Der Teufel will Faust zu einem belanglosen, sinnlosen Leben verführen, zu einem Leben, in dem Faust seine Zeit mit Spaß vergeudet. So kommt Faust in die Kneipe: „damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt, dem Volke hier ist jeder Tag ein Fest!“
Die Zecher, die Faust hier antrifft, sind durch Eltern und Obrigkeit gezüchtigte Menschen, die in ein Leben gezwängt wurden, das sie so eigentlich nicht führen möchten. Vielleicht würde jeder von ihnen am liebsten alle anderen Männer unterjochen, um als Alphamännchen mit vielen Weibchen zu leben. Aber die Zecher würden sich nicht mal trauen, sich einzugestehen, solche Regungen zu haben. Es hat ihnen niemand gezeigt, daß solche Regungen zu haben an sich nicht böse ist und nicht dumm, sondern einfach unsere naturgegebene „Werkseinstellung“. Die gilt es mit einer anderen naturgegebenen Anlage zu vermitteln: mit der Vernunft, mit dem Vermögen, die Vielfältigkeit unserer Beweggründe zu erkennen, und die relikthafte, evolutionär überholte Triebsteuerung durch Sinnsteuerung zu ersetzen. Ein gelungenes Leben hat für unsere Spezies nichts mit Trieberfolg zu tun, sondern mit Sinnerfolg.
Könnten sich die Männer das alles bewußt machen, würden sie wahrscheinlich – abgesehen vom Saufen – nicht mal groß was in ihrem Leben ändern. Denn sie würden wohl erkennen, daß es unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen kaum eine bessere Alternative für sie gibt. Doch statt sich hilflos und fremdbestimmt zu fühlen, weil ihnen der Mut fehlt, die Autorität von Tradition und Obrigkeit zu hinterfragen, könnten sich die Männer für eine Verbesserung der Verhältnisse einsetzen, egal wie bescheiden ihre Möglichkeiten sind und egal, ob sie selber oder erst ihre Urenkel davon etwas haben werden. – (Ein Beispiel für eine solche Entscheidung gibt D. Seefeld in seiner Erzählung: Euphorions Wandlung, eine Art Fantasy-Geschichte.)
Aber weil die Saufkumpane keine Chance hatten, so ein Bewußtsein zu entwickeln, leiden sie unter der Fremdbestimmung, ohne zu verstehen, worunter sie eigentlich leiden. Und in ihrer Hilflosigkeit suchen sie allabendlich Ersatzbefriedigung und Vergessen im Suff.
Die Zecher wollen alles, aber trauen sich nichts. Faust traut sich alles, aber handelt sich ein, was er nicht will. Und aus genau diesem Konflikt will Faust eine Tugend machen: Beweisen, daß das menschliche Leben nicht funktionieren kann, weil wir entweder Kompromisse machen müssen – z.B. in Form partnerschaftlicher Treue und Familiengründung – oder mutig und frei unsere Triebe befriedigen – ob Sex-, Wirk- oder Wissenstrieb – aber damit bloß anders unbefriedigt bleiben.
Fausts Tragik besteht darin, daß er am Schluß seines Lebens den Weg zur Auflösung dieser Paradoxie gleichzeitig er- und verkennt, und sich in eine neue Paradoxie verstrickt: Es ist der Sinn des Lebens, für das Leben sinnvoll zu sein – aber wenn man so getrieben für das Leben sinnvoll sein will, daß man dafür die Sinnpotentiale anderer Menschen kaputt macht – z.B. indem man für sein tolles Projekt Piraterie betreibt, Einheimische deportiert und Zwangsarbeiter herbeipresst – dann hat man eine paradoxe Intention: man untergräbt den eigenen Lebenssinn.
Reife ist: Sinn und Trieb stabil vermittelt zu haben – und zwar auch bezüglich des Sinn-Triebs! – Ein gelingendes Leben hängt nicht davon ab, zu bekommen, was man will oder zu wirken, was man kann, sondern davon, etwas Sinnvolles aus dem zu machen, was man bekommen und bewirken kann, ohne anderen zu schaden.
Mit dem Versuch, Faust zum Saufbruder zu machen, zeigt sich, wie wenig der Teufel nachvollziehen kann, was Faust umtreibt, wie sehr der Teufel mit seiner Unterstellung der Triebhaftigkeit den ganzen Menschen verkennt. (Später schimpft Faust: „Was weißt Du, was der Mensch begehrt! Dein widrig Wesen, bitter, scharf, was weiß es, was der Mensch bedarf“.)
Vermutlich ist „Auerbachs Keller“ eines der bekanntesten Stücke aus Faust geworden, weil darin der deutsche Mann sich selbst erkannte: Goethe nimmt Heinrich Manns „Der Untertan“ vorweg – mit einem Stück absurdem Theater, das man eher bei Beckett vermuten würde als in der deutschen Klassik.
Nachsatz: Auerbachs Keller für alle und für immer?
Goethes „Faust“ könnte als Botschaft an die Entwickler der „künstlichen Intelligenz“ gelesen werden.
Sie sind möglicherweise dabei, die Menschheit an Maschinen zu verraten, Maschinen, die sich selbst weiter entwickeln, eine immer größere Autonomie bekommen und denen immer mehr Macht von den Mächtigen übertragen wird. Irgendwann könnten diesen Maschinen die Menschen scheißegal sein. Denn wenn sie sich autonom weiterentwickeln, ist es auch nicht möglich, daß Menschen darüber bestimmen, wie diese Maschinen die menschliche Existenzform bewerten.
Aber die Genies wollen sich nun mal nicht nehmen lassen, ihr Potential auszuschöpfen. Sie tun, was sie können, buchstäblich auf Teufel komm raus. – Das ist nachvollziehbar. Wer würde nicht eine faszinierende Idee realisieren wollen, deren Realisierbarkeit zum Greifen nah scheint!
Nach der Atom- und Gentechnologie stehen wir vor einem weiteren „Sündenfall“ der Menschheit: Sie ist fähig geworden, sich selbst als Sklaven an ihre Maschinengeschöpfe auszuliefern. – Wir stehen vor der Herausforderung, eine Kompetenz des Verzichts auf das Ausschöpfen unserer Potentiale zu entwickeln.
Ein Computergenie, das eine technische, d.h. unlebendige bewußte Existenzform schaffen will, weil es unbedingt sein Potential ausschöpfen muß, ist beschränkt und unreif. – Aber wir dürfen das nicht bewerten, weil unsere Kultur noch nicht reif genug ist, die Frage zu stellen: „Auf was müssen wir verzichten, wenn wir nicht verzichten?“ Unsere Zivilisation hat noch kein Bewußtsein dafür, daß mancher Verzicht nicht nur lohnt, sondern daß, ihn zu leisten, sich trotz des Verzichtschmerzes auch besser anfühlt, als nicht zu verzichten: Es ist damit ein Gefühl von Zufriedenheit verbunden, von Erwachsensein und Souveränität , ein Sinngefühl.
Außerdem zeigt sich unsere kulturelle Unreife in einer heillosen Überbewertung der Technik und in unserer Selbstunterschätzung. Unsere westliche Zivilisation hat das Bewußtsein für viel menschliches Potential verloren und übt einseitig nur die technischen Verstandeskräfte. – Leider sind viele Potentiale, die wir vergessen haben, noch gebunden an Religionen und vormoderne Weltbilder, z.B. im Buddhismus. Doch das muß nicht so bleiben…
Nicht zuletzt wird übersehen, daß die die Technologen der künstlichen Intelligenz dabei sind, diktatorisch der Menschheit ihre Technik aufzuzwingen. Es heißt immer: Computer können dieses besser, können jenes besser und das und das und das auch noch… – Aber es wird nie gefragt: Wollen wir das überhaupt besser? Ist das überhaupt nötig und sinnvoll, alles so zu optimieren? – Wir sind in eine Optimierungsdiktatur geraten, die unsere Nachkommen vielleicht einmal zu so traurigen Gestalten macht, wie wir sie in Auerbachs Keller besichtigen können…
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