Wette und Weltschmerz: Die Aktualität von Goethes „Faust“

Goethes „Faust“ ist ein Drama der Sehnsucht und der Ausbruchsversuche1.

In der Figur des Faust schafft Goethe sich gleichsam eine Lupe, die ihm ermöglicht, etwas sichtbar zu machen, unter dem wir alle in irgendeiner Form leiden.

(Zu Recht werden Verallgemeinerungen heutzutage sehr kritisch gesehen: „Faust“, ist das nicht das Drama eines alten weißen Mannes? Ist es nicht Kolonialismus, zu behaupten, alle Menschen müßten die gleichen Probleme haben wie alte weiße Männer? – Doch eine Behauptung heißt nicht mehr als: „Schau doch mal, ob du damit was anfangen kannst, es gibt gute Gründe dafür, daß da was dran sein könnte.“ – Ich denke, es könnte sich lohnen, zu untersuchen, ob es sich bei den Problemen, um die es im Faust geht, um allgemein menschliche Probleme handelt, die in anderen Lebensformen bloß auf andere Weise definiert und gelöst wurden – z.B. durch Vorstellungen von guten und sündhaften Einstellungen zum Leben und Belohnung oder Bestrafung im Jenseits.)

Die Themen des Dramas haben an Aktualität nichts verloren: Mangel an Wissen und Wirkung, Umgang mit unerfüllten Sehnsüchten, Zweifel am Sinn unserer Existenz. Hinzu kommen Themen wie: manipulative Finanzwirtschaft (Kaiserhof), virtuelle Realität (Gang zu den „Müttern“), künstliche Intelligenz (Homunkulus), Helikoptereltern (Arkadien) und Autokratie („ein Geist für tausend Hände“, 5.Akt). – Die Homunkulusepisode ist übrigens eines der frühesten Beispiele für Science-Fiction (nicht zufällig etwa zeitgleich mit Mary Shelleys „Frankenstein“).

Das Drama stellt die Frage: Wie können wir ohne Selbstbetrug und Teufelspakt unseren Frieden schließen mit einem Leben, das unsere Sehnsüchte nach Sinn, Erfolg, Faszination und Entgrenzung so wenig erfüllt und stattdessen mit soviel Entbehrung, Ohnmacht, Enttäuschung, Not, Schmerz und Widerspruch aufwartet. (Selbstbetrug wäre z.B. Religion, Esoterik, Größenphantasien, oder sich das Leben schönreden statt sich seine Konflikte zur Aufgabe zu machen. Teufelspakte wären z.B.: Konsum von Suchtmitteln, Flucht in PC-Spiele, oder Mitmachen bei fragwürdigen Unternehmungen, die mit skrupellosen Mitteln schnellen Erfolg versprechen, wie z.B. bei Nazis oder Mafia oder manchen Firmen der Finanzwirtschaft.)

Das Drama erzeugt einen Spannungsbogen zwischen der Ausgangsfrage: ob der Mensch ein mißlungenes Geschöpf ist, und der Antwort, daß das Böse in uns mit seiner Haltlosigkeit sich selbst zum Spott wird, und wir ein Vermögen zum Gelingen des Lebens in uns tragen, das im Drama sinnbildlich als „weiblich“ zum Ausdruck gebracht wird.

Anm.1 So auch Albrecht Schöne, Kommentar zu Goethes Faust, Seiten 201f; 207.

Die weiteren Artikel zur Aktualität des Dramas:

Das Faustische

Fausts Problem

Faustische Verblendung

Faust und #MeToo

Faust und der Wille zur Wirkung

Diskussion: Politisches Handeln zwischen Faustischer Verblendung und
Schildbürgerstreich?

Weiterlesen: Übersicht über das Drama: Deutende Interpretation