Der Weg zur Wette 2: Fausts Experimentalanordnung

Inhalt: 

(1) Fausts Experimentalanordnung – – (Lesezeit 3 Minuten)
(2) Textstelleninterpretationen – – (Lesezeit: je 1 Minute):
– –  „Vergebens hab ich alles Schätze des Menschengeists auf mich herbeigerafft“
– –  „Der Menschheit Krone zu erringen“
– –  „Das Drüben kann mich wenig kümmern“

Deutungsrelevante Zitate:

„Laß in den Tiefen der Sinnlichkeit / uns glühende Leidenschaften stillen / in undurchdrungenen Zauberhüllen / sei jedes Wunder gleich bereit. / Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit / ins Rollen der Begebenheit / da mag dann Schmerz und Genuß / Gelingen und Verdruß / miteinander wechseln wie es kann / Nur rastlos betätigt sich der Mann.“ (Vers 1750ff)

„… Von Freud ist nicht die Rede, dem Taumel weih ich mich, dem schmerzlichsten Genuß / verliebtem Haß, erquickendem Verdruß / Mein Busen, der vom Wissendrang geheilt ist, soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen / und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist / will ich in meinem Innern selbst genießen / mit meinem Geist das höchst und Tiefste greifen / ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen / und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern / und wie sie selbst am End auch ich zerscheitern!“ (Vers 1775ff)

„Ein jed Gelüst ergriff ich bei den Haaren, was nicht genügte ließ ich fahren, was mir entwischte, ließ ich ziehen. Ich habe nur begehrt und nur vollbracht, und abermals gewünscht…“ (Vers 11434f)

(Alle Zitate spricht Faust nach der Wette aus. Aber damit artikuliert er nur, was an Intuition und Intention sich zur Wette zusammengebraut hat.)

Faust behauptet zweierlei: Erstens: Selbst wenn jemand das Äußerste des Menschenmöglichen erlebt, bleibt ein Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Würde, den Faust als „Scheitern“ bewertet. – Zweitens: Hochgesinnte Menschen können selbst durch das genußvollste und erlebnisreichste Leben nicht bestochen werden, ihr Streben nach Würde aufzugeben.

Um zu schauen, ob das stimmt, denkt Faust sich eine Versuchsanordnung aus: Er weiht sich dem Taumel. Taumel ist: „eine sinnliche oder seelische Erregtheit oder Entzückung bei der man wie berauscht seiner Sinne nicht mehr ganz mächtig ist“1, „ein Erleben, das nicht durch Denken kontrolliert wird“2 .

Das Experiment sieht vor, daß Faust sich treiben läßt, er soll die Begierden und Bestrebungen so wenig wie möglich beherrschen durch Vernunft, er soll alles erlebt, wonach es ihn verlangt, und alles tun, worauf er gerade Lust hat. Mißlingen verpflichtet dabei zu nichts: Er bleibt nicht bei einer Sache, bis die Probleme gelöst sind und die Sache gelungen ist, sondern er hört er auf, sobald er keinen Bock mehr hat. Sinn soll nicht zum Durchhalten motivieren und Schmerz nicht zum Vermeiden.

Er strebt danach, zu taumeln? Ja was denn nun: Streben oder Taumeln? Streben hat mit Kontrolle, Sinn und Ziel zu tun, es ist das Gegenteil von Taumeln, Sich-gehen-lassen, Fallenlassen. Willentlich Taumeln geht genauso wenig, wie willentlich Einschlafen. Wir können höchstens die Bedingungen, die das Einschlafen begünstigen, willentlich herbeiführen.

Deshalb sagt Faust richtig: Er weiht sich dem Taumel. Der Taumel wird zu einer heiligen Handlung, weil er im Dienst eines Experiments steht, das die Stärke der Würde erweisen soll. Das „Streben meiner ganzen Kraft“ bezieht sich darauf, dieser „Weihe“ des Taumels gerecht zu werden.

Denn als Mensch „hohen Strebens“ widerstrebt Faust die gedankenlose Getriebenheit des Taumels: die Ignoranz von Werten und Bedenken. – Deshalb ist Anstrengung nötig, um Skrupel und Ängste sowie Gefühle von Sinnlosigkeit oder Unstimmigkeit, die das Forschungsprojekt gefährden, zu überwinden.

Offenbar will er die Werte aber nicht völlig ignorieren, sonst hätte er später Margarete nicht retten wollen, und er hätte sich später bei Philemon und Baucis gar nicht erst bemüht, gerecht zu sein (Verse 11269ff). Was Faust vorschwebt (anscheinend nicht bewußt, aber intuitiv) ist offenbar: immer gewagtere Kompromisse zwischen den Trieben und den wichtigsten Grundwerten zu erstreben.

Eine solche Taumelei ist für ihn nichts Angenehmes, aber er will das durchstehen, weil er sich davon einen Erkenntnisgewinn über das Menschsein verspricht.

Außerdem strebt er mit ganzer Kraft danach, Hüllen zu durchdringen, die noch keiner durchdrungen hat. Er will mehr erleben, als der Rest der Menschheit. Er will das Äußerste erleben, was Menschen möglich ist („der Menschheit Krone“), und er will um dieses Erleben ringen, wie bei einem Extremsport. (Auch hier fragt sich: Wie ist Ringen mit Taumeln vereinbar?)

Fausts Experimentalanordnung würde jedoch gerade nicht das ganze Wohl und Weh der Menschheit abdecken. Z.B. kann man mit Taumeln keine Kinder mit Liebe und Leitung so gut begleiten, daß sie sich gut entwickeln können: Als Faust später mit Hilfe der Seherin Manto eine Zeitblase entdeckt, von der selbst Mephisto nichts wußte, eine Zeitblase, in der er die Chance bekommt, zu erleben, ein Kind beim Aufwachsen zu begleiten, zeigt sich, wohin es führt, wenn Väter taumeln: Gedankenlos überläßt sich Faust der Freude an seinem Sohn, ohne sich zu fragen, was der Sohn eigentlich will [Helenaakt].

Wie es sich anfühlt, die Abenteuer zu meistern, die Kinder in unser Leben bringen, kann Faust mit seiner Experimentalanordnung nicht erleben. Das liegt an seiner Experimental-Intention: Es muß für ihn alles zum rein persönlichen Erlebnis werden, nichts darf Spuren von Sinn enthalten. Der Genießende ist nie bei der Sache, die er genießt, immer nur bei seinem Genuß der Sache (Jaspers4). – Mit so einer Einstellung – sinnfreier Genuß – kann Faust einem nicht Kind gerecht werden.

Faust hat seine Experimentalanordnung nicht durchdacht. Deshalb ironisiert Mephisto Fausts Haltung: Wie es sei, alle Schätze des Menschengeists auf sich gerafft zu haben, könnten die Menschen niemals objektiv wissen, immer nur subjektiv in Fantasien (Vers 1785).3

Faust hat nicht verstanden, daß die Aussagen, die er mit seiner Experimentalanordnung generieren kann, nur einen begrenzten Aussagewert über das menschliche Leben haben. Das ist vermutlich einer der Irrtümer, die Gott im Sinn hatte, als er auf Mephistos Spott über Faust lapidar erwiderte: „Es irrt der Mensch solang er strebt“.

 

Textstelleninterpretation: „Vergebens hab ich alle Schätze des Menschengeists auf mich herbeigerafft“….

Ich vermute hier ein umgangssprachlich verkürztes Futur 2, so wie in: „Ich mach das jetzt mal, aber ich seh schon: am Ende hab ich auch nicht mehr erreicht“. – Ohne Futur 2 würde „alle Schätze des Menschengeists“ sich nur auf das beziehen, was Faust schon hat: Wissen und Gelehrsamkeit. (So Arend. Seine Paraphrase von Fausts Aussage: „Ich habe es auch schon empfunden, daß alles Wissen mich nicht gefördert hat“.)

In dem Kontext, daß Faust davon redet, alles Menschliche erleben zu wollen, und Mephisto ihm den unrealistischen Umfang dieses Programms vor Augen führt, scheint „alle Schätze des Menschengeists“ etwas anderes zu bedeuten als nur Wissen. Wieso sollte Faust auch, nachdem er als Konsequenz auf das Scheitern des Wissens ein neues Programm entworfen hat, jetzt wieder über das Scheitern des Wissens klagen?

Faust ging es, offenbar ohne daß er sich dessen explizit bewußt wurde, um mehr, als nur um sein Experiment: Er hatte offenbar die Hoffnung, damit auch – quasi als „Beifang“ – dem Unendlichen näher zu kommen. Und er klagt jetzt über das Scheitern dieses Teils seines Experiments: seines neuen Versuchs, sich dem Unendlichen zu nähern, und zwar diesmal mit Erlebnissen statt mit Wissen. Es scheint eine Enttäuschung eigener, neuer, überraschender Art zu sein, wie die Enttäuschungen über das Zeichen des Makrokosmos oder den Erdgeist.

Und es wäre ja auch wenig sinnvoll, wenn er eben noch sagt: „Mich ekelt lange vor allem Wissen“, und sich jetzt darüber wundert, das alles Wissen ihm nichts bringt. – Zudem ist es hier keine Bestandsaufnahme: „da steh ich nun…“, sondern eine Antizipation: „wenn ich mich am Ende niedersetze…“

Futur zwei ist sprachlich umständlich und es ist typisch für Verse, daß Auslassungen und Verkürzungen notwendig werden. Ich würde mich nicht scheuen, in einer Aufführung Faust sagen zu lassen: „Vergebens werden alle Schätze des Menschengeists auf mich herbeigerafft.“

Textstelleninterpretation: „Der Menschheit Krone zu erringen“:

Was Faust antreibt, ist nicht der Wunsch, besser zu sein als andere Menschen, sondern das Menschsein zu überhöhen, das Alleräußerste zu erleben, was einem Menschen möglich ist.

Es geht nicht um die Lösung eines lebensgeschichtlich bedingten Selbstwertproblems, sondern um die grundsätzliche Frage nach der menschlichen Würde.

Faust hat sich mit seiner Experimentalanordnung ausgedacht, wie er es schaffen könnte, nicht einem Wurme zu gleichen. Doch dann sagt Mephisto: Nee, das geht so nicht. Und es zeigt Fausts Stärke, daß er zwar aus allen Wolken fällt („Was bin ich denn…“) , aber schnell begreift: Selbst als der denkbar größte menschliche Experte für die menschliche Existenz bleibt er im Gefängnis der menschlichen Konstitution, der natürlichen Bedingtheit.

Textstelleninterpretation: Das Drüben kann mich wenig kümmern.

Dieses Wort Fausts kann ich nicht nachvollziehen: Er wird „drüben“ für ewig Mephistos Knecht sein! Und das ist ihm egal?

Ich finde es eigenartig, daß kaum ein Interpret sich hier wundert. Faust kann zwar nicht wissen, ob und wie man nach dem Tod leiden kann, das ist richtig. Aber Dienen ohne Rast und Ruh: das klingt in keiner Weise leidensfrei – dienen ist nicht toll, ruhe- und rastlos dienen noch weniger.

Vielleicht lügt Faust hier: Wenn Faust sich nicht davor fürchtet, was Mephisto nach dem Tod mit ihm macht, kann sich Mephisto sicher sein, daß Faust ihn nicht austrickst – so wie die in zahllosen Sagen und Schwänken überlieferten Kollegen Mephistos, die von findigen Menschen geprellt wurden.

Einen Sinn gibt Fausts Gleichgültigkeit gegen das „Drüben“ höchstens, wenn wir Fausts Ausspruch: „Wie ich beharre, bin ich Knecht, ob dein, was frag ich oder wessen“ als eine vergleichende Bewertung des hiesigen Lebens auffassen: daß Faust, falls er es nicht schafft, seine Selbstbestimmung gegen seine Naturbestimmtheit durchzusetzen, sich schon hier wie in der Hölle fühlt, so daß er nicht glaubt, daß es schlimmer werden könnte. – Allerdings scheint es sich dann eher um einen kurzsichtigen trotzigen Selbstbestrafungsimpuls zu handeln: „Wenn ich es nicht schaffe, so selbstbestimmt zu sein, wie ich gerne wäre, ist mir sowieso alles Scheißegal, dann habe ich auch nichts besseres verdient als die Hölle!“

Weiterlesen auf dem Faust-Pfad: Macht sich Faust zum Testpiloten Gottes? Fausts Absicht mit der Wette

Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel)

Nachweise:
(1) Grimmsches Wörterbuch

(2) Hans Arens,  Kommentar zu Goethes Faust I. Winter, Heidelberg 1982, S.190

(3) Diesen Punkt hat auch der britische Germanist Nicholas Boyle gut erkannt: „Nicht ermöglichen kann die Wette einen Anteil an dem Dasein derjenigen, die vermittelst der Tugenden leben die Faust verneint hat, vor allem der Geduld“ („Der religiöse und tragische Sinn von Fausts Wette“, in: Hg. Jaeger et al. „Verweile doch“, Goethes Faust heute, Blätter des Deutschen Theaters 3, Berlin 2006, S. 41). – Boyle ist – wie viele andere Interpreten auch – allerdings zu sehr auf den „Augenblick“ fixiert und verkennt, daß das „Verweile doch“ nur eine Operationalisierung ist von: „Kannst Du mich mit Genuß betrügen“. „Genuß“ ist das maßgebliche Stichwort, nicht „Augenblick“.

(4) Jaspers, Karl, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin (Springer) 1919, S. 80f, Zitat bei Arens (Anm 2) S. 191. Jaspers Werk gehört zu den Büchern, die ich verschenkt habe. Es spricht für Hannah Ahrend, daß sie dieses Werk als Studentin offenbar auf Anhieb verstanden hat. Ich fand es so mühsam, darin zu lesen, daß der Aufwand für mich in keinem Verhältnis zum Gewinn stand. Jaspers nutzt Begriffe und Konzepte, die man nicht verstehen kann, wenn man nicht die Bücher gelesen hat, die er gelesen hat. Ich denke, er hätte sachlich sehr viel mehr erreichen können, wenn er Wittgenstein als Erzieher gehabt hätte und geübt gewesen wäre, in der Alltagssprache darüber zu reflektieren, was in seinen Begriffen liegt. – Wie sagte der Logiker Tarski: Die Alltagssprache ist die letzte Metasprache.

 

 

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