Wette und Weltschmerz: Die Aktualität von Goethes „Faust“

Goethes „Faust“ ist ein Drama der Sehnsucht und der Ausbruchsversuche1.

In der Figur des Faust schafft Goethe sich gleichsam eine Lupe, die ihm ermöglicht, etwas sichtbar zu machen, unter dem wir alle in irgendeiner Form leiden.2

Die Themen des Dramas haben an Aktualität nichts verloren: Mangel an Wissen und Wirkung, Umgang mit unerfüllten Sehnsüchten, Zweifel am Sinn unserer Existenz. Hinzu kommen Themen wie: manipulative Finanzwirtschaft (Kaiserhof), virtuelle Realität (Gang zu den „Müttern“), künstliche Intelligenz (Homunkulus), Helikoptereltern (Arkadien) und Autokratie („ein Geist für tausend Hände“, 5.Akt). – Die Homunkulusepisode ist übrigens eines der frühesten Beispiele für Science-Fiction (nicht zufällig etwa zeitgleich mit Mary Shelleys „Frankenstein“).

Das Drama gibt die Frage auf: Wie können wir ohne Selbstbetrug und Teufelspakt unseren Frieden schließen mit einem Leben, das unsere Sehnsüchte nach Sinn, Erfolg, Faszination und Entgrenzung so wenig erfüllt und stattdessen mit soviel Entbehrung, Ohnmacht, Enttäuschung, Not, Schmerz und Widerspruch aufwartet?

Selbstbetrug wäre z.B. Flucht in Religion, Esoterik oder Größenphantasien, oder sich das Leben schönreden statt sich seine Konflikte zur Aufgabe zu machen. – Teufelspakte wären z.B.: Konsum von Suchtmitteln, Flucht in PC-Spiele, oder Mitmachen bei fragwürdigen Unternehmungen, die mit skrupellosen Mitteln schnellen Erfolg versprechen, wie z.B. bei Nazis oder Mafia oder manchen Firmen der Finanzwirtschaft. [Dazu eine unserer „Parallelgeschichten“: Onkel Walters Höllenfahrt (Lesezeit 4 Minuten)]

Das Drama erzeugt einen Spannungsbogen zwischen der Ausgangsfrage: ob der Mensch ein mißlungenes Geschöpf ist, und der Antwort, daß das Böse in uns mit seiner Haltlosigkeit sich selbst zum Spott wird, und wir ein Vermögen zum Gelingen des Lebens in uns tragen, das im Drama sinnbildlich als „weiblich“ zum Ausdruck gebracht wird.

Nachweise

(1) So auch Albrecht Schöne, Kommentar zu Goethes Faust, S.  201f; 207.

(2) Ähnlich Hans Joachim Schrimpf: Faust sei eine „poetisch konstruierte Figur, mit der ein Experiment unternommen wird. … Das Experiment … zeigt uns das Modell eines Menschen, des neuzeitlichen Menschen, der voraussetzungslos, jenseits von Überlieferung, Kirche und Autoritäten, von sich aus und ganz auf sich selbst gestellt die Wahrheit der Dinge, die Wahrheit von Natur und Menschenleben in Erkenntnis und Liebe unmittelbar ergreifen will „. (Schrimpf, H.J., Goethe Faust, In: Müller-Michaels, Harro (Hg.), Deutsche Dramen Bd. 1, Weinheim 1994³ (Beltz), S. 87)

Die Probleme des modernen Menschen sind allerdings Probleme, die sich den Menschen immer schon gestellt haben – Probleme, für die die Religionen eine „naturwüchsige“ Lösung waren. Die modernen Menschen haben nur das Problem, daß sie für diese Probleme keine Lösung mehr haben, weil sie an Religion und Tradition nicht mehr glauben können.
(Zu Recht werden Verallgemeinerungen heutzutage kritisch gesehen: „Faust“, ist das nicht bloß das Drama eines alten weißen Mannes? – Doch eine Behauptung heißt nicht mehr als: „Schau doch mal, ob du damit was anfangen kannst, es gibt gute Gründe dafür, daß da was dran sein könnte.“)

Weiterlesen auf dem Faust-Pfad: Prolog im Himmel

 Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel)

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