Die Zivilisatoren

Daniel Seefeld  

Die Zivilisatoren

Bericht von Opa Artur für seine Enkel, Berlin den 25.08.2097 – Lesezeit: 14 Minuten

 

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Sie waren nicht halb so überrascht wie wir, als sie uns entdeckten, aber sie fanden das nicht aufregend sondern bloß nervig, und versuchten, das Beste draus zu machen.

Ganz sang- und klanglos hatten sie sich an einem Dienstag um Zehn nach Eins über alle elektronischen Medien gleichzeitig gemeldet, um uns vor vollendete Tatsachen zu stellen. Selbst die hochrangigsten Politiker erfuhren es nur aus dem Fernsehen. Empfänge mit den maßgebenden Staaten- und Wirtschaftslenkern, Wissenschaftlern und Geistesgrößen lehnten sie gelangweilt ab. An Verhandlungen war gar nicht zu denken. Innerhalb von 24 Stunden hatten sich die Lebensumstände der Menschheit völlig verändert.

Dabei waren sie nur auf der Suche nach einem Leckerbissen gewesen! Ihre Langstreckenskanner hatten alle Lebensformen der Erde auf Schmackhaftigkeit untersucht, und nur darauf! Es hatte gar nicht auffallen können, daß eine dieser Lebensformen – wir nämlich – intelligent war. Glücklicherweise schmeckten wir ihnen nicht. Sie hatten es nur auf Hähnchenküken abgesehen. Komischerweise ausgerechnet Hähnchenküken.

Auch die Radiowellen, die wir unabsichtlich ständig in den Weltraum emittieren, waren ihnen nicht aufgefallen. Da ihre Lebensvollzüge 6,223 mal schneller als unsere ablaufen, hätten sie ohne gezielte Aufmerksamkeit keine nicht-natürlichen Emissionen bemerken können. Sie hatten erst, als sie Sichtkontakt bekamen, gesehen, was auf der Erde los war. – Daß es dort eine intelligente Lebensform gab, war für sie genauso lästig, wie für einen Straßenplaner, wenn sich herausstellt, daß die Trasse mitten durch die Laichgründe einer seltenen Krötenart führt.

Sie nannten sich „die Marla“ und waren eine sehr alte Lebensform, vermutlich eine der ersten Intelligenzen im Universum. „Marla“ heißt übersetzt „Klughirn“. Sie nannten jede intelligente Lebensform „Marla“, aber unter Hinzufügung eines Suffixes und eines Indexes. Wir hießen: „Marlaprött IIIc“, das heißt soviel wie: Krüppelklughirn drittletzten Ranges mit wenig Entwicklungspotential. Selbst die Analyse von Beethovensinfonien und Bachfugen hatte die Marla nicht begeistern können. Sie hatten nur müde konstatiert, daß diese Artefakte Anzeichen einer gewissen, schwach bis mäßig ausgeprägten Intelligenz erkennen ließen. – Der einzige Mensch, den sie ernstgenommen hätten, wäre Kant gewesen. Sein Hinweis, daß die von ihm aus der Struktur der Vernunft abgeleiteten ethischen Prinzipien Gültigkeit für alle vernünftigen Wesen hätten, hatte sie erstaunt. Sie verstanden das förmlich als eine Anspielung auf ihre Existenz und sie wären geneigt gewesen, Kant für einen hellsichtigen Mutanten zu halten, hätten sie nicht gewußt, daß Hellsehen nicht möglich ist.

Jedes Individuum der Marla hatte eine Lebensspanne von etwa 300 Erdenjahren. Aber da sie mehr als sechsmal so schnell wie wir dachten, stand ihnen zur geistigen Entwicklung ein Zeitraum zur Verfügung, der für Menschen fast 2000 Erdenjahren entsprach! – Kein Wunder, daß unsere größten Genies als Gesprächspartner für sie genauso uninteressant waren, wie für einen Quantenphysiker ein Schulkind, das gerade die vier Grundrechenarten beherrscht.

Evolutionär war ihre Spezies aus Gemeinschaften röhrenartiger Weichtiere hervorgegangen, die kugelförmig zusammengewachsen waren, zu einem Wesen mit fließender Verformbarkeit, ähnlich unserer Kraken. Eine Mutationslinie hatte zu neuronalen Arbeitsteilungen zwischen den Segmenten geführt, die die Multiindividualität immer weiter reduzierten und schließlich zu einem vereinten hochkomplexen Nervensystem zusammenwuchsen. Gleichzeitig entstand eine Symbiose zwischen den mittlerweile 3 Meter Durchmesser betragenden Kugeltieren und einer Spinnen- oder Krebsartigen Tierart. Die Spinnenkrebse hatten sich ursprünglich an die äußeren Röhren nur festgekrallt, bis eine evolutionäre Linie der Röhrentiere begann, mit den Spinnenkrebsen zu verwachsen. In einer Co-Evolution beider Tiere drangen über diese Verwachsung Nerven der Röhrentiere in die Spinnenkrebse, so daß die Röhrentiere die Spinnenkrebse steuern und deren Sinnesinformationen nutzen konnten. Mit dieser Symbiose verfügte das Röhrentier über die Voraussetzungen, die Urmeere zu verlassen und sich an Land weiterzuentwickeln: ein fließend verformbares Kugelwesen mit über hundert sehenden Werkzeughandfüßen. Die dadurch ermöglichte „Handwerklichkeit“ („Operationalität“) wirkte auf die Hirnentwicklung zurück und brachte schließlich Intelligenz hervor.

Die Nachkommen der Marla wuchsen zunächst ohne Symbionten auf und wurden ab einem bestimmten Alter mit Ablegern der Symbionten bestückt. – Das war eines der größten Feste im Leben einer Marla: wenn sie ihre Symbionten bekam!

 

2

Doch, was ich eigentlich berichten wollte:

Sie waren eine Händlerkultur. Und plötzlich total versessen auf Hähnchenküken.

Und sie fanden, daß wir Menschen uns keinen besonders sinnvollen und produktiven Tätigkeiten widmeten. Sie fanden, daß wir vernünftigere Dinge tun sollten, statt mit primitiven Rechenarten herumzuspielen, uns geschäftlich gegenseitig übers Ohr zu hauen oder gar den Schädel einzuschlagen. Wir sollten uns lieber intergalaktisch nützlich machen, gemäß unseren Befähigungen. Sie wollten eine win-win-Situation herstellen, von der sie glaubten, daß das für uns eine ganz große Chance sei. Aus ihrer Sicht wollten sie nur unser Bestes: uns die Möglichkeit verschaffen, intergalaktisch gültige Devisen zu verdienen, damit wir uns die Mittel für ein würdiges Leben selber finanzieren könnten. – Denn wenn sie uns auch nicht für sehr intelligent befanden: wir gehörten zur Kategorie der Marla, zu den intelligenten Lebensformen! Das erkannten sie nicht nur an, sondern sie forderten auch, daß wir wie eine solche leben sollten, Pröttung hin oder her. Und ein Leben ohne Totalroboterisierung galt ihnen für Intelligenzen als entwürdigend.

“Totalroboterisierung“ bedeutete: daß sämtliche unangenehmen Tätigkeiten – sämtliche! – von Maschinen übernommen wurden, damit alle Zeit zur Vermehrung des Geldes zur Verfügung stand, oder – falls es mal keine Geldvermehrungsmöglichkeit gab – zur Beschäftigung mit allem, was lustvoll und faszinierend war. – Es gab selbst Maschinen zum Entwerfen von Maschinen, so daß man nur ein Problem zu nennen brauchte und binnen kurzem eine maschinelle Lösung bekam. – Die einzige „Pflichttätigkeit“ bestand nur noch darin, zu lernen, die Maschinen zu verstehen, das wollten die Marla sich nicht aus der Hand nehmen lassen und auch nicht an eine Kaste von Ingenieuren delegieren, denn darin hätten sie eine Gefährdung ihrer Demokratie gesehen.

Über Nacht war die Welt totalroboterisiert und die Menschheit bei den Marla hochverschuldet. Wir mußten die Schulden abarbeiten. Doch wie hätten wir uns nützlich machen sollen? Alles, was wir konnten, konnten sie selber weit billiger und besser als wir, selbst wenn wir unentgeltlich gearbeitet hätten. – Die Marla fanden schließlich wenigstens eine Beschäftigungsidee für uns Männer. – Sie befanden, daß die Männer sowieso bloß biologisch outgesourcte Funktionen hatten, ähnlich wie Maschinen, deshalb durften sie bei Totalroboterisierung den Frauen auch weggenommen werden.

Die Aufgabe, die sie für uns ersonnen hatten, war: Wir sollten Werbung machen für Hähnchenküken, in allen bekannten Galaxien.

Alle männlichen Menschen ab dem 6. bis zum 60-zigsten Lebensjahr wurden in dottergelbe flauschige Kapuzenoveralls gesteckt, nur das Gesicht blieb frei. Die Kükenkostüme waren bauchig ausgestopft, die Flügelchen am Oberarm weit, die Beine eng eingeschnürt. Kurz: Die athletischen Männer hatten, was das Aussehen anbetraf, die größten Nachteile, nichts, aber auch gar nichts von ihrer ausgeprägt maskulinen Gestalt kam zur Geltung, wir sahen alle gleich lächerlich aus. Eine größere Verteilungsgerechtigkeit bezüglich körperlicher Gegebenheiten hat es in der Geschichte der Menschheit wohl nie gegeben.

Unsere Arbeit bestand darin: Wir mußten vierzehn Stunden lang an irgendwelchen Ecken intergalaktischer Einkaufzentren herumstehen und in festgesetzten Intervallen stolzieren, tanzen und krähen. Verweigerung wurde mit Lohnkürzung bestraft. Das bedeutete nicht nur: den Schuldendienst der Menschheit zu verlängern, sondern auch: hungern zu müssen, nur ein wenig zwar, daß es nicht schadete, aber genug, um sich ständig unbehaglich zu fühlen. Anfangs wurden die Verweigerer von den andern Männern bewundert und selbstverständlich mit durchgefüttert. Doch im Laufe der Zeit fanden es immer mehr Nicht-Verweigerer ungerecht, dafür aufzukommen, daß die Verweigerer sich wie Helden fühlen durften.

Vierzehn Stunden Arbeitszeit schienen den Marla gerechtfertigt, weil sie davon ausgingen, es handle sich mehr um Spiel und Clownerei als um Arbeit und mache uns doch bestimmt Spaß. – Doch wie man auch immer diese Tätigkeit erlebte: Keinem gelang es, in den wenigen Freizeitstunden noch lange die Augen offen zu halten. Kulturelle und geistige Aktivitäten waren selbst den Leistungsfähigsten kaum noch möglich. Auch bei denen waren Intelligenz, Erlebnisfähigkeit und Kreativität wegen der Chronifizierung von Schlafmangel und Erschöpfung so stark beeinträchtigt, daß ihr Schaffen und ihre Entwicklung fast ganz zum Erliegen kamen.

Es bestand auch keine Aussicht auf Freiheit im Rentenalter: Wir wurden mit high-tech Nahrung ernährt, die den Alterungsprozess ab dem 25. Lebensjahr um 80% verlangsamte. Unsere Lebenserwartung verlängerte sich dadurch allerdings kaum. So blieben wir arbeitsfähig bis ins höchste Greisenalter. – Nur die Männer, die bei Ankunft der Marla älter als 55 waren, hatten das Glück, daß sie das Ende ihrer Arbeitsfähigkeit noch bei lebendigem Leibe erlebten. Denn ab den Altersmerkmalen des 60-zigsten Lebensjahres fanden die Marla uns nicht mehr werbewirksam. Aber bei dem nahrungsinduzierten Schneckentempo des Alterns musste selbst ein 55 Jähriger noch 20 Jahre arbeiten, bis er wie ein 60zig Jähriger wirkte.

Übrigens handelte es sich um Flüssignahrung: ein paar Schluck zwischendurch reichten schon, um so satt zu werden, daß Überernährung nicht möglich war. Wichtiger für die Marla war jedoch, daß sie der Ansicht waren, für ein Kulturwesen sei es unwürdig, Blätter, Früchte, Samen oder Fleisch zu essen, wie Tiere. Und das sahen sie durch die unbestreitbaren Nachteile einer niedrig-kultivierten Ernährung eindeutig erwiesen: Neigung zur Überfütterung, natürlicher Alterungsprozess, bedeutender Zeitverlust.

Mein Vater war bestrebt, wenigstens mit bedeutenden Menschen zusammen in einer Kükenkolonne zu dienen. So sah ich den berühmten jungen Pianisten A., Liebling der Frauen, den 50-jährigen Philosophieprofessor M., der bei Ankunft der Marla gerade an seinem Opus Magnum arbeitete, den tonangebenden Schriftsteller B., mehrere bedeutende Physiker, einen Intendanten und etliche bekannte Schauspieler, die ihre Maskulinität professionell gepflegt hatten. Sie alle liefen nun in diesen unförmigen lächerlichen Kostümen herum, um von Zeit zu Zeit zu stolzieren, zu tanzen, zu krähen.

Keinem von ihnen gelang es, die Sache mit Humor zu nehmen. Aber das wäre wohl auch zu viel verlangt gewesen, zumal wir aus anderen Kolonnen wußten, daß selbst den Humorvollsten der Humor nach einiger Zeit vergangen war.

 

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Die Marla hatten ein System von Wurmlöchern geschaffen, so etwas wie eine intergalaktische U-Bahn. Die Reise zur nächsten Wurmlochstation betrug meist weit länger, als die Reise von einem Wurmlochende zum anderen. Oft mußte man die Wurmlöcher wechseln und die Entfernung zwischen zwei Wurmlöchern wieder mühselig mit Lichtgeschwindigkeit zurücklegen. Das fühlte sich an, wie Schienenersatzverkehr mit Bussen.

Die Erde war weit ab vom Schuß, wir galten als Hinterwäldler: bis zum nächsten Wurmloch war man 3 Monate unterwegs! Für unsere entferntesten Einsatzorte mußten wir wegen der leidigen Umsteigerei über 2 Jahre reisen! – Weil wir alle Anrecht auf Erdurlaub hatten, gab es eine ständige Rotation der Einsatzorte, und jeweils die Kollegen des erdnächsten Einsatzortes konnten sich auf baldigen Urlaub freuen – alle 6 Jahre einen Monat. – Damit es stetigen Nachwuchs gab, wurden Spermienkonserven angelegt.

Übrigens fanden die Marla es etwas furchtbar Umständliches und Aufwändiges, wegen der Kombination von Genen Sexualität entwickelt zu haben, mit der Konsequenz, daß nur die Hälfte einer Spezies Nachkommen produzieren konnte. Schon allein deshalb konnten sie die Männer nicht recht ernst nehmen. – Allerdings gab ihnen der Einwand eines Berliner Baggerführers zu denken: „Wat is denn daran nu wenija umständlich und uffwändich, wenn man statt die Hände Spinnen festjewachsen hat?“

Sie sahen außerdem ein, daß es nicht artgerecht sei, uns bis zu unserem Urlaub auf Sexualität verzichten zu lassen. Deshalb bekamen Männer wie Frauen naturgetreue Puppen. Die mussten wir natürlich extra bezahlen, und sie waren nicht billig, denn sie waren so aufwändig gemacht, daß man sie nicht nur optisch mit lebendigen Menschen verwechseln konnte. Und alle Menschen ab dem 16. Lebensjahr, männlich wie weiblich, mussten eine solche Puppe kaufen. Die intergalaktische Lobby der Medizinproduktehersteller hatte medizinische Gutachten in Auftrag gegeben, die erwiesen, daß der Puppensex gesund für Männer wie Frauen sei, und daß wir ohne ihn auf Dauer krank und zum Kostenfaktor würden. Und damit keiner aus Geiz seine Gesundheit vernachlässige, hatten sie die Einführung einer Puppenpflicht erwirken können. Die Befürchtung der Puppenlobby, daß Geizkrägen lieber auf Sex verzichten als eine Puppe kaufen wollten, war nur allzu berechtigt, da die Puppen als Medizinprodukt besonderen Preisgestaltungsmöglichkeiten unterlagen, auf deren Ausreizung natürlich kein vernünftiger Produzent verzichtete.

Als die Homosexuellen gegen die Puppenpflicht protestierten, sahen die Marla ihren Protest im Prinzip als gerechtfertigt an, und billigten ihnen zu, sie von der Puppenpflicht zu befreien, wenn sie ihre Homosexualität objektiv, d.h. hirnphysiologisch nachweisen könnten. Denn sonst könne ja jeder behaupten homosexuell zu sein und sich damit vor der Puppenpflicht drücken. Die Marla versprachen, auf Verlangen die für den Nachweis erforderlichen Diagnoseinstrumente schleunigst zu bauen, die Homosexuellen müßten sie aber bezahlen. Einen weiteren Kredit könnte man ihnen dafür jedoch nicht gewähren. – Da solche Geräte sehr teuer waren, und wir nach Abzahlen unserer Raten kaum noch Geld übrig hatten, hätte die Gesamtheit der Homosexuellen 100 Jahre sparen müssen, um eine flächendeckende Diagnostik zu ermöglichen.

 

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Unsere Einwände, wie wichtig für uns das Schaffen von Musik und Literatur, die Pflege der Wissenschaften usw. sei, fanden sie genauso wenig stichhaltig, wie wir die Argumente von Heranwachsenden, daß ihre Lieblingsbeschäftigungen wichtiger seien als Schule und Hausaufgaben. – Ernster nahmen sie schon unseren Einwand bezüglich der Sexualität: Wir hatten sie darüber aufgeklärt, daß Erotik nur ein Aspekt von Partnerschaft sei, und außerdem eine ganzheitliche personale Begegnung: ohne die Anerkennung, die aus gegenseitiger persönlicher und erotischer Faszination resultiere, sei sexuelle Betätigung höchstens ein billiger Spaß, und bleibe in jedem Fall unbefriedigend. – Jedoch die Marla betonten: Da sie Sexualität nicht nachvollziehen könnten, könnten sie auch nicht wissen, ob wir ihnen nicht bloß etwas vorflunkern würden, um uns vor der Puppenpflicht zu drücken.

Auf der Erde florierten Kultur und Wissenschaften: Alle Frauen waren bereits nach 12 Jahren optimal gebildet, weil ihnen alle für den Lebensunterhalt und die Haushaltsführung nötige Tätigkeit von den Maschinen abgenommen wurde. Und da es für sie keine Möglichkeit gab, Geld zu verdienen, konnten sie sich voll und ganz der Kultur und den Wissenschaften widmen. – Es zeigte sich übrigens, daß selbst die ungebildetsten Frauen nach einiger Zeit die Bildung der Unterhaltung vorzogen: wenn sie einmal auf den Geschmack gekommen waren, fanden sie Bildung einfach spannender und waren empört, was ihnen bisher vorenthalten worden war.

Viele Männer, die aufgrund der Klassenunterschiede keine Chance gehabt hatten, sich geistig und intellektuell ihren Potentialen gemäß zu entwickeln, fanden das Exil gar nicht mal so übel: Sie hatten sowieso keine Perspektive gehabt, waren arm und arbeitslos gewesen oder hatten unter monotonen, unterfordernden, entnervenden und unkreativen Arbeiten gelitten. Jetzt hatten sie eine Arbeit, über die sie wenigstens lachen und bei der sie herumblödeln konnten. Und sie hatten eine lebensechte erwärmbare Gummipartnerin mit Moddelmaßen: An Frauen, die so aussahen, hätten die meisten nicht im Traum zu denken gewagt, zumal an solche, die nicht quatschten, nicht zickten und keine Ansprüche stellten, und die man einfach tauschen konnte, wenn sie langweilig wurden.

Doch für jene Männer, die anspruchsvolle, herausfordernde, qualifizierte und hochqualifizierte Tätigkeiten innegehabt und viel Verantwortung getragen hatten, war die neue Tätigkeit eine Hölle. – Viele Berufe wären allerdings sowieso völlig überflüssig geworden: Ärzte und Ingenieure wurden durch Maschinen ersetzt, die die Arbeit weit effektiver erledigten, als es menschliche Kunstfertigkeit je zuwege bringen könnte. Selbst die Psychotherapeuten wurden unnötig: Mit Hilfe des marlaschen Gesundheitsdienstes wurden in kürzester Zeit Computerspiele entwickelt, mit denen sich nachweislich Ängste, Depressionen und Süchte weit effektiver behandeln ließen, als durch humanbasierte Psychotherapie.

Wegen der Arbeitszeiten schafften es aber auch die Wissenschaftler, Philosophen und Künstler nicht mehr, bedeutende Leistungen in ihren alten Berufen zu erbringen. Sie hinkten dem Niveau der Frauen immer hinterher.

Aber noch weit schlimmer war die Situation für die nachwachsende Generation begabter und leistungsfähiger Männer: Selbst die hochbegabtesten Jungen hatten keine Chance, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Wir müssen davon ausgehen, daß der Menschheit einige Mozarts und Goethes dadurch verloren gegangen sind. – Sicher: dafür wissen wir jetzt, wieviele weibliche Genies der Menschheit durch die patriarchalische Beschränktheit verloren gegangen sind: Wir haben jetzt – in diesem kurzen Zeitraum – mehr bedeutende geniale Frauen als je!

Doch für die jungen Männer war die Situation noch weit furchtbarer als für ihre Väter: Gegenüber dem, was die Frauen auf der Erde schufen, war alles, was sie leisten konnten reiner Dilletantismus. Selbst die größten Genies konnten nicht viel aus ihrer Begabung machen und ihre Werke blieben sogar hinter denen durchschnittlicher aber professioneller Künstlerinnen, Philosophinnen und Wissenschaftlerinnen so weit zurück, daß sie einfach unnötig waren.

 

5

Natürlich hatten die Marla uns über unsere Rechte informiert, denn auf ihr Recht waren sie noch stolzer als auf ihre Technik; und selbstverständlich hatten wir gegen ihre Maßnahmen ein Widerspruchsrecht. Das nutzten wir auch: Wir machten geltend, daß wir freiwillig keine Maschinen von ihnen gekauft hätten und schon gar nicht auf Kredit, zumal wenn das für die Hälfte der Menschheit einen sklavenartigen Schuldendienst nach sich ziehe. Wir argumentierten, daß Zwangsarbeit für Menschen entwürdigend sei, zumal so alberne.

Diese Einwände wurden von der Widerspruchsstelle dem Prinzip nach anerkannt und es wurde uns zugestanden, eine einstweilige Verfügung zu beantragen. Das änderte aber nichts daran, daß die Maßnahmen erst mal vollzogen wurden. Denn, so argumentierte ihr Justiziar, es sei zu unwahrscheinlich, daß unsere Ansprüche Erfolg haben könnten. Weit naheliegender sei, daß wir völlig illusioniert darüber seien, was gut, artgerecht und angemessen für uns sei und unserer Würde entspreche. Unser Zivilisationsniveau sei noch nicht hoch genug, um uns zuzutrauen, die intergalaktische Angemessenheit von Ansprüchen zu erkennen.

Zudem könne es niemals unwürdig sein, die Bedingungen eines marlawürdigen Lebens selbst zu verdienen. Würde habe schließlich nichts damit zu tun, wieviel Glück man faktisch erlebe, und Glück ohne Würde sei weit katastrophaler für die Lebensbilanz als Würde ohne Glück. Das wüßten wir seit Kant doch ganz genau.

Und es gehe auch nicht, uns als Marla-Spezies so lange in Unwürde dahinvegetieren zu lassen, bis wir das Geld für die Totalrobotorisierung zusammen hätten. Außerdem sei der Schuldendienst um so vertretbarer, weil die Menschheit aus zwei Teilen bestehe, deren einer offenbar ohnehin nur Appendixfunktion habe und sein Leben mit fragwürdigen Tätigkeiten hinbringe: völlig unnötige Kriege zu führen und ebenso schäbige wie häßliche Geschäfte auszubrüten und ins Werk zu setzen. Aus all diesen Gründen könnten unsere Einwände ohne eine gerichtliche Überprüfung nicht anerkannt werden.

Ihren Abscheu vor unseren Geschäften verstanden die Marla übrigens wörtlich: Sie hatten schon vom Weltraum aus gesehen, wie wir die Landschaften der Erde vernutzen, verschmutzen, verunstalten und zerstören, und über unsere Städte waren sie nur entsetzt. Nichts konnte ihnen ein sinnfälligerer Beleg für die Liderlichkeit unserer Zivilisation sein.

Die Mehrheit der Menschheit war sich einig, das Recht auf einstweilige Verfügung zu nutzen. Nur war das sehr zeitaufwändig, vor allem wegen der langen Kommunikationswege:

Die Marla hatten uns 2018 entdeckt. Das Verfahren zur Feststellung der Rechtmäßigkeit des Widerspruchs hatte bereits 2 Jahre gedauert. Für die einstweilige Verfügung mußte unsere Einigkeit erstmal formal korrekt zum Ausdruck kommen. Dafür brauchten wir Abstimmungen. Bis das organisiert und durchgeführt war, waren weitere 4 Jahre vergangen. Erst mit dem Mehrheitsbescheid hatten wir die Voraussetzung erworben, einen Termin beantragen zu können bei der intergalaktischen Rechtsbehörde, die die für uns zuständige Spruchkammer ermittelte. Diesen Termin bekamen wir erst Mitte des folgenden Jahres. Da auch hier wieder die Kommunikationswege Monate dauerten, empfingen wir den Zuständigkeitsbescheid erst im Juli 2026.

Zuständig für Fragen der Marla-Grundrechte – denn auch für Marlaprött galten die Marlagrundrechte – war der höchste Gerichtshof, denn die Marla-Würde konnte natürlich nur Gegenstand des höchsten Gerichtes sein. Dieser Gerichtshof befand sich – wie könnte es für einen höchsten Gerichtshof anders sein – auf dem Heimatplaneten der Marla. Allein der Kommunikationsweg betrug anderthalb Jahre.

Wir waren nicht die einzige Spezies, die eine einstweilige Verfügung mit Dringlichkeit begehrten. Zwar hatten die Marla den höchsten Gerichtshof immer weiter vergrößert, so daß eigentlich ihr ganzer Planet nur noch ein weitläufiges Gerichtsgebäude war, aber es gab eben auch noch viele andere Marlaprötts im Universum, die sich unwürdig behandelt fühlten. Wegen dem hohen Aufkommen an Rechtssachen brauchte die interne Postverteilung noch einmal drei Monate. Dann erst hatte die für uns zuständige Stelle unsere Sache auf dem Tisch.

Der Sachbearbeiter musste jetzt einen Richter ermitteln. Das dauerte weitere drei Monate. Der für uns zuständige Richter bekam unser Gesuch also erst Ende 2028 auf seinen Stapel. – Man versicherte uns, das sei alles schon sehr schnell gegangen, wie für einstweilige Verfügungen mit Dringlichkeit gefordert, aber leider stapelten sich bei jedem Richter die einstweiligen Verfügungen und es gehe streng nach Warteliste.

Es dauerte 4 Jahre bis unser Gesuch gelesen wurde. – Der Richter befand, daß die Abstimmung zu lange zurück liege. In den mittlerweile vergangenen 8 Jahren habe sich die Meinung der Menschheit ändern können. Die Abstimmung müsse wiederholt werden. – So vergingen erneut 4 Jahre. Die Menschheit hatte ihre Meinung natürlich nicht geändert. – Die Entscheidung über unser Gesuch fällte der Richter anhand der Richtlinien innerhalb von 5 Minuten, doch es dauerte wieder eineinhalb Jahre, bis wir diesen Bescheid erhielten, da war es 2038.

Die gute Nachricht war: Unser Gesuch war rechtmäßig und wurde zur Verhandlung angenommen. Aber es hieß: für die Entscheidung sei eine unabhängige Expertise nötig. Der Richter schloss sich dem Justiziar der Beschwerdestelle an: Da könnte ja jeder kommen, argumentierte er, und behaupten, die Tätigkeit, mit der er seine Schulden abzahlen müsse, sei ihm nicht würdig. Dem Gericht sei unplausibel, daß wir Grund hätten, uns zu beschweren. Die Sorge um unsere Würde habe doch gerade dazu geführt, daß die Marla in Vorleistung gegangen seien bei der Roboterisierung unseres Planeten. Und auch die Sorge um unsere Gesundheit habe ihnen so am Herzen gelegen, daß sie erneut in Vorleistung gegangen seien zur Deckung unserer medizinischer Notwendigkeiten. Das Gericht könne zwar nicht ausschließen, daß unsere Behauptung, all diese Bemühungen um unsere Würde seien nicht zureichend, zutreffe, es müsse das aber aufgrund der äonenlangen Erfahrung im Umgang mit Marlaprött für so unwahrscheinlich halten, daß der Marlakultur Unrecht widerfahre, wenn eine Entscheidung zu unseren Gunsten nur aufgrund von Indizien ergehe. Daher sei ein wissenschaftliches Gutachten erforderlich. Es gelte, die Rechtssicherheit des freien Handels gegen unangemessene Ansprüche zu schützen.

Ein Gutachten in Auftrag zu geben war weit aufwändiger, als wir dachten! Wir fanden keinen Gutachter, der sich mit uns beschäftigen wollte. Allen, wirklich allen, war die Materie – sprich: wir – zu langweilig! Auch als wir schließlich 2050, nach 12 Jahren, die ersten bereitwilligen Gutachter fanden, waren wir noch keinen Schritt weiter: Wir hatten gehört, daß sich in der Gutachterlandschaft viele schwarze Schafe tummelten, die mit wenig Kompetenz und Aufwand hohes Verdienst erreichen wollten. Daher galt es, die Gutachter begutachten zu lassen. Das führte erneut zu einem Zeitverlust weil wir erneut einen Gutachter suchen und Kredite zur Begleichung seines Honorars beschaffen mußten. Schließlich fanden wir nach weiteren 7 Jahren einen gut begutachteten Gutachter. Er verlangte allerdings einen hohen Langweiligkeitsentschädigungsaufschlag, so, wie manche Berufe für bestimmte Aufgaben eine Schmutz-Zulage einfordern. – Die Gesamtsumme für das Gutachten war so hoch, daß wir erneut mit vielen Jahren rechnen mußten, bis wir die erforderlichen Fördermittel und Kredite zusammen hatten.

Doch als wir die Hälfte des Geldes beisammen hatten, im Herbst 2066, kamen an einem Donnerstag Nachmittag die Sicherheitskräfte, baten uns freundlich in ihre Shuttels, brachten uns zu Raumkreuzern und verschifften uns auf die Erde. Uns alle. Sie verabschiedeten sich mit wenig überzeugenden Höflichkeitsgesten und flogen weg.

Das mit den Hähnchenküken war nur eine flüchtige kulinarische Mode gewesen, die Geschäftsidee eines multigalaktischen Fast-Food-Konzerns. Als die Mode uninteressant geworden und die Umsätze eingebrochen waren, spuckten sie uns wieder aus. Ihre Roboter hatten sie bereits mitgenommen, nichts, nicht das kleinste Schräubchen ließen sie hier, obwohl wir doch mittlerweile eine Menge abbezahlt hatten. Aber sie argumentierten, wir seien insolvent und der Rückkaufwert decke gerade die Kosten, die ihnen für die gesamte Maßnahme entstanden seien. Wir könnten froh sein, nicht noch drauf zahlen zu müssen. – Das war vor 31 Jahren. Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört.

Wir hätten den Dienst bei den Marla übrigens schon im ersten Jahr beenden können: durch einen Streik. Allerdings fanden wir dazu unter uns Männern keine Mehrheit, es waren nunmal zu viele auf der Erde unterprivilegiert gewesen, materiell und bezüglich der Bedingungen ihrer persönlichen Entwicklung. Sie hatten das Arrangement, das die Marla für uns geschaffen hatten, nicht anders als vorteilhaft erleben können, gemessen an ihrem früheren Erdenleben. Sie sahen nicht ein, auf diese Vorteile zu verzichten, bloß damit die Gebildeten wieder ihren „Hobbies“ nachgehen konnten.

Link zum Wikipedia-Artikel über Weltraumrecht

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