Fausts Experimentalanordnung

Inhalt: 

(1) Fausts Experimentalanordnung (Lesezeit 5 Minuten)
(2) Textstelleninterpretationenen:
: „Vergebens hab ich alles Schätze des Menschengeists auf mich herbeigerafft“ (Lesezeit 2 Minuten)
: „Der Menschheit Krone zu erringen“ (Lesezeit 1 Minute)
: „Das Drüben kann mich wenig kümmern“ (Lesezeit 1 Minuten)

Text:

„Laß in den Tiefen der Sinnlichkeit / uns glühende Leidenschaften stillen / in undurchdrungenen Zauberhüllen / sei jedes Wunder gleich bereit. / Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit / ins Rollen der Begebenheit / da mag dann Schmerz und Genuß / Gelingen und Verdruß / miteinender wechseln wie es kann / Nur rastlos betätigt sich der Mann.

… Von Freud ist nicht die Rede, dem Taumel weih ich mich, dem schmerzlichsten Genuß / verliebtem Haß, erquickendem Verdruß / Mein Busen, der vom Wissendrang geheilt ist, soll keinen Schmerzen sich verschließen / und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist / will ich in meinem Innern selbst genießen / mit meinem Geist das höchst und tiefste greifen / ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen / und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern / und wie sie selbst am End auch ich zerscheitern!

Ein jed Gelüst ergriff ich bei den Haaren, was nicht genügte ließ ich fahren, was mir entwischte, ließ ich ziehen. Ich habe nur begehrt und nur vollbracht, und abermals gewünscht…“) (Vers 11434f)

Um zu beweisen, daß hochgesinnte Menschen unbestechlich sind, denkt Faust sich eine Versuchsanordnung aus: Er weiht sich dem Taumel. Taumel ist: „eine sinnliche oder seelische Erregtheit oder Entzückung bei der man wie berauscht seiner Sinne nicht mehr ganz mächtig ist“ (Grimmsches Wörterbuch), „ein Erleben, das nicht durch Denken kontrolliert wird“ (Arens190).

Faust will ganz frei alles erleben, wonach es ihn verlangt, er will sich treiben lassen, er will die Impulse, Begierden und Bestrebungen so wenig wie möglich beherrschen durch Vernunft. Und dieses Taumeln will er möglichst lange aufrechterhalten. Er will nichts Bestimmtes erreichen, sondern bloß seinem Begehren zu vollem Recht verhelfen. Das Taumeln bezieht sich nicht nur auf Genüsse sondern auch auf Tätigkeiten: er will nicht nur genießen wonach ihn verlangt, sondern auch tun, wozu er gerade Lust hat, er will begehren und vollbringen. Mißlingen verpflichtet dabei zu nichts: Er bleibt nicht bei einer Sache, bis die Probleme gelöst sind und die Sache gelungen ist, sondern er hört er auf, sobald er keinen Bock mehr hat. Sinn soll nicht zum Durchhalten motivieren und Schmerz nicht zum Vermeiden.

Er strebt danach, zu taumeln? Ja was denn nun: Streben oder Taumeln? Streben hat mit Kontrolle, Sinn und Ziel zu tun, es ist das Gegenteil von Taumeln, Sich-gehen-lassen, Fallenlassen. – Willentlich Taumeln geht genauso wenig, wie willentlich Einschlafen. Wir können höchstens die Bedingungen, die das Einschlafen begünstigen, willentlich herbeiführen.

Wenn er danach strebt und darum ringt, sich dem Taumel hinzugeben, so heißt das offenbar: Taumeln widerstrebt ihm eigentlich. Was könnte ihm daran widerstreben? Die Rücksichtslosigkeit? Die Sinnlosigkeit? Die Vergeudung von Lebenszeit? Ja: Als Mensch „hohen Strebens“ muß es Faust widerstreben, die Werte zu ignorieren, mit denen wir unserer Triebhaftigkeit Grenzen setzen und sie zu sinnvollem Handeln kanalisieren. – Das Forschungsprojekt, für das er das Taumeln braucht, will er durchhalten und vollbringen, auch gegen Skrupel und Ängste sowie Gefühle von Sinnlosigkeit oder Unstimmigkeit.

Offenbar will er aber nicht alle Werte ignorieren, sonst hätte er Margarete nicht retten wollen und er hätte sich Philemon und Baucis gegenüber nicht bemüht, gerecht zu sein. Was Faust vorschwebt ist offenbar, immer gewagtere Kompromisse zwischen Trieben und Werten zu erstreben.

Taumelei ist für ihn nichts Angenehmes, aber er will das durchstehen, weil er sich davon einen Erkenntnisgewinn über das Menschsein verspricht: Taumeln und Schmachten als Selbstversuch im Rahmen eines Forschungsprogramms für strebsame, um die Wahrheit ringende Erforscher der menschlichen Existenz – ungefähr so, wie jemand, der sich seit 20 Jahren nur gesund ernährt hat, sich aus Forschungszwecken im Selbstversuch entschließt, jetzt hemmungslos alles zu essen, wonach ihn gelüstet, egal wie viel, wie süß, wie fett.

Außerdem strebt er mit ganzer Kraft danach, Hüllen zu durchdringen, die noch keiner durchdrungen hat. – Faust will mehr erleben, als der Rest der Menschheit. Er will das Äußerste erleben, was Menschen möglich ist. Er will sich anstrengen, um einen Erlebnisreichtum zu bekommen, die Menschen unter normalen Umständen nicht bekommen. (Aber an was denkt er da wohl?)

Mir scheint, Faust will mit seinem Forschungsprojekt zweierlei erweisen: Erstens: Selbst wenn jemand das Äußerste des Menschenmöglichen erlebt, bleibt ein Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Würde. – Zweitens: Die Würde ist uns Menschen so wichtig, daß nichts, was das Leben zu bieten hat, uns versöhnen kann mit den entwürdigenden Lebensbedingungen, die es uns auferlegt.

Fausts Experimentalanordnung würde jedoch gerade nicht das ganze Wohl und Weh der Menschheit abdecken: Z.B. Wie es sich anfühlt, Kinder 20 Jahre lang mit Liebe und Leitung so gut begleitet zu haben, daß sie sich gut entwickeln konnten: das kann er in einer solchen Rastlosigkeit nie erleben. Deshalb ironisiert Mephisto Fausts Haltung: Wie es sei, alle Schätze des Menschengeists auf sich gerafft zu haben, könnten die Menschen niemals objektiv wissen, immer nur subjektiv in Fantasien (Vers 1785).

Textstelleninterpretationen: „Vergebens hab ich alles Schätze des Menschengeists auf mich herbeigerafft“….

Ich vermute hier ein umgangssprachlich verkürztes Futur 2, so wie in: „Ich mach das jetzt mal, aber ich seh schon: am Ende hab ich auch nicht mehr erreicht“. – Ohne Futur 2 würde „alle Schätze des Menschengeists“ sich nur auf das beziehen, was Faust schon hat: Wissen und Gelehrsamkeit. (So Arend. Seine Paraphrase von Fausts Aussage: „Ich habe es auch schon empfunden, daß alles Wissen mich nicht gefördert hat“.) – In dem Kontext, daß Faust davon redet, alles Menschliche erleben zu wollen, und Mephisto ihm den unrealistischen Umfang dieses Programms vor Augen führt, scheint „alle Schätze des Menschengeists“ etwas anderes zu bedeuten als nur Wissen. Wieso sollte Faust auch, nachdem er als Konsequenz auf das Scheitern des Wissens ein neues Programm entworfen hat, jetzt wieder über das Scheitern des Wissens klagen?

Faust ging es, offenbar ohne daß er sich dessen explizit bewußt wurde, um mehr, als nur um sein Experiment: Er hatte offenbar die Hoffnung, damit auch – quasi als „Beifang“ – dem Unendlichen näher zu kommen als jeder andere Mensch. Und er klagt jetzt über das Scheitern dieses Teils seines Experiments: seines neuen Versuchs, sich dem Unendlichen mit Erlebnissen statt mit Wissen zu nähern! Es scheint eine Enttäuschung eigener, neuer, überraschender Art zu sein, wie die Enttäuschungen über das Zeichen des Makrokosmos oder den Erdgeist.

Und es wäre ja auch wenig sinnvoll, wenn er eben noch sagt: „Mich ekelt lange vor allem Wissen“, und sich jetzt darüber wundert, das alles Wissen ihm nichts bringt. – Zudem ist es hier keine Bestandsaufnahme: „da steh ich nun…“, sondern eine Antizipation: „wenn ich mich am Ende niedersetze…“

Futur zwei ist sprachlich umständlich und es ist typisch für Verse, daß Auslassungen und Verkürzungen notwendig werden. Ich würde mich nicht scheuen, in einer Aufführung Faust sagen zu lassen: „Vergebens werden alle Schätze des Menschengeists auf mich herbeigerafft.“

Textstelleninterpretation: „Der Menschheit Krone zu erringen“:

Was Faust antreibt, ist nicht der Wunsch, besser zu sein als andere Menschen, sondern das Menschsein zu überhöhen, das Alleräußerste zu erleben und zu werden, was einem Menschen möglich ist.

Es geht nicht um die Lösung eines lebensgeschichtlich bedingten Selbstwertproblems. Sondern es stellt sich einmal mehr die grundsätzliche Frage nach der menschlichen Würde: Faust hat sich mit seiner Experimentalanordnung ausgedacht, wie er es schaffen könnte, nicht einem Wurme zu gleichen – und nun sagt Mephisto: Nee, das geht so nicht.

Und es zeigt Fausts Stärke, daß er zwar aus allen Wolken fällt („Was bin ich denn…“) , aber schnell begreift: Selbst als der denkbar größte menschliche Experte für die menschliche Existenz bleibt er im Gefängnis der menschlichen Konstitution, der natürlichen Bedingtheit.

Textstelleninterpretation: Das Drüben kann mich wenig kümmern.

Dieses Wort Fausts kann ich nicht nachvollziehen: Er wird „drüben“ für ewig Mephistos Knecht sein! Und das ist ihm egal?

Ich finde es eigenartig, daß kaum ein Interpret sich hier wundert. Faust kann zwar nicht wissen, ob und wie man nach dem Tod leiden kann, das ist richtig. Aber Dienen ohne Rast und Ruh: das klingt in keiner Weise leidensfrei – dienen ist nicht toll, ruhe- und rastlos dienen noch weniger.

Vielleicht lügt Faust hier, damit Mephisto nicht argwöhnt, Faust sei sich sicher, einen Trick zu finden, Mephisto zu entgehen: Wenn Faust sich nicht davor fürchtet, was Mephisto nach dem Tod mit ihm macht, kann sich Mephisto sicher sein, daß Faust ihn nicht austrickst – so wie die in zahllosen Sagen und Schwänken überlieferten Kollegen Mephistos, die von findigen Menschen geprellt wurden.

Einen Sinn gibt Fausts Gleichgültigkeit gegen das „Drüben“ höchstens, wenn wir Fausts Ausspruch: „Wie ich beharre, bin ich Knecht, ob dein, was frag ich oder wessen“ als eine vergleichende Bewertung des hiesigen Lebens auffassen: daß Faust, falls er es nicht schafft, seine Selbstbestimmung gegen seine Naturbestimmtheit durchzusetzen, sich schon hier wie in der Hölle fühlt, so daß er nicht glaubt, daß es schlimmer werden könnte. – Allerdings scheint es dann eher um einen kurzsichtigen trotzigen Selbstbestrafungsimpuls zu handeln: „Wenn ich es nicht schaffe, so selbstbestimmt zu sein, wie ich gerne wäre, ist mir sowieso alles Scheißegal, dann habe ich auch nichts besseres verdient als die Hölle!“

Der Faust-Pfad:
Deutende Inhaltsangabe
Wette und Weltschmerz – die Aktualität von Goethes „Faust“
Prolog im Himmel
Das Faustische
Fausts Erlebnisse von Mangel und ihre Aktualität
Der Konflikt zwischen Würde und Wirklichkeit
Fausts Experimentalanordnung 
Welche Absicht verbindet Faust mit der Wette? 
Auerbachs Keller
Hexenküche
Faust und Margarete
Urlaubsparadis und Todeszelle – der Übergang von Faust 1 zu Faust 2
Inhaltsangabe 1. Akt
Thronsaal – Goethes Formel für manipulative Finanzwirtschaft
Mummenschanz: Beginn und Plutusszene
Inhaltsangabe 2. Akt
Inhaltsangabe 3. Akt
Der Helenaakt – kommentierende Inhaltsangabe
Inhaltsangabe 4. Akt
Inhaltsangabe 5. Akt
Faust und #metoo
Faustische Verblendung (Faust und Sorge)
Epilog