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Inhalt:
(1) Das bildungsbürgerliche Mißverständnis der Kunst
(2) Das kulturindustrielle Mißverständnis der Kunst
(3) Kunst pur und für alle: Neue Ansätze der Kulturvermittlung
Anhang: Diskussion von gängigen Vermittlungsformaten
(1) Das bildungsbürgerliche Mißverständnis der Kunst
Kathedralen stehen mitten in der Stadt und ihre Türen sind offen. Beethovens Neunte oder Goethes Faust scheinen wie Wüstengebirge: fern und mühselig. Doch das ist nur Schein.
Schuld am Schein sind die Bildungsbürger. Sie brauchten die Kunst, um sich damit auszustaffieren. Deshalb mußte Kunst ganz „hoch“ und ganz „tief“ sein, ganz hehr und ganz schwer, nicht von jedermann und jederfrau erreichbar. Die Kunstwerke wurden überhöht und mystifiziert, damit die Bildungsbürger sich für was Besseres halten konnten. – Bildungsbürger lassen die Kirche nicht im Dorf: Sonst könnte da ja jeder rein! – Ein riesiges Mißverständnis entstand.
Bezeichnend dafür ist eine Aussage der argentinischen Pianistin Martha Argerich: Erst ihr zweiter Lehrer, Friedrich Gulda (ein unkonventioneller Wiener Top-Pianist), hätte ihr gezeigt, wieviel Humor in der Musik der Wiener Klassik sei. – Humor in klassischen Kunstwerken? Das war offensichtlich nicht vereinbar mit der Vorstellung des Bürgertums, wie hehr die Kunst sei. Kunst durfte keinen Spaß machen.
Mozart und Goethe hätten schmunzelnd die Köpfe geschüttelt.
Das Mißverständnis über die Kunst ist immer noch nicht zerstreut. Selbst das sogenannte „Regietheater“ unterliegt ihm noch: Man muß immer noch was ganz Besonderes mit der Kunst machen. Sie einfach mal zu spielen, Spielfreude statt Schreierei, das geht nicht.
(2) Das kulturindustrielle Mißverständnis der Kunst
Bis heute gibt es keine lehrbare Kunstfertigkeit, auf nicht vulgarisierende und dennoch attraktive, unmittelbar verständliche Art und Weise Zugänge zu den großen Kunstwerken zu schaffen.
Statt Zugängen gibt es Trivialisierung: Dokus, in denen ein grimmig dreinblickender Schauspieler Beethoven mimt, wie er leidend in die Landschaft schaut. Und dazu hört man irgendwas Trauriges aus irgendeinem seiner Werke.
Oder es gibt wenig hilfreiche dröge Erläuterungen, überladen mit akademischem Wust. („Tertiärliteratur“ nennt man sowas, Literatur, die Literatur über Literatur zusammenfaßt.)
Oder es gibt jede Menge Ulk über klassische Kunstwerke. – Wenn der Ulk gut ist, ist dagegen nichts einzuwenden. Aber Ulk und Trivialisierung tanzen bloß um die Kunstwerke herum, sie entstauben und beleuchten sie nicht.
Und für ganz schick und innovativ hält man heute die Verwurstung von Kunstwerken zu Shows: Da heißt es dann: „Klassische Gemälde berühmter Künstler wie Van Gogh, Monet oder Kahlo werden zu großflächigen Videoinstallationen verarbeitet, in die Besucher eintauchen können“ (OriginalQuelle: Deutsche Welle, hier der Link zum Original).
Ein Kunstwerk darf nicht mehr sein, was es ist. Es wird zu einer großartigen Erlebnisshow verwurstet. Die Leute sind begeistert. Das scheint den Shows recht zu geben – ja, genau das gleiche Recht, das mit Fett, Zucker und Geschmacksverstärkern versetzte Fertignahrung hat.
In solchen Shows haben die Kunstwerke keine Chance ihr Potential zu entfalten, weil die Leute mit Reizen zugeballert werden. „Immersiv“, versenkend, heißt das Stichwort: Die Leute werden ersäuft in einer Reizflut. Besinnung wird unmöglich.
Die Wirkung eines Kunstwerks ist um so größer, je mehr Stimmen unserer Seele es zum Sprechen bringt. (Eine Metapher Henri Bergsons.) – Je mehr Stimmen unserer Seele überschrieen werden, desto weniger vernehmen wir vom Kunstwerk.
Wer glaubt, Kunstwerke durch immersive Verwurstung toppen zu können, hat nichts begriffen. Das Kunstwerk ist das Kunstwerk!
(3) Die Möglichkeiten neuer Ansätze in der Vermittlung klassischer Kunstwerke
Es war der Horror Adornos – oder vielleicht sein heimlicher bildungsbürgerlicher Wunsch – daß die Vermittlung von Kunstwerken zur „Kulturindustrie“ führe, zu einer Verflachung und Trivialisierung der Kunstwerke: Daß Leute sich unterhalten lassen – z.B. von einer getanzten Beethovensinfonie – und danach den Anspruch stellen, genauso gebildet zu sein wie die Bildungsbürger, obwohl sie durch die Verbindung mit Unterhaltung die Kunstwerke gar nicht begriffen sondern bloß mißverstanden haben. (Literaturnachweis im Anhang.)
Doch die Alternative „Kunst oder Kulturindustrie“ ist eine Alles-Oder-Nichts-Illusion. Es geht nicht darum, daß möglichst viele Menschen irgendwas von Beethoven irgendwie mitkriegen.
Es ist längst überfällig, daß eine Kultur der Vermittlung klassischer Kunstwerke entwickelt wird. Wir dürfen die Vermittlung nicht der „Kulturindustrie“ überlassen, die vermittelt Kunst nicht, die vernutzt sie. – Wir dürfen die Vermittlung aber auch nicht den Philologen und Redakteuren überlassen. Die schauen nicht über die Grenzen ihrer Fächer hinaus und haben riesige Angst, irgendetwas falsch zu machen.
Interessant ist, daß eine Möglichkeit bislang unterbelichtet bleibt: Auf Kunstwerke neugierig zu machen – auf die Kunstwerke selbst, so wie sie sind, Kunst pur, nicht Kunst verwurstet. (Deshalb wird man mich „Purist“ schimpfen.)
Im Zeitalter medialer Überfütterung brauchen wir eine Kopernikanische Wende in der Vermittlung von Kultur. Bisher läuft das so: „Ah, schön, du interessierst dich für Beethoven, da habe ich was, um dich da ran zu führen!“ – Die Botschaft der Pädagogik ist: „Wir helfen dir“. Das macht Kunst unattraktiv. Denn wer will schon gern was machen, wo er geholfen kriegen muß? – Die Botschaft, die wir brauchen ist: „Hey, schau mal da!“
Gut, das tun die Kunstverwurster auch. Aber bei uns geht es um Schau nicht um Show. Wir schäumen die Kunstwerke nicht auf, sondern zeigen auf sie selbst, zeigen gekonnt auf dasjenige an den Kunstwerken, das voraussetzungslos erlebbar und begreifbar ist. Es geht darum, neugierig zu machen auf den ersten Schritt, der Neugier weckt auf mehr.
Es geht darum den Schatz, den Theorie und Pädagogik erarbeitet haben, unter die Leute zu bringen. (Und ihm vielleicht noch das eine oder andere hinzuzufügen.) – Es soll nicht erst ein Interesse da sein, das nach Hilfe sucht, sondern die Möglichkeiten der Hilfe sollen so dargeboten werden, daß Interesse entsteht. Das was beim Erschließen eines Kunstwerks hilft, soll auch begeistern. Ein Begeisterungsparadigma soll das Hilfsparadigma ersetzen.
Wie kann das gehen?
Mit tollen Texten und tollen Graphiken. Es geht darum, mit Worten und Bildern zu veranschaulichen, was das Kunstwerk zum Kunstwerk macht, was es enthält, wie es aufgebaut ist, wie es erschlossen werden kann. – Die Texte und Bilder müssen „packend“ sein, müssen schon selbst eine Faszination auslösen, in dem sie vorstellbar machen, mit welch weit größerer Faszination das Kunstwerk aufwartet. Es geht nicht darum, in der Kathedrale einen Zirkus zu veranstalten, um die Leute reinzulocken, sondern ihnen das Wunder so faszinierend zu erklären, daß sie es selber sehen wollen.
„Texte und Graphiken“: Sind Sie jetzt enttäuscht, weil es auf so was Altbackenes hinausläuft? – Altbacken ist nur das Mittel, nicht der Inhalt, der Inhalt soll „toll“ sein, überraschend. – Tja, und für „toll“ gibt es kein Patentrezept. Da gibt es nur Einfallsreichtum, Forschergeist und stetige Weiterentwicklung. – (Direkt weiterführend: Neuartige Musikdokumentation)
Das Einfallsreichste unserer Zivilisation kann gar nicht einfallsreich genug vermittelt werden. Deshalb wäre es sinnvoll, wenn viele Leute ihre Einfälle zusammentrügen.
Anhang: Diskussion von gängigen Vermittlungsformaten
Ein Beispiel dafür, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich niedrigschwellige Vermittlung von Musikkunstwerken vorstellt:
https://www.br.de/mediathek/podcast/klassik-fuer-klugscheisser/k-o-durch-kontrapunkt/2102744
Meine Anmerkungen dazu:
(1) Die Potcastreihe folgt dem Hilfsparadigma von Kunstvermittlung, nicht dem Begeisterungsparadigma. Zwar wird öfter gesagt, wie toll Kontrapunkt ist, aber es wird nicht gezeigt, d.h. auf faszinierende oder zumindest interessenerweckende Weise veranschaulicht oder erlebbar gemacht. – Mit „zeigen“ meine ich nicht, in Musikstücke reinhören. Sondern es geht darum, das, was Kontrapunkt ausmacht, idealtypisch „herauszupräparieren“. Das könnte erreicht werden durch Gleichnisse, die treffender und gehaltvoller sind als „Torte“ oder „Gewebe“, oder – im Hörfunk, wo keine Bilder zur Verfügung stehen – durch raffinierte witzige kleine Musikstücke, die leicht faßliche Kontrapunkterlebnisse darbieten. Die müßten natürlich erstmal komponiert werden. – Und genau das meine ich mit: einfallsreicher Vermittlung.
(2) Es ist nichts gegen Alltags- und Jugendsprache zu sagen. Aber die Worte sollten treffend sein. Ist es „geil“ ein Stück von Bach zu hören? Ist es „geil“ zu meditieren? – „Geil“ bezieht sich doch eher auf Reizvolles als auf Gehaltvolles. – Gut, ich könnte mir Kontexte vorstellen, in denen auch ich sagen würde, es sei „geil“ eine Beethovensinfonie zu hören, aber das wäre dann im Eifer einer lebhaften kontroversen Diskussion, wenn 5 Leute auf mich einreden, nicht in einem vorbereitbaren Potcast. (Und, interessant: Ich würde das Wort niemals auf Beethovens große Fuge oder eine Brucknersinfonie beziehen und schon gar nicht auf Mozarts Requiem.)
(3) Mozarts Requiem während des Autofahrens zu hören: Mozart würde uns einen Vogel zeigen! – Abgesehen davon ist der Tipp verkehrsgefährdend. – Das nenne ich das kulturindustrielle Mißverständnis: Kunst ist für geile Reize da. Das ist die falsche Botschaft. Wir können weit weit mehr von Mozarts Requiem haben, wenn wir es nicht beim Autofahren hören und nicht während der Alltagsgeschäfte. Sondern wenn wir ihm einen eigenen Kontext schaffen. – Mit der Vernutzung von Kunstwerken ist nichts gewonnen, bloß weil auf dem Vernutzten Bach oder Beethofen draufsteht.
(4) Das Potcast ist einfallslos in dem Sinne: Es ist nicht überraschend. Jeder würde wohl spontan auf die Idee kommen, klassische Musik niedrigschwellig auf genau diese Art zu vermitteln. Ideen, auf die jeder spontan kommt, sind nicht sehr einfallsreich. Auch dann nicht, wenn im Binnenraum witzige Einfälle entstehen. (So witzig fand ich es dann aber auch nicht. Das spricht aber nicht gegen die Potcaster. Wenn nur zwei Leute alle zwei Wochen ein Potcast machen müssen, dann gehen die Witze bald aus. Das sehen wir ja auch an den Kabarettreihen: Es entsteht eine Professionalität im Generieren von Pseudowitzen. – Daher meine Idee einer Initiative: Je mehr Leute mitmachen, desto witziger.)
(5) Wenn Vermittlung einfallsreich genug gemacht würde, bräuchte es keinen Unterschied zu geben zwischen hoch- und niedrigschwelliger Vermittlung. Das sollte ein Prüfstein für Vermittlungsqualität sein.
Hier das Selbstverständnis der Sendung:
„Klassik ohne elitäres Gehabe und Dresscode: Wer noch nicht den richtigen Zugang zur klassischen Musik gefunden hat oder einfach ein paar Funfacts für die Konzertpause braucht, der ist bei unseren Klugscheissern genau richtig. Warum hat Johannes Brahms einfach irgendwann aufgehört sich zu rasieren? Diesen und anderen Gossip graben Uli und Laury für euch aus.“
Na, wie einfallsreich wirkt das? – Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte es besser wissen, aber er tut es nicht. Warum das so ist, erkläre ich in meiner Kritik an ARD und ZDF: „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“. – Gut ist allerdings, daß die Redaktion eine e-mail-Adresse für Rückmeldungen angibt. Dialog mit den Leuten: Das ist zukunftsfähig. – Ich hab´ mein Gemecker gleich hingeschickt, und um Rück-Rückmeldung gebeten, die ich hier veröffentlichen könnte. Außerdem habe ich die Potcaster eingeladen, bei uns mitzumachen. Mal was anderes: Ohne elitäres Gehabe an Einfällen vom Feinsten mitzuwirken.
Ein weiteres Beispiel für Musikvermittlung findet sich hier: https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/starke-stuecke-skrjabin-klaversonate-10-100.html
Auch dieses Beispiel ist sehr üblich – also ziemlich einfallslos. – Ich frage mich, wer darauf gekommen ist, daß es sinnvoll sei, Musikkunstwerke im Plauderton zu vermitteln. Warum muß es denn unbedingt immer Plauderton sein?
Der Plauderton setzt dem Machbaren enge Grenzen. Außerdem macht er Prägnanz unmöglich. Ohne Prägnanz wird es diffus, es wird nicht leichter sondern schwieriger den Gehalt des Geplauderten zu erfassen. – Prägnanz schließt leichte Faßlichkeit, Attraktivität und Witz übrigens nicht aus, im Gegenteil. Aber das erfordert natürlich mehr Arbeit und Einfälle. – Ich halte es auch für kein einfallsreiches Konzept, Aussagen der Komponisten über ihre Werke zu verwenden. Abgesehen davon, daß diese Aussagen schon immer als fragwürdig galten, Bruckner gab ja bekanntlich an, in einem seiner Sinfoniesätze an ein Husarentreffen in Olmütz gedacht zu haben. Wie hilfreich ist das denn?
(Zum Vergleich dazu: mein ad-hoc-Versuch über Skrjabin: Alexander Skrjabin: faustische Musik? – Sicher keine Glanzleistung, aber mal der Versuch, eine andere Richtung einzuschlagen.)
Weitere Beiträge zum Thema auf dieser Website:
Gegen die Diskriminierung klassischer Kunstwerke
Kafka und die Degeneration der Leitmedien
Zu einer Aufführung der Kunst der Fuge mit Texten aus“ i remember“ von Joe Brainard
Mogelpackung auf ZDF-Kultur
P.S.: Was ist daran wichtig, die klassischen Kunstwerke bekannter zu machen? Bach und Beethoven haben den Holocaust nicht verhindert und Tolstoi nicht die Gulaks.
Es ist ungeheuerlich, welche Schätze des Menschengeists den meisten Menschen vorenthalten werden von der Vergnügungsindustrie!
Doch hinzu kommt: Wie wollen wir wissen, welchen Einfluß es auf die Entwicklung der Zivilisation hat, ob die großen Kunstwerke der Menschheit mehr Menschen zu Gute kommen als nur einer kleinen Bildungselite? Wir wissen es nicht!
Und vielleicht wäre ohne Bach und Tolstoi alles noch viel schlimmer gekommen oder länger schlimm geblieben oder es käme öfter Schlimmes. Wer weiß?
Eine empirische Studie ist unmöglich. Was eine Kathedrale bewirkt, werden wir nie so genau wissen, wie was eine Pille bewirkt. Sollten wir deshalb in den Kathedralen Zirkus veranstalten? Oder sie dem Zerfall überlassen?
Literaturnachweis
Jan Philipp Reemtsma faßt Adornos Position so zusammen: „Der Anspruch der Verallgemeinerbarkeit literarischer Bildung ist nur um den Preis ihrer Zerstörung einzulösen“ (In: Was heißt einen literarischen Text interpretieren? S. 184).
Soweit ich Reemtsmas Ausführungen verstehe, meint er, daß Kunstkenner immer eine kleine Minderheit bleiben werden, eine geistige Elite. Und dieses unfreiwillig elitäre Moment der Kunstrezeption widerspreche der Allgemeingültigkeit der Kunstwerke und führe zu einem schmerzlichen unauflöslich scheinenden Konflikt.
Ich denke jedoch, daß die Entgegensetzung von wahrer Kennerschaft und kulturindustriell induziertem Mißverstand die Rezeptionsmöglichkeiten verkennt. Warum soll es nicht ein weites Kontinuum geben zwischen Expertenrezeption und vulgärer Schein-Rezeption, ein Kontinuum, das Raum läßt für eine viel weitere Verbreitung seriöser Rezeptionsformen, als Adorno sich träumen ließ?