Stephen King, „Sommer“, aus „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“

Ist es ein Unterhaltungsroman? – Wenn ja: darf sich Unterhaltung des Themas Holocaust bedienen?

Es geht um den ehemaligen Komandanten eines Vernichtungslagers der Nazis, der untergetaucht in einer amerikanischen Großstadt lebt. Da es nicht um das Grauen des Völkermords geht, finde ich nicht, daß hier der Holocaust verharmlost wird.

Wie so oft bei King gehen Gehalt und Unterhaltung eine Verbindung ein. In den meisten Romanen, die ich von ihm kenne, verbinden sie sich stark überwiegend zugunsten der Unterhaltung, so daß nach der Lektüre ein Gefühl der Hohlheit entsteht. – In diesem Roman hat King sich dagegen kurz gefaßt: etwas mehr als 200 Seiten. Und selbst der strengste Lektor würde nicht mehr als 5 % kürzen wollen. Der Hohlheitsfaktor ist deutlich geringer.

Das Gehaltvolle:

King fingiert eine Situation, in der zwei Kriminelle, die sich am liebsten gegenseitig umbringen würden, miteinander kooperieren müssen, weil sie sich gegenseitig „in der Hand haben“. Es spielt hier keine Rolle, wie gut oder unzulänglich King die Aufgabe, die er sich hier stellt, gelöst hat. Er führt ein Gedankenexperiment durch, das in jedem Fall ein genaues Studium wert ist.

Interessant ist auch, wie wenig den jungen Psychopathen sein eigener überdurchschnittlicher sportlicher und schulischer Erfolg interessiert, auf den jeder andere Heranwachsende neidisch wäre. King veranschaulicht damit, wie sehr Menschen mit stark psychopathischer Beeinträchtigung „aus der Welt“ sind: Sie sind „bedeutungsblind“, sie können mit dem, was den andern Menschen bedeutend, wertvoll und sinnvoll ist, nichts anfangen. Sie sind in ihrer eigenen Welt isoliert.

Faktencheck:

Ist es wirklich möglich, daß Menschen mit einer schwer ausgeprägten Psychopathie aus ganz normalen Elternhäusern kommen? – Das sollte recherchiert werden. Ich denke, das ist so nicht möglich. Ich schätze, schwere Ausprägungen von Psychopathie, wie hier geschildert, entstehen nur durch Zusammenwirken von Anlage und Umwelt – also wenn ein Kind mit einer Anlage zu Psychopathie in einem traumatisierenden oder sonstwie schwer pathogenen Elternhaus aufwächst.

Wieso ist dieser Faktencheck hier wichtig? Weil King hier offenbar einen Horror-Effekt erzielen will durch Verunsicherung: Kann soetwas bei jedem Menschen überall und jederzeit sich entwickeln? Wie sicher können wir uns noch sein? – Wenn fingierte Fakten so konstitutiv sind für die Aussage eines fiktiven Textes, dann ist ein Faktencheck notwendig.

Das Genrehafte:

Es ist für mich nicht nachvollziehbar, wieso der ehemalige Massenmordfunktionär in hohem Alter noch beginnt, eigenhändig Morde zu begehen. Meines Erachtens biegt King hier psychologisch was zurecht. Mich überzeugen die Motive nicht. Es wirkt, als ob er noch ein wenig mehr Horror in die Geschichte bringen wollte, um seine Fäns nicht zu enttäuschen.

Die Massenmörder der Nazis waren keine Psychopathen. Ich schätze, das wußte King auch: die Studie Hannah Arendts („Die Banalität des Bösen“) war 1981 bereits ein „Klassiker“. Merles „Der Tod ist mein Beruf„, war bereits 1957 erschienen.

Statt zu fingieren, daß auch Söhne ganz normaler Eltern schwer psychopathisch werden können, hätte King weit mehr Verunsicherung dadurch erzeugen können, daß es nicht erst der seltenen Psychopathen bedarf, damit der Horror in die Welt kommt…

Die Geschichte gilt als „Novelle“ oder „Kurzroman“ und wurde von King mit drei anderen Kurzromanen zusammengefaßt zu einem Sammelband: „Different Seasons“, erschienen 1982 ( deutsch.: „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“, 1992).

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