(Lesezeit: 15 Minuten, Nachsatz 3 Minuten)
Inhalt:
(1) Die Situation
(2) Das Vorzeichen: Lob der Schöpfung
(3) Die einzelnen Textstellen
- „Es irrt der Mensch solang er strebt“
- „Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab“
- „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange“
- „Der Mensch kann allzu leicht erschlaffen“
- „Als Teufel schaffen“
(4) Die Wette zwischen Gott und Teufel
Nachsatz: Diskussion meiner Deutung von „Erschlaffen“ (Lesezeit 3 Minuten)
(1) Die Situation
Der Chef schaut vorbei. Er läßt sich nur selten blicken, es interessiert ihn offenbar wenig, wie es seinen Leuten geht. Seine Topmanager singen dennoch begeistert eine Lobeshymne auf seine Schöpfung. Einer jedoch steht abseits. Er gibt sich souverän, doch seine Gekränktheit bricht sich Bahn in Vorwürfen und Entwertungen. Er zahlt es dem Chef heim, indem er aufzählt, was alles mißlungen ist. Sinngemäß meint er:
- Der Mensch würde nichts aus seinen Irrwegen lernen, es gebe keine Höherentwicklung der der Zivilisation.
- Seine Vernunft nutze er zum Triebmißbrauch, indem er die Grenzen, die dem Tier durch Instinkt gesetzt seien, überwinde: Sucht, Umweltzerstörung, Krieg, Ausbeutung, Folter – das alles gibt es im Tierreich so nicht.
- Der Mensch sei wie eine Heuschrecke: „Ein Wesen, das immer wieder versucht, sich über seine angestammte Lebensphäre zu erheben und dabei immer wieder herunterfällt, ohne je daraus zu lernen“1. – (Mephisto sieht uns offenbar so, daß wir uns Ziele setzen, die wir nicht erreichen aber auch nicht aufgeben können, weil unsere Furcht, etwas zu verpassen und nicht alles versucht zu haben, uns immer wieder an den Erfahrungen des Scheiterns zweifeln läßt und zu erneuten Flugversuchen anstachelt.)
- Und daß der Mensch entbunden sei von dem vorprogrammierten Verhalten der Heuschrecke, die nur reflexhaft auf Reize reagieren könne, diese Freiheit nutze der Mensch bloß dazu, sich von allem möglichen Unsinn verleiten zu lassen, seine Lebenszeit damit zu vergeuden.
Faust wird vom Herrn als Gegenbeispiel zu Mephistos Mäkelei angeführt.
Was findet Gott an Faust anders, weniger „wunderlich“, als an den Menschen, die Mephisto vor Augen hat? – Ist Faust schon reifer als die Menschen der Generationen vor ihm? – Gebraucht er seine Vernunft im Sinne einer Emanzipation von der tierischen Triebausstattung? – Benutzt er seine Instinktentbundenheit anders als für Ablenkungen und Ersatzbefriedigungen, anders als zu belanglosem Vergnügen und billigem Spaß?
In mindestens einem dieser Bereiche muß Faust Stärken haben, die ihn aus der Menge der „üblichen“ Menschen herausheben.
Mephisto ironisiert Gottes Wertschätzung sogleich: Er charakterisiert Faust als jemanden, der sich nicht zufrieden gibt, solange er nicht die höchste geistige und sinnliche Erfüllung erreicht hat, die uns Menschen vorstellbar ist. Dieses Bestreben nennt Mephisto „töricht“.
Gott will dem Teufel zeigen: Die Schöpfung ist nicht schlecht, weil sie leidvoll ist, sondern das Leid stachelt die Menschen zu dem Bestreben an, den richtigen Weg zu finden. Und dieses Bestreben ist selbst dann noch sinnvoll, wenn es sich, wie bei Faust, pubertär übersteigert. – Und selbst wenn noch nicht alle Menschen schon zu einem faustischen Streben fähig sind: ein Mensch wie Faust zeigt, daß die Menschen dazu fähig werden können. – Und die Zivilisationshöhe, die Menschen wie Faust hervorgebracht hat, ist noch lange nicht die Höhe, die die Menschheit erreichen kann. In jedem Fall ist die Menschheit aber mit dem bereits Erreichten schon weiter, als „am ersten Tag“.
Weiterlesen: Wer ist Mephisto?
(2) Das Vorzeichen: Was können wir mit dem Hymnus der Engel anfangen?
„Die große kosmische Naturordnung, modellhaft beschworen in der Vorstellung der Sphärenharmonie, stellt nicht nur das tragische Einzelschicksal … sondern auch die Stürme der Geschichte in einen übergreifenden, letzlich doch harmonischen Zusammenhang“, schreibt der Germanist Jochen Schmidt über den Engelhymnus2. – Kurz: In der Schöpfung hat alles seine Ordnung und seinen Sinn.
Ob Goethe das selber geglaubt hat oder nicht, interessiert hier nicht, und ich denke, Goethe hätte auch gesagt: „Was ich glaube geht euch gar nichts an!“ Hier interessiert nur, was mit seinen Worten alles anzufangen ist.
Und da ist beides erlaubt: Den Hymnus in religiösem Sinn als erbauende Botschaft zu erleben, aber auch als Propaganda, die die willigen Vollstrecker des Herrn verbreiten. – Wir können ihn aber auch als Ausdruck für die Macht des naturgegebenen Optimismus unseres Lebenswillens auffassen: Das wir als Teil der Natur teilhaben an ihrer Kraft, alles zum Guten zu wenden und zum Besseren zu entwickeln, und daß wir als Teil eines uns unendlich übersteigenden Geschehens mit unserem Einzelschicksal, wie tragisch es auch sei, kein Drama verbinden müssen.
Der Teufel findet diese Auffassung jedoch zynisch, um nicht zu sagen menschenverachtend, wie Endorphine für das Menschenvolk, damit es sich williger in seine Schicksale fügt und weniger dagegen aufbegehrt.
Dennoch dürfen wir uns von dieser Macht unsers Lebenswillens, die uns die Hymne vor Augen führt, ermutigen lassen. Solange es keine Ermutigung dazu ist, Leid hinzunehmen statt etwas zu verändern, kann gar nichs passieren. (Die Geschichte „Wozu?“ von Daniel Seefeld (auf diese Website) vertieft dieses Thema.)
(3) Die einzelnen Textstellen:
„Es irrt der Mensch, solang er strebt“: Versuch und Irrtum ist das Prinzip der Evolution: Verhalten, das keinen Erfolg hat, führt zur „Enttäuschung“, zur Wahrheit über die irrige Annahme oder Intuition, die dem Verhalten zu Grunde lag. Fehlschläge können wir zur Orientierung und Kurskorrektur nutzen, solange wir streben, solange unsere Tätigkeit nicht erlahmt, solange wir uns nicht aufs „Faulbett“ legen.
Faust, dessen Verachtung fürs Faulbett Gott vermutlich kennt, ist für Gott deshalb das geeignete Versuchskaninchen.
Fausts Tatendrang wird allenfalls durch „Sorge“, erlahmen, durch Schwermut („Depression“). – Deshalb wird Mephisto nach Margaretes Hinrichtung Faust zu den Elfen schleppen, die ihm die lähmenden Schuldgefühle wegmachen sollen; und deshalb wird Faust als selbstbewußter Tatmensch gegen Ende seines Lebens die Sorge mit Ignoranz abwehren – nicht ahnend, daß jede Ignoranz ihren Preis hat.
„Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab“: Mit „Urquell“ scheint hier etwas gemeint zu sein, das Orientierung und Motivation stiftet, etwas, das uns hilft, Irrtümer und Kursabweichungen zu erkennen und auf dem rechten Weg zu bleiben.
Fausts Gefühl der Verbundenheit mit den andern Menschen soll gekappt werden, ja sogar seine Verbundenheit mit Gott: Kraft, Trost, Anleitung, Antrieb und Inspiration soll er weder aus der Wertschätzung durch Freunde, noch aus dem Glauben an Gott schöpfen können. Und Gott wettet: er hat den Menschen so gut ausgestattet, daß er fähig sei, auch ganz auf sich gestellt nicht aufzugeben und nicht verloren zu gehen.
Einsam und ohne jede Unterstützung ganz auf sich gestellt zu sein: Das ist das Lebensgefühl radikaler Vordenker, wie z.B. Friedrich Nietzsches, die zu denken und zu zweifeln wagen, was zu ihrer Zeit noch kaum jemand zu denken und zu zweifeln vermag: „Philosophie… ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann gethan war. Aus einer langen Erfahrung, welche eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die Ursachen, aus denen bisher moralisiert und idealisiert wurde sehr anders ansehen als es erwünscht sein mag“3.
Faust klagt: „Wer lehret mich? Was soll ich meiden? Soll ich gehorchen jenem Drang?“ Bei Nietzsche finden sich Worte, die frappierend diese Klage zu konkretisieren scheinen:
„Denn nun muß er in die Tiefe seines Daseins hinabtauchen mit einer Reihe von ungewöhnlichen Fragen auf der Lippe: Warum lebe ich? Welche Lektion soll ich vom Leben lernen? Wie bin ich so geworden wie ich bin? Und weshalb leide ich denn an diesem So-Sein? – Er quält sich und sieht, wie sich niemand so quält, wie vielmehr die Hände seiner Mitmenschen nach den phantastischen Vorgängen leidenschaftlich ausgestreckt sind, welche das politische Theater zeigt, oder wie sie selbst in hundert Masken, als Jünglinge, Männer, Greise, Väter, Bürger, Priester, Beamte, Kaufleute einherstolzieren, emsig auf ihre gemeinsame Komödie und gar nicht sich selbst bedacht“4.
In seinem Gedicht „Vereinsamt“ bringt Nietzsche dieses Lebensgefühl auf den Punkt:
Die Krähen schreien
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt
Bald wird es schneien,
Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat.
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts, ach wie lange schon,
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt geflohen?
Die Welt, ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt,
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.
Nun stehst du bleich
Zur Winterwanderschaft verflucht
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kälteren Himmeln sucht.
Flieg Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüstenvogelton
Versteck du Narr
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schreien
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt
Bald wird es schneien,
Weh dem, der keine Heimat hat!
Gott behauptet sowas wie: „Ja, das ist hart, aber ich habe den Menschen dafür gemacht, das ab zu können.“ Und der Teufel hält dagegen: „So alleine im Winter auf Platte? Ne, ohne Alkohol macht der das nicht lange!“ („Auf Platte“ nennen Leute, die Obdachlosigkeit kennen, leben ohne Obdach.)
Unser Gehirn ist ein Säuge- und Rudeltiergehirn. Das ordnungsgemäße Funktionieren seines Stoffwechsels ist abhängig von den „Belohnungen“, die wir in Beziehungen mit andern Menschen erhalten: Erlebnisse von Liebe, Kuscheln, Sinn und Wertschätzung („Likes“). Bei Ablehnungserlebnissen, wie beim Mobbing, sind die gleichen Hirnareale aktiviert wie bei körperlichem Schmerz.
Wird anhaltende Erfolglosigkeit nicht aufgefangen durch gute Beziehungen, wie z.B. Partnerschaft, Freundeskreis, Familie, dann kann sie zu Depression führen oder zu den Folgen der Abwehr von Depression, wie z.B. Fanatismus. – Selbst für die, die es können, ist Alleinleben schwer – und für die, die es nicht können, gefährlich. – (Eine geniale Geschichte darüber, wie fatal es ist, sich von „Likes“ beeinflussen zu lassen hat N. Gogol geschrieben: „Das Portrait„.)
Auf seinem Osterspaziergang hat Faust ein paar Stunden Urlaub von seinem einsamen Heroentum. Er identifiziert sich mit den Menschen, die nicht vom Urquell abgezogen sind, die nicht außerhalb der Gemeinschaft stehen: „Zufrieden jauchzet groß und klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein“. – Doch kurz darauf fühlt er wieder die andere Seele in seiner Brust und beschwört die Geister, ihn zu entführen. Ein Ruf, den Mephisto vernimmt.
Dennoch: Faust erlebt nach dem Osterspaziergang einen Kurzurlaub von seiner Einsamkeit, in Form eines Erlebnisses der Integration in die Gemeinschaft: Nachdem die Leute ihm dankbar Anerkennung ausgesprochen haben für seinen Mut in der Pestzeit, als er unerschrocken Kranke versorgte, ist Faust zu Hause erst einmal sehr friedvoll gestimmt, fühlt die Liebe zu den Menschen und zu Gott und „sehnt sich nach des Lebens Bächen, ach, nach des Lebens Quelle hin“…
Dem „Abziehen vom Urquell“ steht im Epilog das „Aufblicken zum Retterblick“ gegenüber: Ohne Verbindung zum Urquell, zur Gemeinschaft, kommt es früher oder später zur Verstiegenheit, aus der ein Mensch sich nicht allein erlösen kann. – Gott hat sich verschätzt, sein Versuchskaninchen findet den Weg nach Hause alleine nicht. Schließlich muß doch Mama kommen und alles wieder in Ordnung bringen.
Aber auch der Teufel hatte Unrecht: So ganz blöde ist Faust ihm nicht auf den Leim gegangen. Es fängt damit an, daß Faust sich ganz anders in seiner „Winterreise“ einrichtet, als Mephisto hätte voraussagen können: „Du hörest ja, von Freud ist nicht die Rede!“ – Wenn überhaupt, dann braucht Faust den Teufel bloß zu Forschungszwecken.
Auch hat Faust die andern Menschen nie so völlig vergessen, daß ihm „scheißegal“ war, was ihnen durch seine Umtriebigkeit widerfuhr: Faust ignorierte zwar seine menschliche und moralische Verpflichtung gegenüber Margarete, aber als ihm klar wurde, was er damit angerichtet hatte, wollte er sie sofort retten. Und als das wegen dem Schatten seiner bösen Taten mißlingt, kann er nicht mehr einschlafen und muß von Elfen geheilt werden. – Bei der Katastrophe von Philemon und Baucis ist es nicht anders: Faust ist sich seines Anteils Schuld an der Katastrophe bewußt, und er leidet so darunter, daß er sich einen Ruck geben muß, um seine Schuldgefühle zu ignorieren und handlungsfähig zu bleiben („doch deine Macht o Sorge, schleichend groß, ich werde sie nicht anerkennen!“)
Mephistos Verführungsversuche dagegen fand Faust bloß lächerlich: Sich als Autokrat von seinen Untertanen huldigen zu lassen oder sich Luxus- und Haremsfreuden zu ergeben. – Nein, Faust wollte seine teuflisch erweiterten Potentiale nutzen, um etwas zu schaffen, das der ganzen Menschheit zu Gute kommt. – Daß Fausts Gewissen trotz seiner beschränkten Getriebenheit im Grunde so unbestechlich war, konnte der Miesmacher Mephisto nicht glauben. Wie die Pessimisten, die sich für desillusioniert halten, dachte auch er: je schlechter man von den Menschen denkt, desto realistischer schätzt man sie ein.
Dennoch: Wohin er auch kommt, Faust richtet überall Unheil an. Am Ende ist eine vierköpfige Familie tot, ebenso ein altes Ehepaar mit seinem Gast; bei seinem zweiten Sohn versagt Faust als Vater so gründlich, daß der Sohn die Wirren seiner Pubertät nicht überlebt; ein Staat ist bankrott und verheert, und sein Werk für die Menschheit will Faust mit Piraterie und Zwangsarbeit „durchziehen“.
Aus unserer Sicht hätte Gott das Experiment abbrechen müssen. Und die Art und Weise, wie der Teufel um die Seele geprellt wird, läßt vermuten, daß die sachgerechte Auswertung des Experiments von der Muttergottes unterbunden werden mußte. – Vielleicht hat die Muttergottes nach der Rettungsaktion gedacht: „Na, Gott kann was erleben, wenn ich nach Hause komme! Mit dem Teufel um das Wohl und Wehe wehrloser Geschöpfe zocken, geht’s noch!“ – Da hätte ich dann nicht in Gottes Haut stecken wollen…
„Ein guter Mensch“: Nicht alle Menschen sind sich in ihrem dunklen Drang des rechten Weges bewußt, nur die guten – und zu denen gehört offenbar Faust. – Vermutlich ist hier keine moralische Auszeichnung gemeint, sondern eine Kompetenz. Heute würden wir eher von „reifen“ und „unreifen“ Menschen sprechen statt von „guten“ und „schlechten“.
Was diese Kompetenz auszeichnet, ist: ein Denken und Wollen, das weder von Traditionen und Konventionen noch von Trieben unmittelbar bestimmt wird, sondern sich Fragen stellt wie: „Was mach ich hier eigentlich gerade? Was soll ich eigentlich halten von dem, was ich gerade fühle, denke und will?“ – Daß Faust hier weiter ist, als andere Menschen, muß selbst der Teufel zugeben: „er ist sich seiner Tollheit halb bewußt“.
„Der Mensch kann allzuleicht erschlaffen“ – Erschlaffen bedeutet: Nachlassen der Anstrengung. – Der Mensch soll einen dunklen Drang haben und dennoch allzuleicht erschlaffen? Wie paßt das zusammen? Er kann allzuleicht Nachlassen im Erkennen und Durchhalten des „rechten Weges“, und stattdessen den Reizen und Ängsten nachgeben, die ihn davon abdrängen. Das können die unterschiedlichsten „Dränge“ sein: nicht nur die Gier nach Sex, Macht und Geld, sondern auch Stolz, Kränkung, Angst.
„Als Teufel schaffen“: Der Teufel steht im Dienste unserer Triebe, er versucht, uns ständig dazu zu bringen, unseren Trieben den Vorzug vor der Vernunft zu geben. Unsere Bestrebungen nach Lustgewinn und Selbstwerterhöhung führen zu Verstrickungen, zu Irrtümern, die uns „auf Trab halten“: die uns durch Konflikte, Mißerfolge und Leid anstacheln, die Welt, unser Handeln und uns selbst besser zu verstehen und zu organisieren, Ideen zu entwickeln, uns zu kultivieren, zu üben, zu schaffen usw. – So soll der „dunkle Drang“ mit den teilweise katastrophalen Turbulenzen, die er erzeugt, in Form eines Prozesses von Versuch und Irrtum selber dafür sorgen, daß sich der rechte Weg vor uns abzeichnet.
„Erschlaffen“ hat nicht mit Mangel an Bestrebung zu tun, sondern mit Mangel an Bemühung: mit einem Mangel an Reflexion und bewußter Steuerung des Bestrebens. – Mephistos Irreführungen sollen durch ihre katastrophalen Folgen Fausts Bemühung anstacheln, nicht sein Bestreben. – Obwohl er Gottes Intentionen kennt, läßt sich Mephisto darauf ein, weil er glaubt, daß Gott sich in seinem Stolz überschätzt und seine Pläne nicht aufgehen: Wenn die Teufel bloß immer durchhalten in ihrer Bemühung, dann kippt das Gleichgewicht, das der Herr durch sie herzustellen versucht, vielleicht irgendwann doch mal…
(4) Die Wette
Die Frage, die der Wette zwischen Gott und Teufel zugrunde liegt, läßt sich so formulieren: Wie auf sich selbst gestellt darf ein reifer Mensch sein bezüglich einsamer Einschätzung seiner selbst, und einsamer Einschätzung dessen, was für sein Leben und das menschliche Leben überhaupt sinn- und wertvoll ist, und ethisch in Ordnung? Ab welchem Ausmaß von Mangel an Korrektiven kommt es dazu, daß Auf-Sich-Selbst-Gestellte den Kontakt zur Realität verlieren und so großes Unheil anrichten, daß sie dem Teufel anheimfallen?
Der Prolog verspricht uns das Drama eines Menschen, der nur auf sich selbst gestellt, zwischen Gären und Erschlaffen, ohne Smartphone und mit lügendem Navi einen Weg finden soll, der nicht in der Hölle endet…
Nachsatz: Diskussion meiner Deutung von „Erschlaffen“
Wie ist der Widerspruch zu verstehen, daß der Mensch einen dunklen Drang haben aber gleichzeitig allzuleicht erschlaffen soll? Meine Antwort: das Erschlaffen kann sich nicht auf den Drang beziehen sondern muß sich auf das Bewußtsein des rechten Weges beziehen, nicht auf den Antrieb sondern auf die Steuerung. Etwa so: Ein Paar in einer traditionellen Lebensform würde eigentlich gerne schon vor der Heirat die körperliche Liebe erleben, beide bekommen Zweifel am Sinn des in ihrer Welt herrschenden Verbots vorehelicher Liebe, sind von diesem Sinn aber noch überzeugt genug, daß sie sich über die Unerfülltheit ihrer Wünsche trösten und beruhigen können. Sie halten es für den „rechten Weg“, dem Verbot Folge zu leisten, weil sie „unbedingte Ruhe“ haben wollen. (Fachdeutsch: Sie pazifieren ihre kognitive Dissonanz.) Doch da kommt der Teufel und läßt sie am unbedingten Sinn des Verbots zweifeln. – Diese Zweifel führen auf Dauer zur Weiterentwicklung der Zivilisation: Irgendwann wird die Liebe frei, weil für die Konflikte, die durch die Sitte klein gehalten werden sollten, andere Möglichkeiten der Bewältigung entwickelt wurden. – Gott mag es nicht, wenn wir uns kognitive Dissonanzen mit faulen Kompromissen wegmachen. Deshalb hat er den Teufel erfunden.
Das Erschlaffen der Steuerung geht natürlich auch in die andere Richtung: Daß der Drang mit uns durchgeht und unsere Kraft erlahmt, uns auf dem rechten Weg zu halten. Platon hat dafür das Bild des Wagenlenkers erfunden: Wenn seine Aufmerksamkeit oder seine Arme erlahmen, machen die Pferde, was sie wollen. Und Gott hat für diesen Fall die Engel erfunden, die uns warnen und stärken.
Wird „Erschlaffen“ auf den „dunklen Drang“ bezogen, entsteht das Paradox, daß der Teufel Faust reizen soll um den Drang anzustacheln, es aber in der Wette mit Faust um das Gegenteil geht: Der Teufel muß beweisen, daß er Fausts Drang durch Genuß zur Ruhe bringen kann. – Einige Interpreten versuchen diesen Widerspruch damit zu erklären, daß Gott mit „des Menschen Tätigkeit“ die „normalen“ Menschen meint, aber nicht Menschen wie Faust, bei denen er nicht damit rechnen muß, daß sie sich zur Ruhe setzen. Bei Faust hätte der Teufel dann eine andere Funktion, als zu reizen. Das ist eine Hilfshypothese (zu diesem Begriff: Wege und Irrwege der Interpretation).
Einer der aktuellsten Faust-Interpreten kommt daher zu dem Schluß, es helfe nur eine „dialektische Lektüre“: Mephistos Angebot, Faust zur Ruhe zu bringen, fordere Faust erst richtig heraus zur Ablehnung aller Beruhigung. Als Beleg meint er: Unmittelbar nach Mephistos Angebot „breche es heraus“ aus Faust: „Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen…“5 – Aber auch das ist eine Hilfhypothese: Es gibt keine entsprechende Regieanweisung Goethes, daß es aus Faust „herausbrechen“ soll, und diese Spielweise ist in dem performativen Kontext auch nicht zwingend. Man kann das so spielen, man kann es aber genauso gut anders spielen. – Außerdem ist fraglich, ob irgendjemand im Himmel wirklich glaubt, daß Fausts Gärung noch eines zusätzlichen Treibmittels bedürfe.
Zum Überdenken: Welches Erschlaffen könnte Gott bei Faust befürchten, so daß er Mephisto auf ihn ansetzen will? – Und ermöglicht die Wette, die dann zustande kommt („Werd ich zum Augenblicke sagen…“), die Art von Reizung, die Gott bei Faust für sinnvoll hält?
Faust will sich umbringen, nicht weil sein Drang erschlafft sondern weil das Leben seinen Drang nicht befriedigt. Erschlafft ist hier bloß seine Realitätsprüfung, seine Steuerung.
Abgehalten vom Selbstmord wird er durch lebensbejahende Gefühle. Aber kurz darauf entwertet er diese Gefühle als Trug. Er hätte sich auf Dauer gegen sie immunisiert. Dann hätten sie es nicht mehr geschafft, ihn vom Selbstmord abzuhalten. Deshalb gab Gott ihm den Teufel zum Gefährten, um ihm neue Perspektiven zu eröffnen, die seine Steuerung wieder anregen.
Mythologiefrei ausgedrückt: Im Konflikt zwischen Todeswunsch und Lebenswillen entdeckt Faust eine Möglichkeit, Trieb und Wut zu entfesseln und sich noch weniger als bisher an traditionelle Moralvorstellungen zu halten. Das ermöglicht ihm einen Kompromiß zwischen Lebensverneinung und Lebensbejahung, der ihn am Leben hält. (Mehr dazu in: „Der Konflikt zwischen Würde und Wirklichkeit“)
Anmerkungen
1 Arens, Hans, Kommentar zu Goethes Faust 1, Heidelberg 1982, S. 56f
2 Schmidt, Jochen, Goethes Faust erster und zweiter Teil, Grundlagen, Werk, Wirkung, München 1999 S. 61f
3 Nietzsche, Friedrich, Ecce Homo, Krit. Gesamtausgabe VI.3 S.256
4 Nietzsche, Friedrich, Schopenhauer als Erzieher, Krit. Gesamtausgabe III.1 S.370
5 Schmidt, Jochen, S 67f
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