Zu Faust und Margarete

Parallelgeschichte:

Schmetterlinge (Erste Erzählung aus dem Zyklus „Psychjatergarn“)

von Lars Lehmann

(Lesezeit: 40 Minuten)

Wir saßen auf der Terrasse eines mecklenburgischen Schlosshotels. Der alte Park mit seinen mächtigen Buchen lichtete sich zu einer Wiese, die die Aussicht freigab auf einen weiten See. Es war ein warmer Sommerabend und wir fühlten uns wie im Paradies. (Allerdings gedachten wir der Menschen, die einst für diese Anlage schuften mußten.)

Die Terrasse war fast leer. Alle waren am See, auf dem Golfplatz oder im Restaurant. Nur ein älterer Herr saß ein paar Tische weiter. Er hatte ein schiefes aber ausdrucksvolles Gesicht, das mit der zu groß geratenen Nase alles andere als schön war, doch durch seinen Ausdruck geadelt wurde. Mit seiner abgewetzten Kleidung passte er nicht in dieses teure Hotel. Von der Bedienung hatten wir erfahren, daß er auch kein Hotelgast war, sondern ein Dorfbewohner, der fast täglich hier Kaffee trank. Die Gäste, die ins Gespräch mit ihm kamen, mochten ihn, weil er ein netter und intelligenter Gesprächspartner war. Allerdings hieß es, daß er manchmal wunderliche Geschichten erzähle. Er war Psychiater gewesen, in Berlin. Nach der Berentung hatte er sich hier angesiedelt, wohnte bei einem Bauern zur Miete, und verbrachte mit ausgedehnten Spaziergängen seinen Lebensabend.

Stimmen näherten sich und das helle Lachen einer jungen Frau. Sie kam mit zwei Männern vom Golfen zurück, einer neben ihr, der andere ein paar Schritte hinterdrein. Wir erkannten darin ein kleines Drama: Der jüngere Mann hatte sich einige Tage um die junge Frau bemüht, und wir hatten die beiden schon Arm in Arm gehen gesehen, als der andere Gast eintraf, älter und offenbar geschäftlich erfolgreicher, mit souveränerem Auftreten und deutlich ebenmäßigerem Gesicht. Als der Psychiater sah, daß auch wir aufschauten, kommentierte er die Szene:

„Da hat der Schönling es doch geschafft, seinen Konkurrenten aus dem Felde zu stechen! Schade für den jungen Mann!“

„Er könnte mehr aus sich machen“ bemerkte meine Frau, „er wirkt einfach zu introvertiert.“

„Tja“, sagte Psychiater, „manche Jungs bräuchten ein bisschen Nachhilfe, um sich die Schlüsselreize anzueignen, die die Frauen betören. – Für die Frauen wäre das auch besser! Wieviele Kerls haben Schlüssel zu Schlössern, in die sie nie reinkämen, wüßten die Prinzessinnen, wie die Herren sich benehmen, wenn sie erst mal drin sind! Die Damen erkennen den Grafen nicht, weil ihm die Schlüssel fehlen, und lassen stattdessen den Halunken herein, der sie gestohlen hat!“

So kamen wir ins Gespräch. Einige andere Gäste fanden sich nach und nach ein, schließlich saßen wir zu sechst um den Tisch des alten Mannes. Der Wunsch kam auf, daß er etwas aus seinem langen und sicherlich an menschlichen Begebenheiten reichen Leben erzähle. Wir hatten allerdings nicht bedacht, daß er nicht die Geschichten seiner Patienten ausplaudern konnte. Doch er sagte, eine Geschichte gebe es, die er erzählen dürfe, er habe sogar den Auftrag, einen Bericht darüber zu verfassen, um die Öffentlichkeit über Vorgänge aufzuklären, die ihr bislang hätten vorenthalten werden müssen. Er habe zufällig einige Originalunterlagen dabei, die er an geeigneter Stelle vorlesen könne. – Er kramte sie aus seiner abgegriffenen Tasche, sortierte sie, um den Erzählfluß nicht unterbrechen zu müssen, und begann:

1

„Ich besuchte früher jedes Wochenende einen Kollegen in seiner Villa am Wannsee. Ich war der beste Freund der Familie und Pate seines jüngsten Sohnes. Sommers saßen wir jeden Freitag Nachmittag am Wasser, in der kalten Zeit im Wintergarten, blickten auf den See, aßen gemeinsam zu Abend und erholten uns in gemütlicher Geselligkeit.

Die Jahre gingen ins Land, die Kinder aus dem Haus, nur mein Patensohn, der Haus und Praxis übernehmen sollte, blieb, und nach seiner Heirat kam seine Frau Sara hinzu, eine angehende Biologielehrerin. Von all seinen Freundinnen hatte Sara mir von Beginn an am besten gefallen. Nicht nur, weil sie die netteste war, mit ihren lachenden Augen und ihrem herzlichen Wesen, sondern auch, weil sie ihre Attraktivität nicht so weibchenhaft zur Schau stellte. Ich sah sie nie in einer Aufmachung, die denken ließ: „man fühlt die Absicht und man ist verstimmt“. Und auch von dem Starren oder betont Lässigen vieler attraktiver Frauen, die fürchten, mit jeder falschen Geste an Schönheit und Chancen zu verlieren, fehlte bei Sara jede Spur. Sara war Wissenschaftlerin, die Vollmächte ihrer Weiblichkeit waren ihr nicht das Wichtigste.

Frank und Sara waren ein vielversprechendes junges Paar, es war eine Freude, an ihrem Leben teilzunehmen. Nichts bringt dies besser zum Ausdruck als die Worte, die Frank mir einmal im Rückblick auf jene glückliche Zeit schrieb. – Einen Augenblick… ich lese sie Ihnen vor…:

„Wir waren so dankbar! Wir waren jung, attraktiv und erfolgreich, erfuhren Anerkennung und Sinn, hatten unsere weitläufige Villa am See und lebten in der Gewißheit, allem gewachsen zu sein, was in unserer Situation erwartbar war!“ – Soweit Franks Mail.

Nun. – Eines Abends, als ich das Haus betrat, schlug mir eine beklemmende Stille entgegen. Frank saß mit seinen Elternallein auf der Terrasse. Ich erfuhr, daß Sara verstimmt sei. Als sie endlich erschien, wirkte sie mürrisch. Sie war einsilbig und hatte einen trotzigen Gesichtsausdruck. So hatte ich sie noch nie gesehen! Nach dem Essen entschuldigte sie sich und zog sich zurück. Frank gab an, keine Ahnung zu haben, was Sara derart verstimmt habe. Wir glaubten ihm nicht.

Beim nächsten Besuch war die Stimmung im Hause immer noch gedrückt, die Mißhelligkeiten noch nicht verflogen. Sara ließ sich sogar bei Tisch entschuldigen, ihr sei nicht nach Gesellschaft.

Frank und Sara waren reife Persönlichkeiten, sie waren bisher immer in der Lage gewesen, ihre Konflikte zu lösen. Um so rätselhafter war die lang anhaltende Verstimmung, über die wir nur spekulieren konnten, zumal Frank darauf beharrte, nicht zu wissen, was mit Sara los sei. Ich vermutete, daß er fremdgegangen war. Und obwohl Sara diesbezüglich keine verbohrten Ansichten hatte, wäre es verständlich gewesen, wenn sie Zeit gebraucht hätte, um das Geschehene zu verwinden.

Die Woche darauf wurde unsere Abendgesellschaft abgesagt, mein Freund berichtete mir niedergeschlagen, die Stimmung im Hause habe sich weiter verschlechtert. Ein paar Tage später schrieb Frank mir diese Mail hier, in der er mich über die Ereignisse informierte und um einen Termin in meiner Praxis bat:

„Vor einigen Wochen kam Sara ziemlich mißgelaunt nach Hause. Auf meine Nachfrage entgegnete sie, es sei nichts, sie sei halt mal nicht so gut in Form. Doch ihre Verfassung war so auffällig, daß ich nach einiger Zeit nachhakte: „Sag mal, du hast doch irgendwas, is‘ was passiert, bedrückt dich was?“ Sie reagierte verärgert und meinte, ich steigere mich da in was rein, es müsse doch wohl erlaubt sein, mal miese Laune zu haben. Auf meine Bemerkung, das müsse ja schon eine verdammt miese Laune sein, ließ sie mich wortlos stehen und ging weg. – In den nächsten Tagen hatte sie immer noch diese Laune und wollte alleine sein. Ich versuchte noch mehrmals, sie darauf anzusprechen, daß keine Rede davon sein könne, mal miese Laune zu haben, wenn eine derartige Verstimmung tagelang anhalte, daß das allmählich immer mehr nach einer ausgeprägten Depression aussehe. Sie zuckte nur die Achseln und meinte: dann sei das eben so. – Sie zog sich immer mehr zurück, aber ohne daß ich das Gefühl hatte, daß sie in dieser Zeit etwas Schönes oder Sinnvolles für sich getan hätte. Sie mochte schließlich nicht mal mehr durch unseren kleinen Park wandeln oder am See sitzen, sondern saß irgendwo im Haus und schien zu grübeln. – Ich hab ihr gesagt, sie soll mal mit dir reden, von dir hat sie immer eine so hohe Meinung gehabt, aber sie lehnt das entschieden ab.“

Soweit die Mail. – Wir einigten uns darauf, daß ich nächsten Freitag wie gewohnt zum Abendessen kommen solle, um die Gelegenheit zu nutzen, Sara anzusprechen. Doch bis dahin hatte es eine weitere Verschlimmerung gegeben: Sara hatte den gemeinsamen Wohnbereich verlassen und sich im Hause isoliert.

Obwohl draußen ein traumhafter sonniger Spätsommernachmittag herrschte, befand sie sich in ihrem selbstgewählten Gelaß, einem entlegenen, kleinen, lichtlosen Kämmerchen. Bevor wir hinauf stiegen, informierte Frank mich über den Stand der Dinge: Sie nenne ihren Zustand „Überdruß“ und erkläre ihn mit der Schlechtigkeit der Menschen und der Welt. Jeder Versuch, mit ihr ins Gespräch zu kommen, sie aufzumuntern, jeder Vorschlag etwas gemeinsam zu unternehmen, werde von ihr patzig mit den Worten abgelehnt, sie wolle in Ruhe gelassen werden, man habe ihr sowieso nur Langweiliges zu bieten, nur dämlichen Kinderkram, mit dem man sie gefälligst verschonen solle.

Als wir anklopften, hörten wir ein mürrisches, gereiztes „Jaha“. Frank öffnete die Türe und ich erblickte eine Rumpelkammer. Die Kammer hatte als Abstellkammer gedient und Sara hatte keine Anstalten unternommen, sich hier einzurichten. Sie hatte nur ein Bett heraufbringen lassen, auf dem sie saß und dumpf vor sich hinbrütete. Ihr Gesichtsausdruck war stumpf und gleichgültig geworden und ihr Unmut machte es noch abstoßender. Als sie mich sah, wurde sie aggressiv:

„Was soll das, verlaßt sofort mein Zimmer! Ich verbitte mir diese Nachstellungen!“

Damit schlug sie die Tür zu. In den wenigen Augenblicken hatte sich ihr ganzer Ausdruck zu einer offenen Feindseligkeit gesteigert, die mich zutiefst erschreckte. Dennoch klopfte ich noch einmal vorsichtig an und sagte:

„Sara, Frank hat Sorge um dich. Vielleicht hast du ja recht und er sieht Gespenster. Wie wäre es, wenn wir uns mal zu dritt hinsetzten und versuchen würden, die Sache zu klären?“

Ich hatte wenig Hoffnung, daß sie das Angebot annehmen würde, und wunderte mich deshalb nicht, als keinerlei Reaktion erfolgte.

Das Bild, das Sara bot, schockierte mich mehr, als ich mir anmerken ließ. Es ließ an das Vorstadium einer Psychose denken.

Sara war zwar noch fähig, weiter zum Schuldienst zu gehen, aber sie bestand eine Lehrprobe nicht. Sie wurde schließlich vom Dienst suspendiert, weil sie auf die Schüler nicht mehr einging, nur noch Bücherwissen herunter leierte und auf jede Unterbrechung ungehalten reagierte. Sie bekam die Auflage, sich in ärztliche Behandlung zu begeben, lehnte das aber strikt ab.

Ich versuchte in den nächsten Wochen noch mehrmals, Sara zu einer Behandlung zu bewegen. Es war schwer geworden, sie anzusprechen. Wenn sie in ihrer Kammer saß, reagierte sie auf kein Klopfen mehr. Ich mußte sie abpassen, wenn sie vom „Walken“ kam. Einmal am Tag ging sie mit merkwürdig hastigem Schritt für eine Stunde aus dem Haus, immer die gleiche Runde und nie am See entlang sondern nur über Bürgersteige. Als ich sie ansprach, schrie sie mich an, woher sich alle das Recht nehmen würden, über ihren Lebensstil bestimmen zu wollen, das käme einer Vergewaltigung gleich.

Wir Psychiater sind Profis darin, unsere Eindrücke diagnostisch auszuwerten. Diese Begegnung mit Sara verstärkte ein Gefühl, das ich schon beim ersten Mal gespürt, aber als zu vage empfunden hatte, um damit etwas anfangen zu können. Feindseligkeit ist für einen Psychiater kein ungewöhnliches Symptom. Viele psychische Störungen gehen damit einher, daß die Betroffenen sich bedroht, abgewertet oder ungerecht behandelt fühlen. Doch in Saras Feindseligkeit lag etwas, das ich noch nie erlebt hatte und mich besonders unangenehm berührte und erschreckte. Es gab kein treffendes Wort dafür. Am ehesten ließ sich meine Empfindung so ausdrücken: Ihre Feindseligkeit wirkte seltsam unmenschlich, widernatürlich, hochgiftig. Es war diagnostisch nicht einzuordnen, es blieb unklar, was es bedeuteten könnte, ich war mir nicht mal sicher, ob ich mir das nicht bloß einbildete. Deshalb blieb ich bei meiner Verdachtsdiagnose, daß Sara eine psychotische Erkrankung entwickele.

Psychosen gehören zu den psychischen Krankheiten, die in ihren akuten Schüben die Persönlichkeit am stärksten verändern. Glücklicherweise sind sie in den meisten Fällen gut medikamentös behandelbar. Dennoch stellt sich die frühere Leistungsfähigkeit meist nicht wieder her, und in manchen Fällen gibt es trotz der Medikamente schwere Verläufe.

Sie können sich sicher vorstellen, wie erschüttert ich war, Sara in den Fängen dieser Krankheit zu sehen: eine blühende junge Frau mit all diesen Potentialen! – Aber weit schlimmer war dieser Befund für Frank! Ich spürte deutlich die Verzweiflung meines Patensohns, ja, die Fassungslosigkeit, die ich von den Angehörigen schwer psychisch erkrankter Menschen kenne, die erleben müssen, wie sich ein geliebter Mensch in kurzer Zeit völlig verändert und schließlich nur noch ein Fragment der früheren Persönlichkeit zu sein scheint.

Auch körperlich veränderte Sara sich auf rätselhafte Weise: Immer mehr Fett setzte sich auf den Hüften an, das Fettgewebe von Brust und Gesäß dagegen wurde abgebaut. Das Schlimmste aber war, daß auch das Fettgewebe im Gesicht immer weiter wuchs. Ihre Schönheit wurde nach und nach völlig entstellt und innerhalb von drei Monaten nahm ihre Gestalt ein grotesk überzeichnetes matronenhaftes Aussehen an. Ihr selber schien das völlig gleichgültig zu sein. Sie hatte das Interesse an Beziehungen zu andern Menschen verloren. Alle Freundlichkeit war erloschen, das Lachen erstorben. Blickkontakt vermied sie. Trafen sich unsere Blicke doch einmal oder sprach man sie an, wich die Dumpfheit in ihrem Gesicht schlagartig jenem bösartigen Ausdruck, dessen seltsame Widernatürlichkeit mich zutiefst mit Abscheu erfüllte. Es war jedesmal ein Schock, Sara so zu sehen!

Solange wir sie in Ruhe ließen, ließ sie sich durch uns nicht stören. So lebte sie im Hause wie ein Gespenst. – Frank flüchtete sich in Arbeit und Alkohol. Ich vermittelte ihn an einen Kollegen, der auf die therapeutische Arbeit mit Angehörigen schwer psychisch erkrankter Menschen spezialisiert war.

Aufgrund der körperlichen Veränderungen lag nahe, daß Saras Erkrankung organische Ursachen haben könne. Da Sara jedoch jede Untersuchung strickt verweigerte, versuchten wir alles, um gerichtlich eine Zwangsuntersuchung durchzusetzen. Bei der Anhörung schien Sara wie verwandelt: Sie argumentierte brilliant, daß von Krankheit keine Rede sein könne, daß sie einfach den Erfolgs- und Schönheitswahn nicht mehr mitmache, daß sie ein Recht auf ihren Lebensstil habe und sich dagegen verwahre, daß ihre Lebensentscheidungen pathologisiert würden. – Das Gericht lehnte eine Zwangsuntersuchung ab.

Nach und nach stellten sich weitere verzweifelte Angehörige in meiner Praxis ein, die in ganz ähnlichen Fällen Rat suchten. Die Erkrankten waren ausschließlich tüchtige, sportliche junge Frauen: Johanna, 19, eine Ergotherapieschülerin, die die theoretischen Anforderungen der Ausbildung spielend bewältigte, und der man bereits im Praktikum verantwortungsvolle Aufgaben übertragen hatte; Stefanie, 24, eine Jurastudentin, die sich bereits ein Renomme´ in der ehrenamtlichen Rechtsberatung für Studenten erarbeitet hatte; Jaqueline, 28, die Filialleiterin eines Supermarktes, die frisch mit einem jungen Installateurmeister verheiratet war; Judith, 20, eine Hotelfachfrau, der wegen ihres Engagements schon in der Lehre die Weiterbeschäftigung zugesagt worden war, und die jetzt kurz vor ihrer ersten betriebsinternen Führungskräfteschulung stand: Innerhalb weniger Tage hatte sich bei allen scheinbar grundlos eine mürrische Stimmung verfestigt, mit der sie sich überall unbeliebt machten, sie wurden nachlässig in ihren Aufgaben, verspielten in wenigen Wochen ihren guten beruflichen Leumund und nach zwei Monaten waren sie ihrer Aufgaben enthoben worden. Sie hatten ihre Interessen verloren und sich von allen Menschen zurückgezogen, saßen, aßen und starrten, und wurden auf die gleiche groteske Weise unförmig adipös. Ihre Intelligenz trat nur noch dann zutage, wenn es darum ging, ihren Zustand bissig zu verteidigen und jeden Gedanken an Erkrankung, Untersuchung und Behandlung brüsk zurück zu weisen. Die Feindseligkeit, die sie dabei zeigten, erlebte ich bei allen als so eigentümlich und erschreckend „giftig“, daß es jenes merkwürdige Gefühl tiefsten Abscheus auslöste, das mir unerklärlich blieb.

Die Angehörigen mußten diesen Verfall hilflos mit ansehen. Er kam zwar nach einigen Monaten zum Stillstand, allerdings waren die jungen Frauen dann äußerlich und persönlich völlig verändert. Ihre Eltern und Partner waren fassungslos, ja verstört, und ich musste selbst jedes Mal gegen Tränen ankämpfen, wenn ich sah, wie diese Krankheit die jungen Menschen zurichtete.

Je mehr ich über die Erkrankten nachdachte, desto unabweisbarer wurde meine Überzeugung, es mit einem bisher unbekannten psychiatrischen Krankheitsbild zu tun zu haben. Meine Vermutung, es könne das Vorstadium einer Schizophrenie sein, bestätigte sich nicht: die erwarteten Symptome blieben aus. – Als nächstes hatte ich erwogen, ob es sich um eine schwere Depression handeln könne. Doch dazu paßte nicht, daß die Kranken offenbar keinen Leidensdruck verspürten. Sie bestritten ihr Leid und gaben vor, die Veränderungen, die an ihnen vorgingen, für völlig gesund und normal zu halten. Außerdem war ihre Antriebslosigkeit nur teilweise gehemmt: Sie schienen nicht die geringsten Schwierigkeiten zu haben, alles, was zu einem gesunden Lebensvollzug nötig war, zu leisten – allerdings auch keinen Schlag mehr: Sie gingen einkaufen, ja, sie erledigten sogar die niedrigen Arbeiten, zu denen das Arbeitsamt sie heranzog, und alle verschafften sich ausreichend Bewegung. Zur Depression paßte auch nicht die überraschende Steigerung von Antrieb und Aggressivität sobald es um die Verteidigung ihres Lebensstiles ging. Dieser Elan war rätselhaft, weil er völlig dem dumpf-hinbrütenden Zustand widersprach, in dem sich die Kranken die meiste Zeit befanden. – Es mußte sich um eine Krankheit handeln, die sich durch hochselektive hirnorganische Ausfälle auszeichnete.

Doch die Erforschung der Krankheit kam nicht in Gang: Die Betroffenen lehnten rigoros jede Art von Blutentnahme oder Urinprobe ab, wie auch sämtliche Arten von bildgebenden Verfahren. Eine antipsychotische Medikation, die Frank Sara heimlich ins Essen mischte, hatte auf die Symptomatik keinen Effekt. Sie führte nur dazu, daß Sara die Beeinträchtigung bemerkte und Anzeige wegen Körperverletzung stellte. Das hätte für Frank zum Entzug seiner Behandlungserlaubnis führen können. Da Sara die für den Nachweis erforderliche Blutabnahme jedoch verweigerte, blieb die Anzeige ohne Konsequenzen.

Es blieb völlig rätselhaft, was mit den Erkrankten vorging und was die Ursache war. Meine erste Vorstellung der Krankheit auf einem Fachkongress wurde als Diagnose-Fehler abgelehnt. Dann mehrten sich zwar die Stimmen von Kollegen, die ganz ähnliche Fälle zu Gesicht bekommen hatten, es sprachen aber immer noch gewichtige Gründe gegen eine „neue“ Krankheit, da mußte ich den Skeptikern unter meinen Kollegen recht geben.

So schicksalhaft die Krankheit für die Betroffenen und Angehörigen auch war: wir konnten nichts anderes tun, als die Fälle zu dokumentieren. – Eine Blutabnahme, die ich ernötigt hatte, hätte auch mich fast den Entzug meiner Behandlungserlaubnis gekostet, und dem Labor wurde untersagt, die Untersuchungsergebnisse herauszugeben. Allerdings hatte ich heimlich etwas von dem Blut abgezweigt und anonym analysieren lassen. Dabei wurde eine so stark erhöhte Konzentration von körpereigenen Morphinen und Cannabioiden festgestellt, daß wir erhebliche Zweifel daran bekamen, daß sie wirklich nur körpereigen waren. Zusammen mit der Symptomatik legte dieser Befund nahe, daß wir es mit einer Substanzabhängigkeit zu tun hatten, mit der Abhängigkeit von einer noch unbekannten Droge, die zu einer übersteigerten Ausschüttung körpereigener suchtpotenter Substanzen führte. – Allerdings hielten Frank und ich es für völlig ausgeschlossen, daß Sara Drogen genommen und die Kontrolle darüber verloren haben könnte. Selbst wenn ihr so etwas passiert wäre, hätte sie es zugegeben und sich Hilfe geholt. Wer Sara kannte, dem schien jede andere Vorstellung absurd. – Dennoch gaben wir zur Sicherheit eine Warnmeldung an die Presse, daß eine Droge kursiere, die ein denkbar hohes Abhängigkeitspotential besitze und innerhalb von wenigen Monaten zu einer völligen Persönlichkeitsveränderung führen könne.

Bis Ende des Jahres hatte ich mit Hilfe des Sozialpsychiatrischen Dienstes etwa 30 Fälle dokumentiert. Die Statistiken des Arbeitsamtes wiesen eine auffällige Zahl junger Frauen aus, die trotz guter Qualifikation fristlos entlassen worden waren. Diese Zahl ließ eine doppelt so hohe Dunkelziffer vermuten. Aber aufgrund der Zweifelhaftigkeit der Diagnose und der Seltenheit, aber vor allem, weil im Jahr darauf kein weiterer Fall mehr bekannt wurde, wurde es still um meine „Entdeckung“. Die Fachwelt zeigte kein Interesse daran, der Sache weiter nachzuforschen. Falls wir es nicht mit einer Drogenabhängigkeit zu tun hatten, mußte es sich bei dem Krankheitsbild um eine jener marginalen „Anomalien“ handeln, über die sich den Kopf zu zerbrechen für die Wissenschaft nicht sinnvoll ist.

Im Laufe des folgenden Jahres zog Sara auf Betreiben von Franks Vater in eine eigene Wohnung. Dort lebte sie dumpf vor sich hin. Telefon und Internet hatte sie nicht, auf Klingeln reagierte sie nicht. Frank hatte anfangs einige Male stundenlang vor ihrer Tür gewartet, nur um mit einem schlagenden „Laß mich gefälligst in Ruhe“ abgefertigt zu werden. Er reichte schließlich schweren Herzens die Scheidung ein.

2

Nach zwei Jahren erreichten mich ab April 2003 immer häufiger Anrufe von Kollegen aus ganz Deutschland, die merkwürdige Krankheitsfälle mit mir besprechen wollten, auf die das von mir entwickelte Diagnoseschema am besten zu passen schien. Über die Sommermonate stieg die Zahl der Neuerkrankungen alarmierend. Rätselhafterweise handelte es sich bei den Erkrankten wieder ausschließlich um Frauen zwischen 20 und 30.

Bei allen zeigte sich der gleiche Zerfall: Sie verscherzten sich ihren Beruf oder ihre Ausbildung durch unsinnige Kooperationsverweigerungen, verloren das Interesse an Sexualität und Partnerschaft, zogen sich aus allen sozialen Bezügen zurück, wurden grotesk adipös und zeigten die einzigen Anzeichen von Intelligenz in der empörten Zurückweisung des Ansinnens, daß sie krank seien. Die Neuerkrankungsrate war schockierend und überstieg meine schlimmsten Befürchtungen: Jeden Monat kamen 300 manifeste Neuerkrankungen hinzu, am Ende des Jahres hatten wir deutschlandweit über 2000 Fälle zu verzeichnen. Und auch diesmal warteten die Arbeitsagenturen mit Indizien auf, die für eine doppelt so hohe Dunkelziffer sprachen, so daß wir mit 6000 Erkrankten rechnen mußten!

Doch im nächsten Jahr gab es erneut keine Hinweise auf Neuerkrankungen. Daher wurde meine Diagnose wieder angezweifelt und ich galt in der Fachwelt als jemand, der sich bloß durch die Entdeckung einer angeblich neuen Krankheit interessant machen wollte. Welche Krankheit führt nur alle zwei Jahre zu Neuerkrankungen! Ich war mir selber nicht mehr sicher.

Doch dann gab es im Jahre 2005 erneut Fälle – und zwar immer mehr! – bei denen diskutiert wurde, ob mein Diagnoseschema zutreffe. Bis Ende des Jahres wurde deutschlandweit von 12 000 Fällen berichtet und Informationen aus den Arbeitsagenturen ließen weitere 12 000 Fälle vermuten – 24 000 junge Frauen, die gerade mit ersten Erfolgen und besten Chancen ins Erwachsenenleben gestartet waren und nun durch diese Krankheit all ihrer Potentiale und Entfaltungsmöglichkeiten beraubt wurden! Wir waren schockiert! Mit dieser Dynamik fühlten wir uns völlig überrumpelt. Die Fachwelt war aufgerüttelt, um so mehr als uns Eines rätselhaft und unerklärlich blieb: Die Krankheit breitete sich offenbar in zyklischen Schüben aus! Soetwas hatten wir bis dahin noch nie gesehen.

Glücklicherweise nahm die Öffentlichkeit von der neuen Erkrankung kaum Notiz und wenn, dann nur mit Hinweisen auf einen Anstieg von Drogenabhängigen. Uns war diese Darstellung ganz recht, weil wilde Spekulationen nur zu Panik geführt hätten. Zudem gab es noch Zweifel, ob wir es überhaupt mit einer Krankheit zu tun hatten. Es gab Stimmen von Kollegen, die die Frauen zu Heldinnen der Verweigerung stilisierten. Das wirkte aber zynisch, wenn man die Potentiale, die die Frauen im gesunden Zustand gehabt hatten, mit dem einförmigen und simplen Leben verglich, das ihnen die Krankheit ließ. Es ist doch sehr fraglich, ob die Verweigerung aller Beziehungs- und Berufsfähigkeit und die Einbuße aller körperlichen Attraktivität in irgendeiner Weise ein Gewinn genannt werden kann! – Als Krankheitsursache diskutierten wir jetzt neben der Substanzabhängigkeit die Möglichkeit eines Hirntumors, einer Stoffwechselstörung oder einer Infektion.

Wir konnten nichts tun, wir konnten nur abwarten, wie die Epidemie weiter verlaufen würde, wir mußten die Ereignisse nehmen wie sie kamen, egal wie erleichternd oder wie erschreckend sie sein würden. Die Hilflosigkeit war quälend.

Wir bangten um die Zahlen des nächsten Schubes, doch die Neuerkrankungsrate ging 2007 um 50% zurück. Eigenartigerweise schien die Krankheit an den Grenzen der deutschsprachigen Länder anzuhalten. Auf den internationalen Kongressen lachten die ausländischen Kollegen über unsere angebliche neue Krankheit. Sie warfen uns vor, mit deutscher Gründlichkeit in Details stecken geblieben zu sein, dadurch Zusammenhänge aus dem Blick verloren zu haben und eine unsinnige und irreführende neue diagnostische Kategorie schaffen zu wollen.

Dennoch bekam ich als „Entdecker“ dieses Syndroms Mittel und Mitarbeiter zur Erforschung der Krankheit zur Verfügung gestellt. Frank hatte seine Tätigkeit in der väterlichen Praxis fast ganz aufgegeben und arbeitete mit mir zusammen. Doch nach wie vor konnten wir nichts unternehmen als die Neuerkrankungen zu dokumentieren, weil die Erkrankten mit brillianten Argumentationen ihr Recht auf freie Lebensgestaltung einklagen konnten.

Eine entscheidende Wende kam erst, als eine der Betroffenen tödlich verunfallte. Bei der Obduktion fanden wir in der Gebärmutter eine merkwürdige, etwa faustgroße Geschwulst mit einem erbsengroßen Anhang. Die Untersuchung gab Rätsel auf: Es handelte sich um eine  unbekannte, völlig fremdartige Mutation des Gewebes. Das Schlimmste war, daß die Geschwulst über die Ausschüttung bestimmter Substanzen Einfluß auf die Steuerung des Hirnstoffwechsels gewonnen hatte. Das war die Ursache der psychischen Veränderungen. Wie es zu dieser Geschwulstbildung kam, lag völlig im Dunkeln. Hinweise auf eine Infektion gab es nicht.

So schlimm dieser Befund auch war: Es war für uns ungeheuer erleichternd, überhaupt einen zu haben. Wir hofften, die Betroffenen operativ von ihrer Erkrankung befreien zu können und unterrichteten die erkrankten Frauen darüber – doch vergeblich: sie glaubten uns nicht. Sie hielten das ganze für einen manipulativen Versuch, sie zu einem Eingriff zu zwingen. Mit ihrer eigentümlich modulierten Aggressivität behaupteten sie, man wolle ihre Persönlichkeit verändern, man könne ihre freie Entscheidung zu einem von der Norm abweichenden Lebensentwurf nicht respektieren, weil er der Gesellschaft Angst mache. – Interessanterweise argumentierten alle Betroffenen so oder ähnlich, obwohl sie sich weder untereinander kannten, noch irgendeine von ihnen je ein Interesse dafür gezeigt hatte, daß sie nicht die Einzige mit diesem „Lebensentwurf“ war.

Eine Zwangsbehandlung war nach wie vor nicht möglich: Man kann niemanden zwingen, eine Geschwulst, die nicht zum Tode führt, operieren zu lassen. Das Leben der Frauen war zwar fragmentiert, ihre Persönlichkeit verändert, doch erfüllt das nicht die Kriterien der Selbstschädigung, die eine Zwangsbehandlung rechtfertigten.

Wir waren keinen Schritt weiter, weder therapeutisch noch epidemiologisch, wir hatten keine Ahnung, wie es zu der bestürzenden Ausbreitung des Tumors kommen konnte und wie wir sie eindämmen konnten. Wir diskutierten jetzt auch die Möglichkeit eines Umweltgiftes, und ließen die Angehörigen der Betroffenen aufwändig nach deren Lebenswandel befragen. Wir hofften Gemeinsamkeiten zu finden, vielleicht die Benutzung der gleichen Kosmetika oder Nahrungsergänzungsmittel. Doch auch diese Untersuchung blieb erfolglos.

Im Frühling 2009 mailten mir Kollegen aus ganz Europa, ja vereinzelt auch aus Asien und Afrika, wegen seltsamer Erkrankungen. Die gemeinsame Falldiskussion bestätigte in den meisten Fällen meine Befürchtung. Zwar waren – wie bei uns – die Fallzahlen im Jahr der Erstmanifestation gering. Doch die Ausweitung der Epidemie verleidete mir den Sommer. In den Nächten konnte ich nicht schlafen und wanderte ruhelos durch Berlin. Ich sah die ahnungslosen jungen Leute in den nächtlichen Straßencafes. Immer wenn mein Blick auf eine junge Frau fiel, musste ich an Sara denken, wie ihr alle Attraktivität und alle Potentiale zerstört worden waren, wie sie unförmig und dumpf irgendwo im Dunkeln gesessen, vor sich hin gestarrt und ein Klima von Feindseligkeit um sich verbreitet hatte, das giftiger wirkte, als alles zuvor erlebte. – Die Vorstellung, daß eine der jungen Frauen, die mir in all ihrem jugendlichen Elan, ihrer Souveränität und Lebensfreude auffielen, zu den Frauen gehören könnte, die heute in Berlin erkranken würden, war beklemmend. – Wenn wir kein Heilmittel finden würden, würden in einigen Jahren Panik und Chaos über die Welt hereinbrechen. – Der warme Atem der Sommernacht kam mir vor wie ein Pesthauch.

3

Einige Monate nach der Veröffentlichung der Befunde an der Unfalltoten, betrat ein Beamter des BKA mein Sprechzimmer, legte mir ein verschlossenes Dossier auf den Tisch und verpflichtete mich zur Geheimhaltung und zur Teilnahme an einer Konferenz.

Das Dossier berichtete über einen merkwürdigen Fund: Bei Arbeiten an einem Abwasserkanal waren Bauarbeiter auf einen rätselhaften Schacht unter der Wasserlinie gestoßen, der ins Gestein gefräst worden sein mußte. Als sie diesen Schacht näher untersuchten, fanden sie darin die Leiche eines jungen Mannes. Ich lese Ihnen den Befund vor:

Dr. Gerhain, rechtsmedizinisches Institut, Berlin 21.02 2009: „Beim Betreten des Obduktionssaals stellte ich verwundert fest, daß die Leiche noch nicht entkleidet war. Die Assistenten gaben an, die Kleidung lasse sich nicht abstreifen, sie müsse auf der Haut festgeklebt worden sein. Auch der zweite Blick erregte meine Verwunderung: die Leiche sah nicht aus wie eine Wasserleiche sondern wie eine Puppe. Ich vermutete sogleich, hier habe sich jemand einen schlechten Scherz erlaubt. Das erhärtete sich bei meinem ersten Schnitt mit dem Skalpell: das war kein Fleisch! Verärgert schickte ich mich an, zu gehen, als mein Assistent rief: „Schauen Sie mal!“ Ich sah mir die Schnittstelle genauer an: Sie war eigentümlich strukturiert, nicht wie etwas, mit dem man Puppen stopft, sondern wie ein aus Zellen bestehendes Gewebe. Die weitere Untersuchung ergab einen Befund, den keiner von uns glaubte. Ich weiß nicht, wie oft wir in jener Nacht die Untersuchungen wiederholten und schließlich trotz der Dinge, die wir vor Augen hatten, eher an einen Ulk glaubten als unserem Verstand zu trauen. Erst als unsere Befunde am nächsten Tag von zwei Universitäten bestätigt wurden, glaubten wir, was wir gesehen hatten: Es handelte sich nicht um eine Leiche, auch nicht um eine Puppe, auch nicht um einen Menschen. Es sah nur so aus wie ein Mensch. Es war nicht aus Fleisch und Blut sondern bestand aus einem völlig anderen Gewebe und besaß keine inneren Organe, wie wir sie kennen. Und was noch verrückter war: die Kleidung bestand aus dem gleichen Gewebe! – Es war eine völlig unbekannte Lebensform in Gestalt eines bekleideten, auffällig maskulin wirkenden jungen Mannes!“

Soweit der Bericht. Bei der weiteren Erforschung dieses „Wesens“ hatten sie recherchiert, ob ein solches Zellgewebe schon einmal beschrieben worden war, und waren auf unseren Befund zu dem rätselhaften Geschwulst der Toten gestoßen. – Einige Tage später fanden die Arbeiter ein paar hundert Meter weiter einen zweiten „Jungen Mann“. Er glich dem ersten wie ein Ei dem andern und zwar inklusive der Kleidung! Ich muß Ihnen den Schluß aus diesen Tatsachen nicht explizieren.

Wir nannten die Lebensform „Don Juan“ und sprachen nur noch von den „Dons“. Der unwahrscheinliche Befund wurde geheim gehalten, um die Welt nicht in Verunsicherung und Panik zu versetzen, um die „echten“ jungen Männer, die Frauen anflirteten, nicht der Gefahr auszusetzen, gelyncht zu werden, und um das erreichte zivilisatorische Niveau sexueller Unbefangenheit nicht zu gefährden.

Don Juan setzte eine fieberhafte Forschung in Gang. Es lag nahe, daß ein verrückter Wissenschaftler Don Juan im Labor herangezüchtet hatte. Aber nach aufwändigen Recherchen in Datenbanken von Medizin, Polizei und Wasserwerken erhielten wir Befunde, die die Rekonstruktion von Zwischenstufen gestatteten, so daß sich ein evolutionärer Prozeß nachzeichnen ließ: Don Juan war aus einem Hautpilz entstanden, der das Immunsystem ausgetrickst hatte. Dadurch hatte er sich im Menschen sozusagen „frei bewegen“ können und unsere biologischen Möglichkeiten, Erlebnis- und Verhaltensbereitschaften in evolutionären Prozessen von Versuch und Irrtum für sich selbst nutzen „gelernt“, sowie die äußere Gestaltung als hochattraktiver junger Mann entwickelt. Stoffwechsel und Sinnesapparat waren im Vergleich zu tierischen Lebewesen rudimentär, aber das reichte für die beschränkten Zwecke des Pilzes völlig.

Beunruhigend war, daß er über Drüsen verfügte mit einer Flüssigkeit, die ätzender war, als alles was wir bisher kennen. Damit ätzte er sich die Schächte ins Gestein, in denen die Arbeiter ihn gefunden hatten. Aber das war auch eine beängstigende Waffe! – Er war hochgefährlich!

Doch was an den Forschungsergebnissen mit Abstand am meisten beunruhigte, war die hohe Mutationsgeschwindigkeit, die ihm gestattet hatte, in einigen Jahren Entwicklungen zu vollziehen, zu denen andere Lebensformen viele Jahrtausende brauchten! Diese Geschwindigkeit war rätselhaft und stellte alles in Frage, was die Wissenschaft sich bis zu diesem Zeitpunkt vorstellen konnte. Wenn er in so kurzer Zeit über Prozesse von Versuch und Irrtum eine so täuschend echte Mimikry entwickelt und es geschafft hatte, sich an sein Opfer so anzupassen, wie jene Spinnenart, die den Lockduft weiblicher Motten imitiert – wenn er das geschafft hatte: was war dann noch alles an bedrohlichen Entwicklungen möglich? Vielleicht war das, was wir gefunden hatten, ja noch harmlos im Vergleich zu dem, was daraus einmal erwachsen könnte…

4

Wir konnten hochrechnen, daß die Suche nach „Puppen“ in der Kanalisation zu unergiebig war, um der Epidemie Herr zu werden. Hätten wir gewusst, daß wir bei unseren Rechnungen völlig falsche Voraussetzungen angesetzt hatten und es zu diesem Zeitpunkt bereits ein exponentielles Vielfaches unserer errechneten Zahl gab, wären wir in Panik geraten.

Offiziell gaben wir die Krankheit jetzt als Geschlechtskrankheit aus, als kanzerogene Infektion, gegen die man sich durch Kondome schützen konnte. Mehr zu wissen hätte den Menschen ja auch gar nichts genutzt. Die Einstufung als Infektionskrankheit ermöglichte uns darüber hinaus die erste systematische Maßnahme zur Eindämmung der Epidemie: Wir konnten damit erwirken, die erkrankten Frauen auch gegen ihren Willen zu isolieren. Diesen schweren Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte konnten wir mit der Begründung rechtfertigen, daß die Betroffenen wegen ihrer Verleugnung der Krankheit zu keiner Zusammenarbeit bereit seien und deshalb die ganze Kanalisation verseuchen würden. Allerdings konnten wir ausrechnen, daß wir mehrere Jahre brauchen würden, um alle Betroffenen unterzubringen.

Überall wurden Steckbriefe der Klone ausgehangen, offiziell wurden die „Mannsbilder“ als ein und derselbe Kriminelle ausgegeben. Doch wir hatten wenig Hoffnung, die Seuche allein mit Steckbriefen eindämmen zu können, denn wir hatten bereits Don-Varianten gefunden, die anders aussahen, als unser Steckbrief-Don. Deshalb wurde eine weitere Strategie erarbeitet: Es wurden Polizistinnen als „Lockvogel“ ausgebildet. Ich lese Ihnen einen Polizeibericht vor:

Anja Kellhoff, 29, Komissarin, „Operation Lockengel“, Berlin 25.09.2009: „Der Mann fiel auf: hochgewachsen, athletisch, aber ohne aufgeblähte Fitnessstudio-Muskeln. Kein besonders intelligentes aber auch kein dummes Gesicht, es bestach durch seine Ebenmäßigkeit und seine markant männlichen Gesichtszüge. Das kurzgeschnittene Haar war blond, kräftig und strohig, wie eine Aufforderung, mit der Hand hineinzufahren, seine Stimme tief und warm, so daß ich mich am liebsten gleich an ihn gekuschelt hätte. Er trug eine abgetragene Jeans, dazu einen edlen aber unmodernen Rollkragenpulli. Allerdings brachte dieser enge Pulli nicht nur seinen vollendeten Oberkörper optimal zu Geltung, sondern er gab ihm auch den Nimbus eines Mannes, der es nicht nötig hat, Regeln zu folgen, die nicht die seinen sind. Die ganze Gestalt strahlte auf unprätentiöse Weise Souveränität, Überlegenheit und Selbstvertrauen aus. Es schien nichts zu geben, das ihn verunsichert oder in Verlegenheit gebracht hätte. An seiner Seite würde frau sich sicher fühlen, voller Zuversicht, alles gut hinzukriegen, was auch passieren würde.

„Wie schade, wenn der jetzt ein Don wär!“, dachte ich. Er flirtete gekonnt. Immer auffälliger wurde jedoch, daß er auf nichts von dem, was ich sagte, wirklich einging. Seine Erwiderungen waren immer ausweichend, vieldeutig und vage. Das wirkte aber nie arrogant, sondern so, als ob er vermitteln wollte, kein Freund von Small-Talk zu sein, doch es respektvoll zu akzeptieren, wenn jemand über unverbindliche Worte Kontakt aufnehmen will. – Das Reden schien allerdings auch nicht seine Stärke zu sein. Es entstanden öfter Pausen und sein Wortschatz war ziemlich stereotyp. Das verriet ihn, denn es zeichneten sich immer eindeutiger die charakteristischen Don-Sprechmuster ab, auf deren Erkennung ich gedrillt war. Ohne diese Schulung hätte es auf mich so gewirkt, daß er seine Beschränktheit selbstbewußt als seine schwache Seite akzeptieren und meine intellektuelle Überlegenheit schätzen konnte, ohne sich davor zu fürchten. – Er zeigte sich schnell ganz von mir eingenommen, schien alles um uns herum vergessen zu haben und genau zu wissen, was er wollte. Der Eindruck der Naivität, den er vermittelte, erregte die Fantasie, einen Mann vor mir zu haben, der er auf unschuldige Weise ebenso leidenschaftlich wie zärtlich sein konnte, ebenso verspielt wie hingerissen.

Obwohl ich doch wußte, es nicht mit einem Mann sondern einem Monster zu tun zu haben, hatte eine Instanz in mir bereits begonnen, den Kompromiß Zug um Zug aufzuschnüren, den ich längst endgültig für abgemacht gehalten hatte: meiner sexuellen Freiheit die Steigerung von Nähe und Vertrauen in der Partnerschaft vorzuziehen. Dieses verflixte Mannsbild hier machte mir diese Entscheidung in ihrer ganzen existentiellen Bedeutsamkeit so schmerzlich bewußt, daß ich überrascht und beunruhigt war. Längst geschlagen geglaubte Schlachten wurden wiedererweckt, und ich staunte, daß sich nichts, gar nichts von ihrer Heftigkeit verloren hatte!

Ich hatte immer gedacht, eine glückliche Ehe zu führen – jetzt merkte ich, wie sehr es mir gefehlt hatte, mich frei in der Welt bewegen zu können, frei dafür, die Begegnungen mit Männern körperlich nicht immer auf unverbindliche Kontakte drosseln zu müssen. Und all dieses schwärend Ungelebte schien dieses Mannsbild hier zu verkörpern! Meine Ehe schien mir plötzlich langweilig und ich mir selbst eine Närrin des Immer-Gleichen! Ich fragte mich, ob mein Kompromiß nicht ein feiger Selbstbetrug gewesen war, keineswegs die Frucht eines Kampfes sondern die Flucht davor. War ich das wirklich: diese vitale Frau, die sich selbst einsperrt und beschwichtigt?

Als Kind wollte ich immer Piratin werden. Nie hatte ich mir die Butter vom Brot nehmen lassen, das war fester Bestandteil meines Selbstbildes. Und nun sollte ich in einer Ehe versauern und vertrotteln? Der Don weckte Aspekte meiner Identität, die mich von früh an zutiefst definiert hatten und die ich plötzlich in meinem jetzigen Lebenswandel nicht mehr wieder entdecken konnte, keinen davon! Sondern ich schien meine Seele verkauft zu haben – an einen Ehemann!

„Blödi!“, sagte ich zu mir selbst, „das hier ist doch gar kein Mann, der tut doch bloß so!“

Obwohl er deutlich von mir eingenommen war, lag nichts Drängendes im Verhalten des Dons, er schien bereit zur Zurückhaltung. „Der wirkt wie ein Mann, der noch anderes drauf hat, als an Frauen zu denken!“, dachte ich. Hätte ich nicht gewußt, daß es ein Don war, hätte ich das immer sicherere Gefühl bekommen, daß es etwas ganz Unschuldiges sein würde, sich mit ihm zu lieben, nicht weniger unschuldig als ein respektvoller, einander als Mann und Frau anerkennender Blickwechsel.

Ich zögerte wohl zu lange, denn er wandte sich plötzlich einfach ab und ließ mich grob und unhöflich, ohne mich noch eines Blickes oder Wortes zu würdigen, sitzen. Eine zeitlang kämpfte ich mit mir, ob ich mich so weit erniedrigen sollte, ihn zurückzurufen. Ich musste mir erst wieder die Situation und meinen Auftrag klarmachen: „Es ist ein Don, kein Mensch, es ist ein Wesen, das Frauen vernichtet!“ Doch es war zu spät: er schien meine Rufe nicht mehr zu hören – oder nicht zu verstehen…“

Soweit der Bericht der Kommissarin.

5

Ende 2010 wurden wir mit weiteren bestürzenden Forschungsergebnissen konfrontiert, die uns alle Hoffnung nahmen: Kondome nützten nichts, die Klone ätzten sich den Weg frei. Und Operationen des „Tumors“ würden zum Tod der Betroffenen führen: Der Parasit hatte sich derart ins Stoffwechselgeschehen eingenistet, daß seine Entfernung den gesamten Stoffwechsel zusammenbrechen lassen würde.

Kurz darauf, im Frühjahr 2011, gab es europaweit erneut einen pandemischen Schub, heftiger denn je, mit monatlich 8000 neu erkrankten jungen Frauen! Nachdem unsere Hoffnungen auf Kondom und Operation zerstoben waren, war dieser erneute Anstieg um so niederschmetternder, weil wir mit der Bekämpfung und Eindämmung der Epidemie so langsam vorankamen: Ob Absuchen der Kanalisationen oder Aufspüren mit Hilfe von Steckbriefen oder Lockvögeln: die Erfolgsrate war viel zu gering, um die Ausbreitung auch nur merklich zu verlangsamen. Die Karantäne war zwar ein sicheres Mittel, die Fortpflanzung der Dons zu verhindern, und dank der von mir erarbeiteten Phänomenologie hatten wir ein sicheres Diagnoseschema, um die betroffenen Frauen zu erkennen. Doch auch diese Maßnahme kam angesichts der europaweit mittlerweile mehr als 90000 Betroffenen viel zu langsam in Gang.

Aber noch beunruhigender war eine andere Vorstellung: In den afrikanischen und asiatischen Staaten würde die Ausbreitung des Parasiten bald ebenfalls exponentiell ansteigen. Und wegen der mangelnden gesundheitlichen Versorgung war dort nicht einmal gewährleistet, die Betroffenen zu diagnostizieren, geschweige denn, die erforderlichen Karantäneeinrichtungen zu schaffen. Die jungen Frauen würden den Dons hilflos ausgeliefert sein, seine Puppen nach Europa zurückfluten und alle Erfolge hier wieder zunichte machen. Es war ein Alptraum.

Die Tatsachen, die wir bis zu diesem Zeitpunkt über Don Juan herausgefunden hatten, waren ebenso bestürzend wie widerwärtig: Sobald der Klon in der Gebärmutter angelangt war, sterilisierte er die Betroffenen, damit sie nicht mehr schwanger werden konnten. Dann kurbelte der Klon die Ausschüttung der körpereigenen Rauschmittel so stark an, daß die Frauen nur noch ihren Rausch genießen wollten und ihnen alles, was ihnen im Leben wichtig war, völlig bedeutungslos wurde. So wurden ihre Persönlichkeit fragmentiert und zur Fortpflanzung der Dons versklavt. 

Wenn sie reif waren, gingen die Klone in die Toilette ab und verschwanden in der Kanalisation, wo sie sich ihre Puppen-Schächte ätzten. Es folgten abwechselnd Phasen der Nahrungsaufnahme – sie ernährten sich von Exkrementen, organischem Müll und Kadavern – und Phasen der Verpuppung, in der sie nach und nach menschliche Merkmale ausbildeten. Im Körper der Frauen verblieb die nächste Klongeneration: die abgenabelten erbsengroßen „Knospen“, die schon auf den Start ihrer Entwicklung warteten.

Die „Schwangerschaften“ betrugen drei Monate, die „Kindheit“ zwei Jahre, dann waren sie ausgewachsen und krochen aus der Kanalisation, um sich fortzupflanzen. In den ersten Phasen der Nahrungssuche gingen sie auf „Wanderschaft“: sie verbreiteten sich auf dem Wasserwege über ganz Europa und offenbar durch Betroffene, die unmittelbar nach der „Infektion“ noch Fernreisen unternommen hatten, auch in die anderen Erdteile. Die „erwachsenen“ Dons lebten nur wenige Monate: Ab etwa 15 Grad Umgebungstemperatur kamen sie hervor, meist Ende April, und hatten dann noch bis zum Herbst für die „Fortpflanzung“. Auf die Balz gingen sie vorwiegend nachts, tagsüber suchten sie in der Kanalisation nach Nahrung. Sobald es wieder kalt wurde, starben sie.

So primitiv und unbeholfen das auch wirkte: es war hocheffektiv und bösartig wie ein Tumor! Es machte die jungen Frauen regelrecht zu lebenden Toten! Überall auf der Welt waren Frauen geneigt zu Seitensprüngen mit diesem Schein-Mann, diesem Pappkameraden.

Untersuchungen zeigten, daß er dabei immer wieder die gleiche Masche abspulte: die gleiche Blicksequenz mit dem Lächeln an der gleichen Stelle. Diese Masche kam keineswegs bei allen Frauen gut an, außerdem führte sie öfter zu Misserfolg, weil Situationen entstanden, wo einzelne Sequenzen auf närrischste Weise deplaziert wirkten. Wie wir herausfanden, mußten die „Dons“ richtig „ackern“, um zum Zuge zu kommen: Im Durchschnitt sprachen sie pro Nacht 20 Frauen an, hatten aber nur 15 mal im Monat Erfolg. Doch es traten immer neue Varianten auf, mit immer anderen „Maschen“, die immer andere Trends und Typen bedienten, so daß immer weitere Kreise von jungen Frauen in die Falle gelockt wurden.

Es konnte ausgeschlossen werden, daß wir es bei Don Juan mit einer intelligenten Lebensform zu tun hatten. Dafür war der Stoffwechsel zu primitiv. Das, was er im Kontakt mit Frauen abspulte, war keine Kommunikation, er hatte lediglich gestisch-verbale Invarianzen erfolgreichen männlichen Balzverhaltens zu imitieren erlernt, nicht viel anders als ein Papagei Worte. Über imitatorisches Geplapper hinaus war er nicht zum Gebrauch von Sprache fähig, weder zur eigenen Orientierung in der Welt noch zur Verständigung mit Menschen.

Und er schien nicht mal zur Verständigung unter seinesgleichen fähig, ja, daß es so etwas wie Verständigung gab, konnte er offenbar überhaupt nicht erfassen: Er war eine nicht-animalische Lebensform, die durch intentionslose evolutionäre Prozesse sich hatte zu Nutze machen können, daß es bei animalischen Lebensformen Motivation durch Reize gibt. Daß es bei hoch entwickelten animalischen Lebensformen darüber hinaus auch Motivation durch Sinn gibt, das zu erkennen, davon war er trotz seiner unwahrscheinlichen Mutationsfähigkeit noch viele Jahrhunderttausende entfernt.

Übrigens war es die Sprachbarriere gewesen, die die Ausbreitung der Epidemie eine zeitlang aufgehalten hatte. Don Juan war zwar nicht intelligent, hatte aber die Fähigkeit entwickelt, Sprache rudimentär zu entschlüsseln. Das gestattete ihm, in relativ kurzer Zeit zu imitieren, was er von einer „Fremdsprache“ für seine Zwecke benötigte.

Ebenso konnte er sich nach einer Adaptionsphase an kulturelle Unterschiede anpassen. Der gleiche Typ von blondem weißem Mann mit der gleichen Art der Kleidung und den gleichen Umgangsformen war auch in afrikanischen und asiatischen Ländern aufgetreten und hatte natürlich erstmal nur Misserfolge gehabt. Auf anhaltende Mißerfolge reagierte sein Organismus mit Mutationen, die ihm ermöglichten, Sprache, Aussehen und Balzverhalten durch Prozesse von Versuch und Irrtum zu verändern. Einige dieser Veränderungen waren innerhalb weniger Wochen erfolgreich, andere, wie z.B. die Sprache, dauerten zwei Jahre. Wir fanden heraus, daß Dons, die sich nicht fortgepflanzt hatten, mehrere Winter überstehen konnten. Offenbar setzte erst eine erfolgreiche Fortpflanzung die Alterungssequenz in Gang.

Don Juan konnte seine „Lernerfolge“ seinem Genom einschreiben, d.h. erworbene Eigenschaften vererben. Aber er konnte das „Gelernte“ keinen Artgenossen weitergeben, ja es schien, als ob er überhaupt kein Bewusstsein davon hatte, Artgenossen zu haben. Jeder war offensichtlich ganz für sich.

Während Don Juan in vielen afrikanischen und asiatischen Kulturen nach gelungener Anpassung wieder Erfolg hatte, wurde er in den traditionalen islamischen Ländern regelmäßig zerstückelt oder verjagt noch bevor er mit einer Frau anbandeln konnte. Die westliche Kultur wäre vielleicht in die gleiche rigide Sexualmoral zurückgefallen oder zu Grunde gegangen, wäre uns nicht ein glücklicher Zufall zu Hilfe gekommen:

Die sich immer weiter beschleunigende Ausbreitung der Pandemie in Afrika brach plötzlich zusammen, wegen eines tropischen Wurms. Mit Menschen konnte dieser Winzling nichts anfangen. Dons jedoch schien er zu mögen: er bohrte sich in sie hinein, wenn sie sich noch im Puppenstadium befanden, und hauste in ihnen wie die Made im Speck. Mit dem Wurm wurde eine biologische Schädlingsbekämpfung möglich: In den warmen Ländern konnten wir ihn ganzjährig überall ausbringen, in den nordischen Ländern wenigstens in den Sommermonaten.

So ging die Zahl der Neuerkrankungen so drastisch zurück, daß wir uns jetzt an die Öffentlichkeit wenden können, ohne Panik, Unordnung und sexuelle Repression befürchten zu müssen – zumal wir mittlerweile einen Weg gefunden haben, den Parasiten schadlos aus den betroffenen Frauen zu entfernen. Sara und Frank sind bereits wieder zusammen. – Allerdings: Gerade behaupteten einige Parasitologen, das Täter-Opfer-Verhältnis zwischen Wurm und Don habe sich umgekehrt: die inkorporierten Don-Zellen hätten in den Würmern die Herrschaft übernommen… “

Es war kühl geworden. Im Schloß hatte man ein Kaminfeuer für uns entzündet, dorthin zogen wir uns zurück. Eine Weile starten alle schweigend in die Flammen. Meine Frau brach das Schweigen:

„Entfernt erinnert mich Ihre Geschichte an die Novelle „Der Liebestrank“ von Stendhal“.

„Nein“ – warf ich ein – „eher an die Geschichte „Der Goldene Mann“ von Phil Dick“.

„Ich denke auch“, fügte ein mitdreißigjähriger Maschinenbauingenieur hinzug, „die Idee Ihrer Geschichte ist keineswegs originell. Ich glaube, Sie haben sie aus den Alienfilmen von Ridley Scott, vor allem aus dem letzten, „Prometheus“.

„Nein“, wandte ein pensionierter Lehrer ein, „die Idee ist weit älter! Denken Sie an Leda und den Schwan!“

„Oder an die Jungfrau Maria“, lachte ein beleibter Mathematikprofessor, der allgemein als Spötter aufgefallen, im Grunde aber gutmütig war.

„Fallen den Herren wirklich keine anderen Kommentare zu dieser Geschichte ein als urheberrechtliche?“ beschwerte sich eine ältere Dame.

„Oh nein, das hat nichts mit Urheberrecht zu tun“, dozierte der Lehrer, „sondern es geht darum, verwandte Ideen aufzuspüren, um daraus etwas darüber zu lernen, was alle Menschen immer wieder beschäftigt. Man nennt das: „Intertextualität“.

„Wir nennen das Abwehr“, schaltete sich der Psychiater ein, „vielleicht haben wir Männer einen erhöhten Abwehrbedarf bei solchen Geschichten“.

Hier meldete ich mich zu Wort: „Vielleicht weil wir Weiblichkeit als eine uns überlegene mythische Kraft erleben, die uns über das Erotische hinaus weit mehr beschäftigt, als uns bewusst ist! – Schließlich ist das Weibliche ja das Ursprünglichere und das Männliche ist mit der Sexualität nur entstanden als Schutz vor Parasitenbefall: um die Kinder mit zwei Abwehrsystemen auszustatten, statt mit einem.“

Der Mathematikprofessor grinste: „Klar, die Hälfte aller höheren Lebensformen musste wegen Bazillen auf Gebährfähigkeit verzichten, und ritterlich wie wir Jungs sind, haben wir das auf uns genommen!“

„Die Männer sind alle Mutanten“ lachte die alte Dame gellend dazwischen. Sie mußte in ihrer Jugend eine hochattraktive Frau gewesen sein, ihre schönen und geistreichen Gesichtszüge waren immer noch ein Blickfang.

Meine Äußerung kam mir nach diesen Kommentaren ziemlich deplaziert vor, zumal auch der Psychiater nicht darauf einging. Er hatte offenbar etwas anderes im Sinn gehabt. Doch nahm die Unterhaltung eine unerwartete Wende:

Der Lehrer war Katholik und gab jetzt seinem Unmut über die blasphemische Darstellung der unbefleckten Empfängnis Ausdruck. Obwohl keiner der anderen Gäste religiös war, bekam er in der sich daraus entwickelnden Diskussion von allen Seiten Recht, und der Professor entschuldigte sich für seinen unbedachten Spott. – Allerdings war herrschende Meinung in der Runde, daß sich die traditionellen Religionen nicht wundern brauchten über Impulse, sie bissig zu kommentieren, zu krass sei die Diskrepanz zwischen ihrem Absolutheitsanspruch und ihren zunehmend als seltsam erlebten Lehren. An Gott zu glauben könne ein Ungläubiger ja vielleicht noch nachvollziehen, aber Dreifaltigkeit, Erbsünde und unbefleckte Empfängnis forderten  zu spöttischen geradezu Bemerkungen auf.

„Das Seltsame als Freiwild? Wo leben wir!“, gab der Lehrer zu bedenken, „dann sind wir nicht mehr weit davon entfernt, über Gehbehinderte, zu lachen!“

Wer dem Lehrer am heftigsten zustimmte in seiner Forderung nach Respekt vor dem Seltsamen, war der Psychiater. „Und dieser Respekt ist kein Almosen sondern ein Gebot der Desillusionierung. Vieles an Menschen, das Impulse auslöst, es zu belächeln und abzuwerten, ist rein vordergründig und sagt nichts über den ganzen Menschen. – Eigenartigerweise wissen das eigentlich alle, selbst die Kinder oft schon. Dennoch hat das Vordergründige diese seltsame Macht, uns entgegen unserer Lebenserfahrung dazu zu bestechen, unseren reflexhaften Wertungen Glauben zu schenken.“

Während unserer Unterhaltung hatten sich noch andere Gäste zu uns gesetzt. Sie wollten wissen, über was für eine Geschichte wir sprachen. Ich sagte: „Eine Geschichte darüber, daß man nie wissen kann, wen man vor sich hat!“ Die andern lachten. Jemand von den neu hinzugekommen Gästen, der es schade gefunden hatte, die Erzählung des Psychiaters verpaßt zu haben, fragte, ob er nicht noch eine Geschichte wisse. Die andern fanden, es sei zwar schon recht spät, aber eine kurze Geschichte gehe noch.

„Nun, da hätte ich noch eine“ lächelte der Psychiater und begann:

(„Schmetterlinge“ wurde 2010 veröffentlicht.)

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„Psychiatergarn“ ist ein Zykus von aktuell 6 Geschichten, verbunden durch eine Rahmenerzählung. –

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