Onkel Walters Höllenfahrt

Eine Kurzgeschichte über Teufelspakte, die auch „einfache Leute“ abschließen (die es, wie Heinrich Böll richtig sagte, nicht gibt), eh sie sich versehen, und ohne zu überdenken, auf was sie sich da einlassen…  (Lesezeit: 4 Minuten)

Daniel Seefeld

Onkel Walters Höllenfahrt

Ziemlich plötzlich war Onkel Walter nicht mehr der alte. Er habe es schwer am Herzen gekriegt, hieß es.

Onkel Walter war mein Patenonkel. Eigentlich war er der uninteressanteste Onkel, doch das wurde mir erst viel später bewusst. Solange er lebte fühlte ich mich privilegiert unter meinen Geschwistern, Onkel Walter zum Paten zu haben, denn von dem kriegte man zu Weihnachten die besten Geschenke. Manche waren zwar enttäuschend, z.B. das Polizeiauto: Die drinnen sitzenden Polizisten waren aufgemalt, das sah so „uncool“ aus! Und die Batterien trieben keinen Motor an sondern ein Tonband mit den Worten: „Achtung, Achtung, Sie sind umstellt, werfen Sie die Waffen fort, und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus, wir werden nicht schießen“. – Onkel Walters legendärstes Geschenk war der Panzer: Der hatte einen Motor und konnte mit seinen Ketten über alles drüber fahren! Das war so spannend, was der alles an Hindernissen überwinden konnte! Meine Brüder waren ziemlich neidisch wegen des Panzers, zumal das Ding sich als ausgesprochen langlebig erwies. – Außerdem schenkte mir der Onkel zum Geburtstag immer eine Rakete: Die konnte man mit einem Gummi hoch in die Luft schießen, dann segelte sie an einem Fallschirm wieder nach unten. Raketen waren sein Hobby. Er hatte eine riesige Mondrakete zusammengebaut, die war fast so groß wie ich! Und man konnte die verschiedenen Stufen abnehmen und viele Klappen öffnen und sehen, was in der Rakete alles drin war. Er schien alles über Raketen zu wissen.

Onkel Walter war der Mann von Tante Edith, der ältesten Schwester meiner Mutter. Sie war einige Jahre älter als der Onkel. Sie hatte in der Familie meiner Mutter als „unverkäuflich“ gegolten, das hatten ihre Brüder immer im Scherz  gesagt, weil sie linkisch war, nicht hübsch und – obwohl im Grunde herzlich gut – ein ziemlich herrisches Wesen hatte, so daß niemand glauben konnte, daß sie mal einen Mann fände. Außerdem war von der Familie vorgesehen, daß sie die Eltern pflegen sollte, wenn die alt seien. – Auch Onkel Walter war kein schöner Mann gewesen, so daß man mutmaßen konnte, daß er selbst bei dem Männermangel nach dem Krieg wenig Chancen bei den jungen Frauen gehabt hatte. Ein Hochzeitsfoto der beiden zeigte einen kleinen, untersetzten aber dabei sehr schmalschultrigen Mann, der ziemlich weichlich wirkte, daneben die Tante, fast einen Kopf größer und trotz ihrer Jugend mit einem Gesicht, das männlicher wirkte, als das des Onkels.

Die beiden lebten in einer der langweiligsten Gegenden Deutschlands: in Gerkrath, einer winzigen Kleinstadt in einer baumlosen, flachen, zersiedelten Landschaft. Um Onkel Walter und Tante Edith zu besuchen, fuhren wir über breite schnurgerade Straßen, vorbei an riesigen öden Ackerflächen. Alle zwei Kilometer gab es ein ausgedehntes Straßendorf dessen Häuser mit schmutzig-grauen Eternitplatten verkleidet waren, und in der Ferne sah man immer ausgedehnte Industrieanlagen. – Die Straßen, hieß es, seien hier so breit und geradlinig wegen des Militärflughafens in der Nähe, damit die Flugzeuge zur Not auch auf der Straße landen könnten. Diese Vorstellung war für uns Kinder das einzig spannende an der Fahrt: wir schauten immer aus der Heckscheibe und warteten, ob hinter uns nicht ein Flugzeug landen wollte.

Onkel Walter wohnte im Haus seiner Eltern, ein winziges Reihenhaus in einer Arbeitersiedlung. Er hatte es geerbt. Seine beiden Brüder waren im Krieg gefallen, so brauchte er nur seine ältere Schwester auszuzahlen. Er selber war nicht im Krieg gewesen. Es hieß, er habe die Raketenfabriken bewachen müssen. Daher kam wohl sein Interesse für Raketen. Und er war riesig stolz darauf, daß er Herrn Wernher von Braun, den Raketenbauer, der später in Amerika die Mondrakete baute, oft persönlich gegrüßt hatte. Und ich war ganz stolz, daß mein Patenonkel Raketen bewacht hatte. Und ich war auch stolz, daß mein Patenonkel immer im Preisskat gewann. Und daß er in der freiwilligen Feuerwehr war. Das war außerdem sehr günstig, weil er uns öfter mitnahm, uns die riesigen Feuerwehrautos zeigte und wir im Führerhaus sitzen durften! – Das alles genügte mir an meinem Patenonkel völlig. –

Wie langweilig er eigentlich war, konnte uns nicht auffallen, denn wenn wir bei ihm waren, durften wir mit seinen Rennautos spielen, und wenn er uns besuchte, waren wir mit seinen Geschenken beschäftigt. Onkel Walters Geschenke machten mich um so stolzer, weil mein Vater sie immer mit den Worten würdigte: „Das war bestimmt teuer und soviel Geld haben die auch nicht.“

Onkel Walter betrieb die Imbissbude und das Klohäuschen am Bahnhof von Gerkrath, beides mit einem, wie es hieß, beneidenswert günstigen und lebenslangen Pachtvertrag von der Stadt. Den hatte er nach dem Krieg bekommen, weil er im Krieg die Raketen so gut bewacht hatte, da hatte sich ein ehemaliger Vorgesetzter für ihn eingesetzt.

Weniger Glück hatte der Onkel mit seiner Tochter. Meine Cousine hatte sich früh von der Familie abgewandt, hatte Psychologie studiert und war nach Amerika ausgewandert. Der Onkel bekam immer Tränen in die Augen, wenn er von ihr sprach. Ich spürte jedesmal starkes Mitgefühl, auch wenn mein Vater hinterher immer sagte, der sei doch bloß sentimental. Ich fand das nicht in Ordnung von meinem Vater, Onkel Walters Tränen so klein zu reden. – Ich weiß zwar nicht, ob ich Onkel Walter wirklich mochte, doch ich spürte ein dankbares und anerkennendes Gefühl für ihn, weil seine Weihnachtsgeschenke mir so oft Überraschung und Freude bereitet hatten, ich war sozusagen „auf seiner Seite“.

Deshalb war ich sehr betroffen, als es hieß, Onkel Walter habe es plötzlich schwer am Herzen gekriegt. Er habe jemanden von früher getroffen, einen ehemaligen Häftling, hieß es, der in der Raketenfabrik habe arbeiten müssen, ein mieser und nachtragender Charakter. Er habe Onkel Walter was heimzahlen wollen und ihm ganz böse Sachen gesagt.

Als ich Onkel Walter danach wieder sah, schien mit ihm tatsächlich etwas vorgegangen zu sein: Er sah stark gealtert aus, seine Bewegungen waren verlangsamt, er sprach kaum noch und Tante Edith entschuldigte ihn nach dem Essen, weil er ins Bett müsse, sich ausruhen, ihn würde jetzt immer alles so anstrengen. – Ich sah ihn vielleicht noch zwei oder drei Mal. Zwei Jahre, nachdem er es am Herzen gekriegt hatte, starb er. Die bösen Worte hatten ihn ins Grab gebracht.

Die V1 und V2 Raketen wurden von Zwangsarbeitern und KZ-Gefangenen gebaut. Durch die unmenschlichen Lager- und Arbeitsbedingungen und die Brutalität des Wachpersonals starben mehrere tausend Menschen.

 

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