Initiative zur Entstaubung klassischer Kunstwerke

Kathedralen stehen mitten in der Stadt und ihre Türen sind offen. Beethovens Neunte oder Goethes Faust scheinen wie ein Wüstengebirge: fern und unzugänglich. Doch das ist nur Schein.

Schuld sind die Bildungsbürger. Sie brauchten die Kunst, um sich damit auszustaffieren. Deshalb mußte Kunst „ganz hoch“ und „ganz tief“ sein, ganz hehr und ganz schwer, nicht von jedermann und jederfrau erreichbar. Die Kunstwerke wurden überhöht und mystifiziert, damit die Bildungsbürger sich für was Besseres halten konnten. Bildungsbürger lassen die Kirche nicht im Dorf: Sonst könnte da ja jeder rein!  – Ein riesiges Mißverständnis entstand.

Bezeichnend dafür ist eine Aussage der argentinischen Pianistin Martha Argerich: Erst ihr zweiter Lehrer, Friedrich Gulda (ein unkonventioneller Wiener Top-Pianist), hätte ihr gezeigt, wieviel Humor in der Musik der Wiener Klassik gewesen sei. – Humor in klassischen Kunstwerken? Das war offensichtlich nicht vereinbar mit der Vorstellung des Bürgertums, wie hehr die Kunst sei. Kunst durfte keinen Spaß machen.

Mozart und Goethe hätten schmunzelnd die Köpfe geschüttelt.

Das Mißverständnis über die Kunst ist immer noch nicht zerstreut. Selbst das sogenannte „Regietheater“ unterliegt ihm noch: Man muß immer noch was ganz Besonderes mit der Kunst machen. Sie einfach mal zu spielen, Spielfreude statt Schreierei, das geht nicht.

Bis heute gibt es keine lehrbare Kunstfertigkeit, auf nicht vulgarisierende und dennoch attraktive, unmittelbar verständliche Art und Weise Zugänge zu den Kunstwerken zu schaffen.

Statt Zugängen gibt es Trivialisierung: Dokus, in denen ein grimmig dreinblickender Schauspieler Beethoven mimt, wie er leidend in die Landschaft schaut. Und dazu hört man irgendwas Trauriges aus irgendeinem seiner Werke.

Oder es gibt wenig hilfreiche dröge Erläuterungen, überladen mit akademischem Wust. („Tertiärliteratur“ nennt man sowas, Literatur, die Literatur über Literatur zusammenfaßt.)

Oder es gibt jede Menge Ulk über klassische Kunstwerke. – Wenn der Ulk gut ist, ist dagegen nichts einzuwenden. Aber Ulk und Trivialisierung tanzen bloß um die Kunstwerke herum, sie entstauben und beleuchten sie nicht.

Die Alternative zum Entstauben kann auch nicht sein: die Werke bunt anzumalen und in einem Vergnügungspark aufzustellen.

Es war der Horror Adornos – oder vielleicht sein heimlicher bildungsbürgerlicher Wunsch – daß die Vermittlung von Kunstwerken zur „Kulturindustrie“ führe, zu einer Verflachung und Trivialisierung der Kunstwerke: Daß da Leute sich unterhalten lassen – z.B.: von einer getanzten Beethovensinfonie – und danach den Anspruch zu stellen, genauso gebildet zu sein wie die Bildungsbürger, tatsächlich aber die Kunstwerke nicht erfaßt  sondern bloß mißverstanden zu haben. (Literaturnachweis im Anhang.)

Doch die Alternative „Kunst oder Kulturindustrie“ ist eine Alles-Oder-Nichts-Illusion. Es geht nicht darum, daß möglichst viele Menschen irgendwas von Beethoven irgendwie mitkriegen. Es geht nicht darum, aufblasbare Mini-Kölner-Dome auf die Jahrmärkte zu stellen. Es geht darum, die Wege zu den Kathedralen zu bahnen, so daß sie attraktiv werden, statt mit unwegsamer Kraxelei abzuschrecken; zumal die Kathedralen für Unkundige von weitem nicht viel anders aussehen als langweilige neugotische Dorfkirchen.

Es ist längst überfällig, daß eine Kultur der Vermittlung klassischer Kunstwerke entwickelt wird. Wir dürfen die Vermittlung nicht der „Kulturindustrie“ überlassen, die vermittelt Kunst nicht, die vernutzt sie. – Wir dürfen die Vermittlung aber auch nicht den Philologen und Redakteuren überlassen. Die schauen nicht über die Grenzen ihrer Fächer hinaus und haben riesige Angst, irgendetwas falsch zu machen.

Das Einfallsreichste unserer Zivilisation kann gar nicht einfallsreich genug vermittelt werden. Deshalb wäre es sinnvoll, wenn viele Leute ihre Einfälle zusammentrügen.

Beiträge zum Thema auf dieser Website:

Gegen die Diskriminierung klassischer Kunstwerke
Mogelpackung auf ZDF-Kultur
Neuartige Musikdokumentation
Alexander Skrjabin: faustische Musik?

P.S.: Was ist daran wichtig, die klassischen Kunstwerke bekannter zu machen? Bach und Beethoven haben den Holocaust nicht verhindert und Tolstoi nicht die Gulaks.

Es ist ungeheuerlich, welche Schätze des Menschengeists den meisten Menschen vorenthalten werden von der Vergnügungsindustrie! Das ist so, als wenn bloß die Leute, die an den Kathedralen wohnen, wüßten, wie groß die sind. Alle andern würden glauben, sie seien auch nicht besser als Dorfkirchen.

Doch hinzu kommt: Wie wollen wir wissen, welchen Einfluß es auf die Entwicklung der Zivilisation hat, ob die großen Kunstwerke der Menschheit mehr Menschen zu Gute kommen als nur einer kleinen Bildungselite? Wir wissen es nicht!

Und vielleicht wäre ohne Bach und Tolstoi alles noch viel schlimmer gekommen oder länger schlimm geblieben oder es käme öfter Schlimmes. Wer weiß? – Eine empirische Studie ist unmöglich. Was eine Kathedrale bewirkt, werden wir nie so genau wissen, wie was eine Pille bewirkt. Sollten wir deshalb in den Kathedralen Zirkus veranstalten? Oder sie dem Zerfall überlassen?

 

Anhang: Literaturnachweis

Jan Philipp Reemtsma faßt Adornos Position so zusammen: „Der Anspruch der Verallgemeinerbarkeit literarischer Bildung ist nur um den Preis ihrer Zerstörung einzulösen“ (In: Was heißt einen literarischen Text interpretieren? S. 184).

Soweit ich Reemtsmas Ausführungen verstehe, meint er, daß Kunstkenner  immer eine kleine Minderheit bleiben werden, eine geistige Elite, und dieses unfreiwillig elitäre Moment der Kunstrezeption widerspreche der Allgemeingültigkeit der Kunstwerke und führe zu einem schmerzlichen unauflöslich scheinenden Konflikt.

Ich stelle jedoch in Frage, ob die Entgegensetzung von wahrer Kennerschaft und kulturindustriell induziertem Mißverstand die Rezeptionsmöglichkeiten nicht verkennt. Warum soll es nicht ein weites Kontinuum geben zwischen Expertenrezeption und vulgärer Schein-Rezeption, ein Kontinuum, das Raum läßt für eine viel weitere Verbreitung seriöser Rezeptionsformen, als Adorno sich träumen ließ