Der Konflikt zwischen Würde und Wirklichkeit

Inhalt:
(1) Der Konflikt zwischen Würde und Wirklichkeit:
– Der Selbstmordversuch (Lesezeit 2 Minuten)
– Die Beobachterposition
(Interpretation der „Fluchlitanei“, Lesezeit 2 Minuten)
(2) Textstelleninterpretation: „Was willst du armer Teufel geben“ (Lesezeit 5 Minuten)
(3) Nachsatz: Deutungsdiskussion (Lesezeit 3 Minuten)

(1.1) Der Selbstmordversuch

Faust erlebt das Menschsein so, daß Menschen eigentlich befähigt sein müßten, ihre tierhafte Ausstattung zu überwinden. Er findet, Menschen müßten eine „freie Kraft“ sein, die „durch die Adern der Natur“ fließt und „schaffend“ „Götterleben“ genießt. Faust fühlt sich wie ein zum Tier verhexter Engel.

Deshalb glaubt er, seine Würde nur dadurch wahren zu können, daß er sich umbringt. – Beim Selbstmordversuch erschlafft Faust: Er findet es heldenhafter, die Figuren des Spiels umzuschmeißen, statt zu tun, was noch getan werden kann.

Die Glocken der Osternacht unterziehen Faust einer Realitätsprüfung: Erinnerungen steigen auf, die lebensbejahende Gefühle auslösen, an die Faust gar nicht mehr gedacht hat. Das hält ihn am Leben.

Später, in der Fluchlitanei, wird er diese Gefühle anders bewerten: als betrügerisch. Doch dabei erinnert er sie nur. Er macht sich nicht klar, daß wir Gefühle nicht bewerten können, wenn wir sie nicht fühlen: Wie drängend ein Verlangen oder wie schmerzhaft ein Verlust tatsächlich ist, wissen wir nur, wenn wir es gerade erleben. Die Stärke, in der ein Gefühl beglückt, schmerzt oder treibt, ist eine Information, die sich über das Erleben hinaus nicht verläßlich erhalten läßt. Es gibt für Gefühle kein fotografisches Gedächtnis. Daher wundern wir uns beim Wiedererleben eines Gefühls oft, seine Macht ist jedesmal überraschend.  Wir machen uns über unsere Gefühle Illusionen solange wir sie nicht fühlen. Ob wir uns an ein Gefühl richtig erinnern, kann nur durch das Fühlen selbst überprüft werden.

Doch gleichzeitig ist die Informationsquelle der Gefühle auch eine Illusionsquelle, weil jedes Gefühl die Aufmerksamkeit ganz beansprucht und uns abschneidet von anderen Gefühlen: Was uns andere Gefühle in dieser Situation zu sagen hätten, können wir höchstens noch erinnern aber nicht spüren, also unsere Erinnerung nicht überprüfen. Jede Stimmung ist ebenso informativ wie illusorisch, ebenso wahr wie trügerisch.

Das hätte Faust erkennen und Schlüsse daraus ziehen können: Als er Mephisto vom Sterben vorschwärmt, erinnert Mephisto ihn an das nicht eingenommene Gift. Hier hätte Faust sich fragen können: „Warum fand ich das Umbringen in jener Nacht so überzeugend und jetzt nicht mehr, obwohl ich dem Teufel gerade klarmache, wieviel gedanklich für den Tod spricht?“ Dann verflucht er die Frühlingsgefühle, die ihn vom Selbstmord abgehalten haben, statt sich zu fragen: „Wenn ich die jetzt so bescheuert finde, wie haben sie es dann geschafft, mich vom Umbringen abzuhalten?“

Faust hätte hier erkennen können: Beide Stimmungen hatten ihren Trug und ihre Wahrheit. – Wenn er im Nachhinein von der Todesstimmung schwärmt und die Lebensstimmung verflucht, verkennt er seine Gefühle und ist erneut in Gefahr, ungünstige Entscheidungen zu treffen.

 

(1.2) Die Beobachterposition (Interpretation der Fluchlitanei, Verse 1587ff)

Fausts Bestandsaufnahme war vernichtend, und seine Fluchtversuche sind gescheitert: Die Studien haben nichts gebracht, die Alchemie erwies sich als Illusion, der Erdgeist verhöhnte ihn, das Gift, von dem Faust sich „neue Sphären reiner Tätigkeit“ erhoffte, brachte er nicht über die Lippen. Enttäuscht und ratlos spaltet Faust in seiner Fluchlitanei die menschliche Existenz in zwei Teile: Bewußtsein und Bedürfnis.

Mit dem Bewußtsein beobachten und bewerten wir unsere tierhaften Lebensvollzüge, die sich erschöpfen in Ruhm-, Macht- und Besitzstreben, Liebesleben und Familiengründung – nichts als Streben nach Lust und Vermeiden von Schmerz: ein sklavisches Bedienen der Bedürftigkeit, die die Natur uns auferlegt hat. Sie hat uns nicht gefragt, mit welchen Anlagen, Grenzen und Bedürfnissen wir ausgestattet sein wollen, wir hatten keine Möglichkeit mitzubestimmen, wir konnten uns nicht mal unser Geschlecht aussuchen. Wie wir uns vorfinden, können wir nur hinnehmen.

Der Natur geht es nicht um das Wohl und Wehe Einzelner, sondern sie verbindet mit den Individuen allein den Zweck der Reproduktion des Genoms. Sie behandelt uns nicht nach dem wichtigsten Grundsatz unserer Ethik: daß wir nie als Mittel zu fremden Zwecken mißbraucht werden dürfen (Kant, Grundlegung zum Metaphysik der Sitten).

Das Leben auf die Befriedigung unserer Bedürfnisse auszurichten ist für Faust daher eine Selbstentwürdigung, ein selbstbetrügerisches Sich-Abspeisen-Lassen mit den Belohnungen, die die Natur uns gewährt, wenn wir die Ausstattung, die sie uns verpaßt hat, brav annehmen und ihre Forderungen erfüllen. Das erlebt Faust als knechtisch.

Würdelos ist: Unter Bedingungen zu leben, unter denen wir Fähigkeiten nicht entfalten, Ideen nicht realisieren, Sehnsüchte nicht stillen und oft genug nicht mal Notlagen abwenden können. Würdelos ist: Fremdbestimmt zu sein und Ohnmacht zu erleben. – Unsere Würde fordert möglichst große Selbstbestimmung, möglichst große Emanzipation von den Trieben und Grenzen, die die Natur uns auferlegt, die uns so verletzbar und unzureichend machen und denen wir sklavisch verpflichtet sind.

In der Wette mit dem Teufel macht Faust sich zum Versuchskaninchen, um sich selbst etwas zu beweisen zur Vergewisserung seiner Würde: daß ein hochstrebender Mensch sich von keinem Glück der Welt bestechen läßt, die Beantwortung der Fragen, wie wir unsere Würde wahren können und was wir vom Dasein zu halten haben, als zweitrangig herunterzustufen. Faust will damit zeigen, daß wir Menschen keine Marionetten der Natur sind sondern mit unserem Dasein unseren eigenen Zweck verbinden.

Faust arbeitet sich ab an der Frage: Hat es das Leben verdient, ausgehalten und bejaht zu werden? – Das Leben bejahen heißt: Es ist nicht egal, wie ich mit meinem Leben und dem anderer umgehe, weil das Leben Sinn und Wert hat.

Aber hat es das? Und wenn ja: welchen? – Wie sieht ein Leben aus, das nicht nur unseren Bedürfnissen gerecht wird, sondern auch unserem Bewußtsein, unseren menschlichen Möglichkeiten: die Welt zu erkennen, die Sinnfrage zu stellen, die Bedeutung des Leids anderer Menschen zu erfassen, sowie von uns selbst und unseren unmittelbaren Triebzielen absehen zu können, um für die eigene Zukunft und die der andern zu sorgen? – Es scheint, als ob Faust erweisen will: Ein reifer Mensch könne durch keine noch so grandiose Erfüllung seiner tiernahen Sehnsüchte dazu bestochen werden, all diesen Fragen abzuschwören und zu sagen: „Solange mein Tiersein sich so Klasse anfühlt ist mir mein Menschsein scheißegal“. – Über einen derart mit Lust, Rang, Geld und Macht, mit allem Glück unserer Tierheit bestochenen Menschen würde Faust bloß denken: „Das arme Schwein“.

Faust erlebt es als gewiß, daß unsere naturgegebene Fremdbestimmtheit und Begrenztheit unserer Würde widerspricht, und daß kein Genuß hochgesinnte Menschen befrieden kann bezüglich des Haders mit unserem Los als in Affen verhexte Engel.

Er glaubt: Das menschliche Leben kann bloß scheitern, selbst wenn jemand alles erlebt, was Menschen erleben können. – (Ein Vorteil von Fausts Überzeugung ist: Wenn das Leben grundsätzlich nur scheitern kann, dann braucht er sich auch nicht mehr selbst anzuklagen für das eigene Mißlingen, dann ist die Schöpfung schuld, nicht er.)

 

(2) Textstellen-Interpretation: „Doch hast Du Speise, die nicht sättigt…“

„Was willst du armer Teufel geben?
Ward eines Menschen Geist in seinem hohen Streben
Von Deinesgleichen je gefaßt ?
Doch hast du Speise, die nicht sättigt, hast
Du rotes Gold, das ohne Rast,
Quecksilber gleich, dir in der Hand zerrinnt,
Ein Spiel, bei dem man nie gewinnt,
Ein Mädchen, daß an meiner Brust
Mit Äugeln schon dem Nachbar sich verbindet,
Der Ehre schöne Götterlust,
Die, wie ein Meteor, verschwindet.
Zeig mir die Frucht, die fault, eh man sie bricht
Und Bäume, die sich täglich neu begrünen“

Zweihundert Jahre Interpretation haben keine überzeugende Antwort gefunden, was Goethe hier gemeint haben könnte. Die Experten widersprechen sich sogar bezüglich der Interpunktion.

Irritierend an Fausts Aufzählung ist: Was wäre an diesen Gaben wünschenswert? Es handelt sich allesamt um Enttäuschungen, die wir nur allzuoft erleben: Geld, das verlorengeht, Liebe die keine ist, Ruhm der schnell verfliegt. Dafür braucht es keinen Pakt mit dem Teufel.

Daher vermuten viele Interpreten, daß Faust hier die Glücksgüter, mit denen der Teufel uns bestechen will, entwertet, im Sinne von: „Du hast ja doch bloß Speise, die nicht sättigt“. Sie machen für ihre Lesart geltend, daß hinter den Versen in allen Textfassungen zu Goethes Lebzeiten ein Punkt steht, kein Fragezeichen, wie in den späteren Ausgaben. Es handle sich also um eine Feststellung, nicht um eine Herausforderung (Schöne-Kommentar, S. 259).

Aber es wäre seltsam, einen Aussagesatz mit: „Doch hast du…“ zu beginnen. – Entscheidend ist jedoch, wie es nach dem Punkt weitergeht: „Zeig mir…“. Sinngemäß wird gesagt: „Deine Gaben sind unter meinem Niveau („was willst du armer Teufel geben“), doch wenn du wirklich glaubst, du kannst mir was bieten, dann zeig mir doch das und das, dann gebe ich zu, daß ich dich verkannt habe“. – Wenn Fausts Aufzählung eine Feststellung wäre, würde Unsinn entstehen: „Du hast doch bloß Spiele, bei denen man nie gewinnt. Verschaff mir stattdessen doch mal eine Frucht, die fault, eh man sie bricht!“

Es scheint vielmehr, daß Faust in diesen Versen die Vorstellung des Teufels, Menschen wollten bloß viel Sex, Geld und Macht, provokativ auf den Kopf stellt, und behauptet, daß es für hochgesinnte Menschen eher ein Geschenk sei, keinen Erfolg, keinen Genuß, keine Befriedigung zu kriegen.

Nachdem Faust auf das Lock- und Gaukelwerk von Ruhm, Geld und Liebe geflucht hat, verlangt er hier nach „Gaben“, die nicht verlocken und gaukeln. Hochgesinnte würden sich zum Schutz vor den Versuchungen ihrer animalischen Triebausstattung eher eine Speise wünschen die nicht sättigt, und Liebe, die von Beginn an unerfüllt bleibt, weil Sättigung und Erfüllung sie bestechen könnten, ihr Glück im Genuß zu suchen statt im Schaffen, und weil sie wegen ihres Schaffens auf Genuß auch gar nicht angewiesen sind. Bei einem Spiel, bei dem man nie gewinnt, kommt es auf’s Spielen an, nicht auf’s Gewinnen.

Eine unablässige Folge von Befriedigungen, die keine sind, weil sie sofort wieder vorbei sind, führt dazu, daß die davon Betroffenen ihr Glück in etwas anderem finden müssen als im Genuß: Die Tat selbst wird dann zum Wert, der Lohn wird entbehrlich. (Faust später: „Die Tat ist alles, nichts der Ruhm“).

Die animalischen Triebbefriedigungen, die Teufel zu bieten haben, sind für Hochstrebende nur Störquellen, die von Faust aufgezählten „Schätze“ dagegen eine willkommene Erleichterung,  eine Art „Stimulus-Kontrolle“ – so wie das Smartfon abzugeben, um sich besser konzentrieren zu können.

(Exemplarisch für diesen Gedanken ist eine Geschichte Nicolai Gogols: „Das Portrait“: Ein erfolgloser junger Maler hat mit Hilfe des Teufels plötzlich Erfolg („Likes“) und wiederholt fortan nur noch, womit er Erfolg hat, statt sich weiterzuentwickeln. Hätte er keinen derart bestechenden Erfolg gehabt, wäre seine Motivation, sich zu vervollkommnen, größer gewesen. Der Erfolg hätte ihn nicht so leicht fixiert, und er hätte später nicht auf ein mißlungenes Künstlerleben zurückblicken zu müssen.)

„Zeig mir die Frucht, die fault, eh man sie bricht!“: Solche Früchte sind von der Schöpfung nicht vorgesehen. Es geht bei Fausts Aufzählung um einen widernatürlichen Verlauf: Die Natur sieht vor: nach einer erfolgreichen Leistung soll Genuß und Ruhe eintreten, Erfolge und Güter sollen eine zeitlang vorhalten. – Faust entwirft ein Szenario, wo nichts vorhält, wo es nur Zerfall gibt, wo es ständig eine neue Zufuhr geben müßte, wie bei einem Skelett, das Wasser trinkt, ja, wo die Leistung bereits vor dem Erfolg zerfällt und es nicht mal den Ansatz von Genuß gibt (ein Spiel bei dem man nie gewinnt, eine Frucht, die fault, eh man sie bricht).

Faust erkennt den natürlichen Rhythmus des Lebens nicht mehr an. Das hohe Streben bedeutet: dem spezifisch Menschlichen im Leben gerecht zu werden, statt ein Leben wie die Tiere zu führen, ein Leben, das sich erschöpft im natürlichen, immerfort sich wiederholenden Spannungsbogen von Angestacheltwerden, Leisten, Genießen und Erholen.

Da macht Faust nicht mehr mit, er steigt aus, wie die Aussteiger am Schluß des Dramas (die Eremiten). Er sagt der Natur: „Ich bin nicht damit einverstanden, wie du mich vereinnahmst und zu deinen Zwecken zu treiben versuchst! Ich erkenne den Sinn dieses Getreibes nicht mehr an. Ich werde deine Bestechungsversuche verlachen, ich werde mit den unabänderlichen Bedingungen des Lebens meinen eigenen Sinn verbinden!“

Faust wird jedoch nicht im Ernst glauben, Teufel könnten die aufgezählten Gaben des Verdrusses nicht beschaffen. – Im Hinblick auf Fausts spätere Klarstellung: „von Freud ist nicht die Rede“, sagt Faust dem Teufel soetwas wie: „Du machst dir völlig falsche Vorstellungen. Was du zu bieten hast, kann ich nicht brauchen, es sei denn zweckentfremdet.“

Mephisto macht mit Faust eine Realitätsprüfung: Will sie nicht sofort zusammenbrechen, muß selbst die Rebellion gegen die Natur den Anforderungen der Natur gerecht werden: „Die Zeit kommt auch heran, wo wir was Gutes in Ruhe schmausen mögen.“ – Der Lebensrhythmus von Mühe und Erholung hat seinen Sinn. Und hier hofft Mephisto offenbar bis zuletzt auf ein Einfallstor für den Teufel: Er will in den biologisch notwendigen Ruhepausen Genüsse herbeischaffen, die so bestechend sind, daß sie Fausts Rastlosigkeit irgendwann den Wind aus den Segeln nehmen.

In der Inszenierung käme es darauf an, daß Fausts Provokation so gut nachvollziehbar und deutlich wird, daß die Zuschauenden intuitiv verstehen, was gemeint ist. – Vielleicht wäre es jedoch besser, die Aufzählung zu streichen, um Irritationen vorzubeugen.

Zur Interpunktion: Performativ gesehen handelt es sich bei der Aufzählung um einen Satzbruch (Anakoluth), wie er typisch ist für das Sprechen im Alltag, in dem sich die Gedanken erst bilden:   der Satz wird anders fortgesetzt als angefangen. – Daher müßte statt Punkt eigentlich ein Gedankenstrich stehen! – Ich vermute, es ist dieser Satzbruch-Charakter, der das Fragezeichen demotivierte, und der Punkt sollte nur eine Gliederungsfunktion haben und kein Satzverwendungszeichen sein.

Möglicherweise würde es sich lohnen, wenn Germanisten mit Schauspielern und Regisseuren zusammenarbeiteten. Es ist fraglich, wie weit bei Sprechtexten die gleichen exegetischen Methoden wie bei Lesetexten hinreichend sind, um die Bedeutung zu erfassen.

(3) Nachsatz: Deutungsdiskussion

Friedrich/Scheidhauer meinen, Faust frage, „ob Mephisto ihm ein Genußleben verschaffen kann, das ihn nie zur Besinnung kommen lassen und somit auch von selbstquälerischen Gedanken befreien wird“. Außerdem vermuten sie, Faust wolle „Augenblicksgenüsse, denen jedesmal unmittelbar Ernüchterung folgt und die deswegen so rasch aneinandergereiht werden müssen, damit der aufsteigende Ekel durch neuen Sinnenrausch erstickt wird. (Friedrich/Scheidhauer 184f) – Doch es wäre seltsam, wenn Faust, der ein paar Verse vorher Lock- und Gaukelwerk verflucht hat, hier plötzlich einen Pakt mit dem Teufel will, um so zugeballert zu werden von Reizen, daß er den Ekel durch das Zugeballertwerden nicht mehr spürt. Und vor allem: daß diese überdrehte Gier für hochstrebende Menschen eine Alternative zu den üblichen Teufelsschätzen sein könnte.

Arens paraphrasiert im Sinne von Friedrich/Scheithauer Fausts Aufzählung so: „Kannst du Genüsse bieten, die schon im nächsten Augenblick keine mehr sind, ja schon im selben Augenblick sich verkehren, so daß kein Überdruß, keine Gewöhnung und keine Besinnung eintreten kann, sondern man immerfort gleich nach dem nächsten Genuß greift?“ – Nur: Wenn Arens „Spiel“ als „Glücksspiel“ versteht (was nur eine Spekulation ist) dann böte ein Spiel bei dem man nie gewinnt, nicht mal einen Genuß. Und es ist die Frage ob Glücksspiele, die einen nie gewinnen lassen, wirklich immer wieder gespielt oder nicht vielmehr schnell witzlos werden, also keinen Reiz mehr darstellen, der die Aufmerksamkeit von quälenden Gedanken abziehen kann. Ebenso: Früchte, die reif vom Baum blinken und schon beim Pflücken faul sind, so daß man immer neue greifen muß: dabei ginge es immerfort nur um die Hoffnung auf Erfüllung, aber die Erfüllung fiele regelmäßig aus. Das wäre eben nicht die ununterbrochene Folge von Reiz und Genuß, die Arens hier für Fausts Intention hält.

Friedrich/Scheithauer müssen dementsprechend annehmen, „eine Frucht die fault eh man sie bricht“ meine „eine zwar noch genießbare aber innerlich faule Frucht“. Ich frage mich, wie sie darauf kommen, daß eine Frucht, die fault, eh man sie bricht, noch genießbar sei.

Fraglich wäre auch, daß ein Teufel solche Gaben nicht beschaffen können solle. Arens meint lapidar: Soetwas gebe es auf Erden nicht,daher kanns der Teufel nicht.

Schöne argumentiert mit der Interpunktion: Er hält den Punkt für richtig und meint, es handele sich um eine „höhnende Feststellungsrede“: „Du armer Teufel, du hast ja doch bloß Speise, die nicht sättigt“. – Die Aufforderung „Zeig mir…“ versteht Schöne dann als „verzweifelt-resignative Aufforderung, ihm das zu bestätigen, Mephisto solle sie ihm nur zeigen, die Frucht, die fault eh man sie bricht“. (Offenbar meint Schöne das im Sinne von: „Versteck sie nicht länger vor mir, deine faulen Früchte, zeig sie nur!“) – Aber wäre diese rein rhetorische Aufforderung ein „Auftrag“? (Mephisto: „Ein solcher Auftrag schreckt mich nicht“.) Auch das wäre sprachlich merkwürdig unscharf. „Auftrag“ bezieht sich doch wohl eher darauf, das zu verschaffen, was Faust aufzählt, als bloß vorzuzeigen, was der Teufel hinter seinem Rücken verbirgt.

Noch sinnloser erschiene Mephistos Nachsatz: „Mit solchen Schätzen kann ich dienen“. Hä? Faust sagt: „Du hast ja doch bloß Speise die nicht sättigt“ und Mephisto erwidert: „Mit solchen Schätzen kann ich dienen“? Auch hier könnten wir natürlich etwas hineinparaphrasieren, etwa: „Gut erkannt, ja, das ist genau die Art von Schätzen, mit denen ich dienen kann!“ – Aber steht das da?

Und wie würde das zum Folgevers passen: „Doch mein Freund, die Zeit kommt auch heran, wo wir was Gutes in Ruhe schmausen mögen“ (also, wo wir Speise haben wollen, die sättigt)? Mephistos Erwiderung impliziert, daß Faust „Gaben“ aufgezählt hat, die genau das: Etwas Gutes in Ruhe Schmausen, unmöglich machen.

Was für einen Sinn gäbe Schönes Lesart: Jemand will Speise verkaufen, die nicht sättigt, der Käufer entdeckt das und lehnt die Ware deshalb ab. Der Verkäufer gibt daraufhin auch zu: „Gut erkannt, ja, die sättigt nicht“, und fügt an: „Doch irgendwann willst du genau das: gesättigt sein!“ Und der Käufer darauf: „Nee, gerade das will ich nicht, niemals, was wetten wir!“

Vielleicht könnte man trotz allem die Passage so lesen wie Schöne es vorschlägt. Doch es wäre für mich ein größeres Wunder, wenn Goethe es nicht geschafft hätte, eine solche Intention weniger sprachlich verquer zum Ausdruck zu bringen, weniger uneindeutig und auf falsche Fährten führend, als daß er ein falsches Satzzeichen übersehen haben könnte.

Ein letzter Einwand: Schöne schreibt richtig: Mit dieser Aufzählung „trügerisch-vergänglicher wertloser Teufelsgaben“ würde Faust seine Fluchlitanei wiederholen. Doch dann würde der Text auf der Stelle treten. Auch das halte ich bei Goethe für unwahrscheinlich: Wiederholungen können gestrichen werden. – Es wäre interessanter, zu fragen, was diese Passage an Neuem zu bieten haben könnte! Sie ist das Bindeglied zwischen dem Verfluchen von Lock- und Gaukelwerk und dem freudlosen Sich-dem-Taumel-weihen um das Scheitern des menschlichen Lebens zu erweisen.

Ich würde in einer Inszenierung die Verse so betonen und ändern:

… – doch – hast du Speise, die nicht sättigt? [Pause]. Hast du rotes Gold, das quecksilbergleich dir in der Hand zerrinnt? – Ein Spiel, bei dem man nie gewinnt? – Ein Mädchen, das an meiner Brust mit Äugeln schon dem Nachbarn sich verbindet? – Ehre, die schöne Götterlust, die wie ne Sternschnuppe sofort wieder verschwindet? – Zeig mir die Frucht, die fault, ehe man sie bricht! Und Bäume, die sich täglich neu begrünen!

In der Wahl zwischen zwei Irritationen wähle ich diejenige, die das Textverständnis erhöht. Der Vers mit der Götterlust ist hoch mißverständlich: Mit „Meteor“ assoziiere ich etwas astronomisch Großartiges. Gemeint ist aber eine Sternschnuppe. Und es geht im Vers um Ehre, nicht um Götterlust. Der Genetiv verschleiert das aber. Und es geht nicht um eine Ehre die bloß schnell verschwindet – das könnte auch eine sein, die vor dem Verschwinden lange gewährt hat – sondern um eine Ehre, die sofort nach dem Auftauchen wieder verschwindet – eben wie eine Sternschnuppe. – Bei einem derart mißverständlichen Vers habe ich keine Skrupel, so rigoros einzugreifen wie für das unmittelbare mißverständnisfreie Verständnis nötig.

Literatur
Theodor Friedrich, Lothar J. Scheithauer, Kommentar zu Goethes Faust, Stuttgart 1974 (Reclam)
Arens, Hans, Kommentar zu Goethes Faust I. Heidelberg 1982
Schöne, Albrecht, Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte und Kommentare, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1994,

Weiterlesen: Der nächste Abschnitt auf dem „Faust-Pfad“: Fausts Experimentalanordnung

Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel)

Eine „Parallelgeschichte“ zum Verständnis des Teufelspakts: „Onkel Walters Höllenfahrt

Eine m.E. fragwürdige Deutung der Wette zwischen Faust und Teufel bietet Eibl an: https://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/goethe/faust_eibl.pdf

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert