Faust und #MeToo

(Lesezeit 10 Minuten)

Inhalt:
(1) Faust als Paradigma für die Paradoxien der Macht
(2) Machtmißbrauch selbst unter Psychotherapeuten?
(3) Das Theater der Macht – der Offene Brief der Burgtheaterschauspieler

Bei der #MeToo-Bewegung geht es um Straftaten, die im Rahmen von Machtmißbrauch geschahen und vertuscht wurden. Die Bewegung nutzt nicht nur den Betroffenen, sondern trägt dazu bei, die Aufmerksamkeit allgemein auf das Thema „Machtmißbrauch“ zu lenken und damit unsere zivilisatorische Entwicklung zu fördern. – Einige der unreifen Einstellungen, die Machtmißbrauch zugrunde liefen, hat Goethe in der Faust-Figur auf eine „ethisch-ästhetische Formel“ gebracht.

(1) Faust als Paradigma für die Paradoxien der Macht

Faust ist der Inbegriff des Ausnahmemenschen, und es wurde in der Faust-Interpretation tatsächlich noch lange bis in die Nachkriegszeit ernsthaft argumentiert, daß für Leute wie ihn andere Regeln gelten:

Er darf Minderjährige verführen und dann im Stich lassen, er darf mit Betrug Karriere machen, er darf sich über den Willen anderer hinwegsetzen, er darf durch Piraterie seine Projekte finanzieren und Leute für seine Unternehmungen „herbeipressen“, er darf das alles, sofern es für seine Vollendung und sein Schaffen notwendig ist, denn er ist ein „Ausnahmemensch“, und für die müssen Ausnahmeregeln gelten.

„Ja, sonst kann der sich nicht vollenden in einem großen Werk! Und das ist doch schlimm, wenn der sich nicht vollenden und sein großes Werk nicht schaffen kann! Da hat man schonmal einen Ausnahmemenschen und dann verbietet man dem, sich zu vollenden! Bloß wegen des Todes einer Minderjährigen und ihrer Familie, der Zerrüttung eines Kaiserreichs und der Beseitigung eines alten Ehepaares. Klar, das ist alles nicht schön. Aber wo kommen wir denn da hin, wenn uns das Walten unserer Ausnahmemenschen nicht mal ein paar Opfer wert ist? Die brauchen das nunmal für ihr Schaffen!“

Es ist noch nicht lange her, daß in bürgerlich-feinsinnigen Kreisen ernsthaft so geredet wurde! Kein Wunder, wenn es unter denen, die in irgendeiner Form über Macht verfügen, immer noch Heinis gibt, deren Denken und Erleben davon verbogen ist.

(1.1) Am verwandtesten mit der „Selbstherrlichkeit“ der Herren, die von der #MeToo-Bewegung angeprangert werden, ist Fausts Umsiedlungsplan für das alte Ehepaar Philemon und Baucis. – Margaretes Verführung und der Betrug am Kaiserhof sind zwar nicht weniger skrupellos, haben aber eine andere „Struktur“: da erzielt Faust mit manipulativen Mitteln Einvernehmlichkeit, auf Erpressung oder Gewalt braucht er nicht zurückzugreifen.

Auch Philemon und Baucis versucht Faust zunächst zu „verführen“, mit einem „schönen Gütchen“. Aber die beiden wollen das nicht. Und da wird Faust sauer: „Des allgewaltgen Willens Kür, bricht sich an diesem Sande hier.“ Das geht gar nicht! Faust will doch bloß in den Linden der Alten ein Baumhaus bauen, um von dort allein und ungestört sein tolles Lebenswerk zu genießen: „dem Blick eröffnen weite Bahn, zu sehen, was alles ich getan. Zu überschauen mit einem Blick des Menschengeistes Meisterstück, betätigend mit klugem Sinn der Völker breiten Wohlgewinn.“

Faust ist sauer, weil die Alten ihn in Konflikt stürzen zwischen seinem Gerechtigkeitssinn und seinem Wunsch: „Das Widerstehen, der Eigensinn verkümmern herrlichsten Gewinn, daß man, zu tiefer grimmiger Pein, ermüden muß gerecht zu sein.“ – Doch Mephisto beschwichtigt den Konflikt und ermutigt zur Deportation, indem er sie als „Kolonisieren“ schönfärbt: Wo ist das Problem, „nach überstandener Gewalt, versöhnt ein schöner Aufenthalt“.

Faust ist klar, daß die Deportation eigentlich nicht in Ordnung ist. Aber unterstützt von Mephisto stellt er seine eigene Rechnung von Gerechtigkeit auf, etwa so: „Was wollen die denn noch, ich gebe ihnen doch was, was eigentlich weit mehr wert ist als ihr morsches Kirchlein! Die sollen sich mal nicht so haben! Wenn die in ihrem Eigensinn unfähig sind, vernünftig zu diskutieren, dann muß man das eben ohne Konsens durchziehen!“

Können zwei sich nicht einigen, werfen sie sich meist gegenseitig vor: „Mit dir kann man nicht reden!“ Daß jemand wie Faust ebenfalls so hilflos und beschränkt reagiert, zeigt, wie wenig mit Intelligenz, Gelehrtheit, Lebenserfahrung und Außergewöhnlichkeit erst getan ist.

„Eigensinn“ bedeutet: Es ist für die andern nicht nachvollziehbar. Wenn Faust den Alten Eigensinn vorwirft, meint er: Jeder vernünftige Mensch würde doch ein morsches Kirchlein gegen ein schönes Gütchen tauschen! Das darf doch nicht wahr sein, daß die sich da querstellen! Das ist doch eine völlig irrationale Überwertigkeit, die sie da mit ihrem morschen Kirchlein verbinden! Und darunter soll Fausts Lebensqualität jetzt leiden? Nach allem, was er für die Menschheit getan hat? Da können die beiden nicht mal auf ein wenig ihrer abgeranzten Gewohnheit verzichten? Für die wäre das nur eine vorübergehende kleine Unannehmlichkeit. Für Faust aber ein unzumutbare Beeinträchtigung von Lebensqualität!

Für uns ist der Wunsch der beiden Alten, nicht umgesiedelt zu werden, kein „Eigensinn“ im Sinne von: nicht nachvollziehbarer starrsinniger Unverstand. Für uns ist im Gegenteil Fausts Problem nicht nachvollziehbar: „Mein Hochbesitz, er ist nicht rein… Die wenig Bäume, nicht mein eigen, verderben mir den Weltbesitz. … Mir gibt’s im Herzen Stich um Stich, mir ists unmöglich zu ertragen und wie ich´s sage, schäm ich mich!“

Die Alten stürzen Faust in den Konflikt, entweder gegen sein Selbstbild als Gerechter zu verstoßen oder nicht zu kriegen, was er gerne hätte. Das erinnert Faust ständig daran, daß seine Allmachtswünsche unrealistisch sind. – Interessant ist, daß es Faust in seiner Scham eigentlich klar sein könnte, daß er hier der „Eigensinnige“ ist.

Die Scham spricht für ihn. Menschen mit schweren seelischen Beeinträchtigungen, sogenannte „Narzisten“ oder „Psychopathen“, würden sich hier nicht mal schämen.

Doch für Faust ist die Scham kein Grund zur Besinnung, sondern wie ein Kopfschmerz: etwas das unangenehm ist, das stört, und das man deshalb möglichst schnell irgendwie wegmachen muß. Das ist typisch für Machtmenschen: „Man kommt zu nix, wenn man sich mit jeder Störung aufhält!“ Faust wird das später der Sorge gegenüber noch mal deutlich demonstrieren. (Was die Sorge bloß mit Grinsen quittieren wird.)

Die Erlaubnis, sich nicht in Frage zu stellen, erwächst Machtmenschen aus dem Erlebnis ihrer machtvollen Selbstwirksamkeit. Sie definieren: „So wie wir es auffassen ist es richtig, anders kann es gar nicht sein. Könnten wir denn so viel Erfolg, soviel Bedeutung, soviel Macht haben, wenn unsere Fähigkeit, die Dinge einzuschätzen, nicht ebenso außergewöhnlich wäre wie unsere Erfolge? Wer eine so große Wirksamkeit hat wie wir, kann doch gar nicht groß irren. Irrtum und Wirkung sind unvereinbar!“

Das ist ein fataler Fehlschluß. Denn sie liegen mit ihren Einschätzungen und Vermutungen höchstens bei dem richtig, was für die Erlangung und Erhaltung ihrer Macht nötig ist. Wirksamkeit bezüglich der Erlangung von Macht und Wirksamkeit bezüglich der Gestaltung von Dingen müssen nichts miteinander zu tun haben.

Jemand kann z.B. durch Manipulationsgeschick mit Hilfe einer Verschwörungstheorie andere dazu bringen, ihm zu vertrauen, so daß sie ihm Machtmittel übertragen. Mit diesen Machtmitteln kann der weitere Machtmittel erlangen. – Doch das initiale Vertrauen ist bloß „gepumpt“, die Verschwörungstheorie ist nicht bewiesen, die Schecks sind ungedeckt. Dennoch kann er damit eine immer größere Blase aufpumpen. Zweifel an seiner Verschwörungstheorie, an der „Gedecktheit“ seiner Schecks, kann er aufgrund seiner zunehmenden Macht immer breitenwirksamer unterdrücken. – Seine „Wirksamkeit“ bezieht sich also nur auf den Erfolg der initialen Beschaffung und verstetigten Anwendung von Machtmitteln. Aber mehr und mehr entsteht der Schein, ein so überwältigender Erfolg sei gar nicht vorstellbar, wenn der Erfolgreiche nicht auch ein Genie sei, das in der Sache recht habe. Das geht solange, bis die Blase platzt. – Wir Deutschen sind darin Meister…

Selbst wo jemand wegen guter Leistungen in der Sache, also sachlich zu Recht, Machtmittel zur Verfügung gestellt bekommt, ist er nicht davor gefeit, daß sein Machterhalt sich verselbständigt und mit immer schlechteren Leistungen in der Sache einhergeht. – Das kann z.B. so geschehen: Ein erfolgreicher Regisseur übt an kritischen Schauspielern entstellende Kritik, und jeder Versuch der Kritisierten, gegen den Vorwurf Einspruch zu erheben, wird vom Regisseur und seinen Günstlingen dargestellt als Mangel an charakterlicher, künstlerischer oder intellektueller Eignung bezüglich des Eingestehens von Fehlern und Schwächen. Um das zu vermeiden, wird es immer weniger kritische Rückmeldungen geben. Der Chef wird schließlich glauben: „Wußt ich´s doch: ich bin ganz toll, denn ich hab fast immer Recht!“ Je höher sich diese Spirale dreht, desto „bekloppter“ oder „eigensinniger“ werden ihm Mitarbeiter scheinen, die widersprechen.

Das ist ein Prozeß, der völlig unintendiert ablaufen kann, ja sogar „kontraintendiert“: denn möglicherweise widerspricht es dem Selbstbild des Chefs, daß ihm soetwas unterläuft. Das macht die Sache noch schlimmer: denn jeder Versuch, die verzerrte Kommunikation zu benennen, wird der „Mächtige“ als Angriff auf sein Selbstbild erleben und je mehr er sein Selbstbild schützen muß, um so rigoroser wird er Machtmittel nutzen, um Widerspruch zu unterdrücken.

(1.2.) Machtstrukturen, die zu Machtmißbrauch ermächtigen, entstehen überall da, wo alle schon immer gekuscht haben, statt Null-Toleranz zu üben gegen die ersten Anzeichen von verzerrter Kommunikation. Verzerrte Kommunikation entsteht, wenn geduldet wird, daß kritische Rückmeldungen, ja selbst schon Zweifel an den Vorstellungen der Mächtigen „bestraft“ werden, ebenso bestraft wie das Anmelden des Anspruchs, die Problemanalysen und Lösungswege gemeinsam im Team zu diskutieren, statt „vorgesetzt“ zu bekommen (und dann „auslöffeln“ zu müssen).

Der Toleranz von Machtmißbrauch wird um so wahrscheinlicher, je mehr Menschen sich von der Toleranz Vorteile erhoffen. Dann entstehen ungeschriebene Pakte: „Solange ich deine Gunst habe, mache ich brav mit!“ Hat ein Mächtiger erstmal einen Stab von Ja-Sagern, von Mitmachern, kann er sich auch ohne Psychopath zu sein irgendwann alles erlauben, denn er erhält keine Rückmeldungen mehr darüber, wo die Grenze des Erlaubten ist.

Faust hat nicht auf seinen Therapeuten Chiron gehört („gesellig nur läßt sich Gefahr erproben“) und erst gar kein Team für sein Projekt zusammengestellt. Er hat nur den Teufel, der ist aber kein echter Gesprächspartner, sondern jemand, mit dem er einen Pakt hat. Das Gespräch zwischen Faust und Mephisto bezüglich der Deportation ist ein Pseudogespräch, weil Faust sich an drei Fingern hätte abzählen können, wie es auf keinen Fall ausgehen wird, nämlich daß Mephisto sagt: „Mensch, reiß dich mal zusammen! Du willst ein freies Volk auf freiem Grunde ermöglichen aber dann aus reinem Mutwillen einem netten alten Ehepaar das Häuschen wegnehmen? Wie bescheuert ist das denn?“

Ein echtes Gespräch kommt nur zustande, wenn die Teilnehmer bereit sind, daß hinterher was anderes rauskommt, als sie gerne hätten. – Faust hat „instinktiv“ dafür gesorgt, daß ihm niemand widerspricht. – Der Starke ist am dämlichsten allein.

Der Germanist Thomas Weitin zeigt Parallelen auf zwischen Goethes Studie über Moses und seiner Konzeption der Faust-Figur. Wie Moses sei Faust „ein Gesetzgeber, der nicht würdevoll sondern oft überfordert und gewaltsam auftritt“. – Moses und Faust hätten keine „Amtswürde“: „sie agieren gewaltsam, jähzornig, rücksichtslos und oft unüberlegt, sie scheinen für das, was sie tun, nicht einmal begabt, und sind doch zum Gesetzgeber bestimmt“. Trotz des Fehlens moralischer Würde werde Faust dann erlöst – wegen der allgemeinen Menschenwürde, die allen Menschen zukommt, unabhängig von moralischem Verdienst oder Versagen. (Dazu mehr in „Fausts Erlösung„).

(2) Machtmißbrauch unter Psychotherapeuten

Wie anfällig wir Menschen für solche irrationalen Strukturen von Verständigung sind, zeigt eindringlich der Befund, daß solche Strukturen selbst bei Psychotherapeuten vorkommen, die sich als Experten und Sachwalter für Kommunikation, Beziehung und menschliche Würde verstehen.

Eigentlich verbinden wir mit einem offenen Gespräch, daß jeder die gleichen Rechte hat, zu behaupten, zu fordern, zu fragen, zu hinterfragen oder Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Es ist eine Mißachtung der Würde, jemandem „de facto“, d.h. durch mehr oder weniger subtile Formen von Bestrafung, die gleichen Rederechte zu verwehren. Statt darüber zu reden, was er sagt, wir dann darüber geredet, daß er es sagt, d.h. seine Fragen oder Argumente werden nicht auf der Ebene ihrer Geltung zu diskutiert, sondern beurteilt wird, daß er sie vorgebracht hat.

Der Psychoanalytiker H.E.Richter befand: Die Psychoanalyse wende ihre Wissenschaft an, „um die eigene Machtposition in ihren Organisationen auszubauen. Ihr Marktmonopol erlaubt es ihnen, sich die artigsten und opferwilligsten Schüler auszusuchen die schon allein, um die für die Ausbildung zu investierenden 100000 bis 150000 D-Mark nicht abschreiben zu müssen, notwendigerweise gehorsam bei der Stange bleiben. Mäkelt doch einmal ein versehentlich durchgerutschter Querkopf an den geheiligten Lehrmeinungen herum, … kann man ihm spätestens bei einer der Zwischenprüfungen mit Bedauern verkünden, daß er wegen seines Neids auf Freud, seines unbewältigten Ödipuskomplexes … doch noch etwas zu unreif sei, um in die nächste Ausbildungsstufe einzurücken. Es werde ihm guttun, erst noch eine weitere Zeit auf der Analysecouch über sich selbstkritisch nachzudenken und an seinen Problemen zu arbeiten. … Da scheint mir, daß die Instrumente der Psychoanalyse einzigartig hilfreich sind, indem man die Schüler jederzeit mit Neurosedeutungen disziplinieren kann.“

Es entsteht die oben beschriebene Struktur: Hinterfragt ein Auszubildender eine Einschätzung der Ausbilder, wird das von denen als Zeichen gewertet, daß der Auszubildende nicht kritikfähig ist.

Die Ausbilder haben sich ein System geschaffen, in dem sie immer Recht haben. Doch das kann ihnen nicht auffallen, denn so ein Befund paßt nicht in ihr Selbstbild: Es kann doch nicht sein, daß ein erfahrener Therapeut, der seit Jahren Patienten behandelt, die Opfer von verzerrter Kommunikation wurden, selber verzerrte Kommunikationsstrukturen generiert!

Doch, es kann sein! „Ausbilden“ ist ein völlig anderer Handlungszusammenhang als „Heilen“.

Der ungekonnte, unreflektierte Umgang mit Machtmitteln kann schnell dazu führen, sich immer mehr in Unkritisierbarkeit zu verstricken.

Es sollte uns sehr entspannt machen, wenn selbst Psychotherapeuten soetwas passieren kann. Denn das heißt: Wir Menschen sind hochanfällig dafür, uns Illusionen zu machen und vor Desillusionierung zu schützen. Das ist menschlich-allzumenschlich und sollte deshalb mit jedem Selbstbild vereinbar sein. Etwas, für das wir Menschen so anfällig sind, darf jedem passieren (selbst Psychotherapeuten), ohne daß es ihn diskreditiert.

Und das bedeutet: Wir brauchen einander, um nicht wunderlich zu werden. Deshalb sollte Null-Toleranz gegen Machtausübung im Gespräch selbstverständlich werden. Wir können nicht davon ausgehen, daß irgendjemand die Desillusionierung über sein Kommunikationsverhalten alleine hinkriegt.

(3) Das Theater der Macht

Die Burgtheatermitglieder prangern unter dem Stichwort #MeToo in einem Offenen Brief nicht Straftaten an, sondern „das Klima“: „Immer wieder wird von vielen RegisseurInnen in künstlerischen Prozessen Machtmissbrauch, Demütigung und Herabwürdigung als probates Mittel in der Arbeit angesehen und durch das eigene künstlerische Genie entschuldigt.“ (Zitat)

Daß gute Regisseure so sein müssen, ist Unsinn, und es ist interessant, daß sich so ein Unsinn in unserer aufgeklärten Welt so lange hält. Solche Regisseure sind Rüpel, nichts weiter. Und wenn sie große Künstler sind, kommt ihre Kunst nicht wegen ihrer Rüpelei zustande sondern trotz ihrer Rüpelei. Und sie bleiben Rüpel, wenn man es ihnen durchgehen läßt, oder sie dafür sogar noch hoffiert, weil der Künstlermythos meint, das gehöre dazu.

Kunst erfordert keine Rüpelei. Und Leiden verbürgt keine Qualität. – Ein Regisseur, der seine künstlerischen Intentionen nicht gewaltfrei realisieren kann, ist einfach bloß einfallslos bezüglich der Kooperation mit Schauspielern. Das fördert seine Kunst nicht, sondern bremst sie. Er könnte mehr erreichen, wenn er sich nicht so gehen ließe. Irgendwann wird es so sein, daß Rüpelei im Theater oder am Set einfach bloß als unprofessionell gilt.

Professionelle Regie bedeutet: die Träume und Triebe der Schauspieler, ohne die sie keine Künstler wären, vereinbar zu machen mit den künstlerischen Intentionen von Regisseur oder Regisseurin. Die Regie ist verantwortlich für die künstlerische Stringenz, Einheit und Geschlossenheit der Darbietung. Dafür ist die Fähigkeit, die Spielenden zu inspirieren, genauso gefordert wie die Fähigkeit, sich von ihnen inspirieren zu lassen. Und sich inspirieren zu lassen geht nicht ohne zuzuhören, zu verstehen, zuzugestehen und zu respektieren.

Nie ist alles möglich. Kunst stößt immer an Grenzen. Skrjabin notierte in einer Klaviersonate einen Ton, den es auf dem Klavier nicht gibt. Man kann das Klavier anschreien, wie man will, es wächst ihm keine Taste. Als Komponist mußte Skrjabin diesen Ton notieren, als Pianist wußte er, welchen Kompromiss er da machen würde. Der wahre Künstler weiß, wie weit er gehen darf mit künstlerischen Kompromissen, ohne der Kunst was wegzunehmen.

Sind Rüpelregisseure rüpelhaft, weil sie einfach zu verliebt sind in ihre Intentionen und deshalb den künstlerischen Kompromisspielraum nicht nutzen? – Absurd ist die Vorstellung auf jeden Fall: man könne aus Künstlern mit Gewalt mehr „rausholen“ als ohne.

Weiterlesen:
Zum Überblick über das Drama: Deutende Inhaltsangabe

Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Beiträge zu Goethes Faust)

(4) Nachweise

1. Eine Vielzahl von Beispielen bezüglich der Bewertung von Fausts Schuld am Tod von Philemon und Baucis sind zu finden in: Arens Hans, Kommentar zu Goethes Faust II, Heidelberg 1989, S.863f

2. Zu Fausts Rechtfertigung bezüglich Margaretes Tod siehe: Korff, Geist der Goethezeit, Besprechung von Faust 1 (Da ich diese Bände, „ererbt von den Vätern“, sehr wortreich aber wenig hilfreich fand, setzte ich sie auf einem öffentlichen Berliner Bücherbrett aus, um in meiner Bibliothek Platz zu schaffen. Daher kann ich die genaue Stelle nicht angeben.)

3. Die Erkenntnis, daß die Fähigkeit zur Erlangung und Erhaltung von Macht nichts zu tun haben muß mit der Fähigkeit, erfolgreich Wirklichkeit zu gestalten, verdanke ich dem Buch „Der Kult der großen Männer“ des ehemaligen DDR-Philosophen Eberhard Fromm, der darin mit dem real-existierenden Sozialismus abrechnete.

4. Der Vergleich Moses – Faust ist aus: Thomas Weitin, Freier Grund, die Würde des Menschen nach Goethes „Faust“, Konstanz 2013 (konstanz university press), S. 83ff

5. Die Bedingungen, die an Diskurse zu stellen sind, hat Jürgen Habermas expliziert als „Bedingungen der idealen Sprechsituation“ in seinem Aufsatz: „Wahrheitstheorien“.

6. Richter, Horst-Ebehard, Die hohe Kunst der Korruption, Hamburg 1989, S.45f. – Dazu auch mein Beitrag „Denkanstöße“ auf pro-psychotherapie.com

7. Berichte über den Burgtheater-Brief:
– – – Link zum Deutschlandfunk
– – – Link zu Nachtkritik (ausführlicherer Bericht) (zuletzt abgerufen: 3.7.24)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert