Oh Boy – Protokolle eines wertschätzenden Beobachters

Der Film „Oh boy“, das Erstlingswerk von Jan-Ole Gerster,  zeigt, was es jungen Menschen schwer machen kann, den Faden des eigenen Lebens zu finden.

Im Gegensatz zu seinem „Helden“ hat der Film seinen Faden gefunden und wickelt daran einen erstaunlichen Themenreichtum ab: von Übergewicht in der Pubertät über die Vaterlose Gesellschaft über Co-Abhängigkeit bis hin zur Traumatisierung der Kriegskindergeneration.

Und das alles ist nicht nur intellektuell verstanden, sondern Gerster hat mit Empathie Bedeutungsdimensionen erfaßt, die über Allgemeinplätze und Klischees hinausgehen, und er vermag, das klar und prägnant zum Ausdruck zu bringen. Er fingiert beispielhafte Situationen, in denen etwas von früher Not und deren späten Narben nachvollziehbar wird – im Gegensatz zu dem schmunzelnden Scheinverständnis mit dem wir sie oft verharmlosen (z.B. Übergewicht in der Pubertät).

Der Film hat eine große Dichte, aber auf eine so milde und ungewollte Weise und mit solcher Leichtigkeit, daß man das beim Schauen gar nicht bemerkt. Trotz seiner Komplexität ist der Film nie intellektuell verquast oder unverständlich. Er ist ein gutes Beispiel dafür, daß sich Attraktivität, Verständlichkeit und Gehalt nicht ausschließen müssen. – Hier sagt jemand etwas, weil er etwas zu sagen hat, nicht weil er etwas zu sagen haben will.

(By the way: Der Film entlarvt die Beteuerungen des Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunks, er müsse so trivial sein, weil sonst keiner zuschauen würde, als das, was es ist: Funktionärsbeschränktheit.)

Ich habe nur eines zu meckern: Der Film ist nicht frei von der Unsitte, klassische Musik als Filmmusik zu nutzen. Das spricht aber nicht gegen Gerster. Heute gilt das noch als professionell. Erst die Musik- und Filmgeschichte wird erweisen, daß es dilletantisch ist.

Nur solche Käuze wie ich sehen zur Zeit, was es wirklich ist: Ein Eingriff in die Autonomie eines Kunstwerks, seine Kolonialisierung aus Ahnungslosigkeit, Faulheit, Knausrigkeit oder Effekthascherei auf Obertertianiveau. (Kunstmusik ist so gehaltvoll, daß es keine Kunst ist, die Aussage irgendwelcher Bilder damit zu „vertiefen“. Das kann jeder Trottel.)

Aber bei Gerster lasse ich dennoch mildernde Umstände gelten: Dieses Choralvorspiel von Bach – eines der schönsten Musikstücke der Musikgeschichte – faßt Aussage und Stimmung des Films gut zusammen: Melancholie ohne die Zustimmung zum Leben zu verlieren. – Und es ist eine Reminiszenz an Tarkowski: der nutzte das gleiche Stück, in „Solaris“, und hier wie da ist es verknüpft mit einer Generationenproblematik.

Gerster hat einen Film gemacht, der an die Zukunft der deutschen Filmkunst wieder glauben läßt.

PS: Und was hat das jetzt mit Goethes Faust zu tun? – Alles Schauspiel hat mit einer Internetseite über ein Schauspiel zu tun! – Abgesehen davon ist der Bezug aktuell und frappierend:

Goethe löst im Epilog zu seinem „Faust“ das Problem des Individualismus in das Problem der Sozialisation auf, das Problem der Generationenabfolge. Es gibt da die „Seligen Knaben“, denen ein Weiser die Welt zeigt. Und was die Knaben da sehen, finden sie nicht sehr attraktiv:

„Das ist mächtig anzuschauen,
doch zu düster ist der Ort,
schüttelt uns mit Schreck und Grauen,
Edler, Guter, laß uns fort!“

150 Jahre später dichtet H.M. Enzensberger unter dem Titel „Geburtsanzeige“:

Wenn nicht das Bündel, das da jault und greint
die Grube überhäuft, den Groll vertreibt.
Was wir ihm zugerichtet kalt zerrauft
mit unerhörter Hand die schiere Zeit vertreibt,
ist es verraten und verkauft.

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