allem bisher gesagten wird jeder einsehen, daß für Brenkenhofs Auge kein unangenehmerer traurigerer Anblick sich denken ließ, als eine öde ungenutzte Gegend“ (99ff bzw120f.) – [Für uns heute hätte gerade das: ein naturbelassenes ausgedehntes Sumpfbiotop, einen unersetzlichen Wert!]

(2) Zum Bau eines Kanals (106 bzw 128): Brenkendorf hätte sich gewünscht, „daß überhaupt mit dem ganzen Werke etwas minder gedrängt worden wäre, weil alsdann …. das Leben vieler Menschen zu ersparen möglich gewesen seyn würde. Denn da die Arbeiter sehr oft bis unter die arme in kaltem eisartigen ungesunden Wasser handthieren musten, so musten allerdings bald Krankheiten sich einstellen da hingegen wenn man ein Jahr zuvor Abzüge gefertigt und den Bruch abgelassen hätte, eine Menge dieser ungesunden Wasser-Arbeit weggeblieben wäre. – Zwar waren von dem aufmerksamen Brenkenhof alle nur mögliche Lazareth-Anstalten gemacht worden, und es befanden sich wirklich oft an die vier hundert Menschen in diesen Krankenhäusern; da aber die Menge von Arbeitern aus Mangel der Gebäude in diesen Bruchgegenden, unmöglich alle unter Obdach kommen konnten; da sie des Tags über in Wasser arbeiten, und des Nachts in Strauchhütten auf freiem Felde liegen musten; da überdies, unter andern Krankheiten auch die rothe Ruhr, die natürliche Folge so vieler Verkältungen unter ihnen einriß, so können gar wohl auf die ein tausend, fünf hundert Menschen bei dieser Arbeit ihr Grab gefunden haben“.

Es soll schnell gehen, daher wird nichts unternommen, das Risiko für die Arbeitenden zu minimieren. „Menschenopfer mußten bluten, Nachts erscholl des Jammers Qual, meerab flossen Feuerfluten, morgens war es ein Kanal“ (Vers 10227f).

Die Germanisten Jaeger und Weitin lesen den 5.Akt als ein Lehrstück über die Zweischneidigkeit des Fortschritts: Um einen Fortschritt der Menschheit zu erzielen, wurden immer wieder Menschen zu Zwecken des Fortschritts instrumentalisiert und damit ihrer Würde beraubt3 . Weitin zitiert den Philosophen Blumenberg, der auf Kant zurückgreift, um ein Regulativ zu benennen, „das die Geschichte menschlich erträglich machen kann“: alle Handlungen müssen „so beschaffen sein… , daß durch sie Menschen nicht zu bloßen Mitteln werden“4.

Kennzeichen der instrumentellen Rationalität ist: Es werden Ziele, Mittel und Pläne entworfen aufgrund von Wünschen und Werten, die als so selbstverständlich erlebt werden, daß kaum jemand sich vorstellen kann, wie Menschen anderer Kulturen darüber schmunzelnd oder abfällig den Kopf schütteln. Ohne Einsicht, Umsicht und Weitsicht wurde die Technik von Anbeginn für beschränkte Zwecke eingesetzt.

Im zweiten Akt des zweiten Teils macht sich Goethe darüber lustig: Da will ein Nerd optimierte Gehirne herstellen: „Doch wollen wir des Zufalls künftig lachen, und so ein Hirn, das kräftig denken soll, wird künftig auch ein Denker machen!“ (Vers 6868f). – Klar wär es toll, wenn wir künftig selber bestimmen könnten, wie gut die Gehirne sind und was sie alles können!

Doch das Wesen, das der Nerd erschafft, fühlt sich bloß halbgar und türmt gleich aus dem Labor. Zur Weiterentwicklung setzt es sich lieber dem natürlichen Evolutionsprozeß aus und löst sich ins Meer auf, ermuntert vom Ur-Philosophen Thales: „Da regst du dich nach ewigen Normen durch tausend abertausend Formen!“ (Vers 8324f).

Charakteristisch für instrumentelle Rationalität ist: Der Wunsch, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und des Zufalls künftig zu lachen, überwiegt alle Bedenken, daß dadurch Schicksal entstehen könnte, das wir nicht in der Hand haben. Es entstehen die Dramen der Revolutionen, die keine Evolutionen sind.

Ein evolutionärer Prozeß wäre: Etwas ohne Zeitvorgaben langsam zu entwickeln, um die Chance zu haben, die ursprünglichen Ideen, Pläne und Ziele abzuwandeln und weiterzuentwickeln nach Maßgabe der Grenzen und Chancen, die sich erst beim Verwirklichen zeigen und von denen die ursprüngliche Absicht und der daraus verfertigte Plan noch nichts wissen konnten: „Nie war Natur und ihr lebendiges Fließen auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen. Sie bildet regelnd jegliche Gestalt, und selbst im Großen ist es nicht Gewalt“ (Verse 7861ff).

Ohne Evolution schreitet der Fortschritt nicht sondern stolpert: Er kommt voran ja. Aber wie? Er hat keine Kontrolle über seine Bewegung, er verschüttet was, stößt was um, reißt was auf, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er auf die Fresse fliegt. – Aber was noch schlimmer ist: er weiß gar nicht, wohin er eigentlich will.

Bezüglich Entwicklung und Einsatz von Technik gibt es noch keine wirksame gesellschaftliche Willensbildung. Ohne die haben wir unser Schicksal nicht in der Hand. Und dann ist es der Zufall, der zuletzt lacht. Die zivilisatorische Aufgabe, vor der wir stehen ist: unseren Wirkungstrieb in den Griff zu kriegen.

Das ist offenbar nicht leicht. Selbst die Engel können uns dabei nicht helfen. Denn nachdem sie Faust begutachtet haben, geben sie auf: „Wenn starke Geisteskraft die Elemente an sich herangerafft: kein Engel trennte geeinte Zwienatur der innigen beiden. Die ewige Liebe nur vermags zu scheiden.“ Und damit übergeben sie Faust den Kindern.

Anmerkungen 
Michael Jaeger, Goethes „Faust“, das Drama der Moderne. München 2021 (C.H.Beck), S.108f
2 Thomas Weitin, Freier Grund, Die Würde des Menschen nach Goethes Faust, Konstanz 2013 (Konstanz University Press) S. 51f
3 Weitin 54f
4 Weitin 55 und 127f

Weiterlesen:

Überblick über das Drama, deutende Inhaltsangabe
Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel zur Interpretation)

Zu dieser Thematik auch meine Rezension zu Bruno Latour „Terrestrisches Manifest“ (auf dieser Website)

Der Philosoph Jürgen Habermas prägte für die Einseitigkeit der instrumentellen Rationalität den Begriff des  „selektiven Musters von Rationalisierung“ (Verlinkung mit meiner Website philosophischeberatung.berlin)

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