Die Findelkinder

Lars Lehmann

Die Findelkinder

Vierte phantastische Geschichte aus der Rahmenerzählung „Psychjatergarn“ von Lars Lehmann

(Lesezeit 45 Minuten)

Wir saßen mit dem Psychiater, dem Professor und der Unternehmerin zusammen auf der Terrasse, als David, der 15-jährige Sohn der Unternehmerin, mit zwei andern Jugendlichen erschien, sie wollten zum Golfen. Die Frage nach dem täglichen Übungspensum, das der Junge in den Ferien wegen mittelmäßiger Zensuren aufgebrummt bekommen hatte, beantwortete er ausweichend, obwohl er doch wissen musste, daß er damit bei seiner Mutter keine Chance hatte. Er versuchte, ihr abzuringen, die Aufgaben später zu erledigen, aber die Unternehmerin blieb hartnäckig. David schaute uns an, machte eine ironisch-resignative Geste, und verschwand im Schloß. Die Unternehmerin merkte an unserem Blickwechsel, daß wir ihre Strenge übertrieben fanden und bekam einen kampfbereiten Gesichtsausdruck:

„Er hatte schon das Zugeständnis, die erste Ferienwoche ganz frei zu haben und in der letzten braucht er auch nichts zu machen. Bei ihm muß man gut aufpassen, der drückt sich, wo er kann!“

„Nun, das ist gesund!“, schmunzelte der Psychiater und fuhr fort: „Sicher ist es gut, wenn Sie dafür sorgen, daß Ihr Sohn keinen anhaltenden Schulstress bekommt, denn der kann die Jugend überschatten. Ich frage mich allerdings, wie sich das langfristig auswirkt, daß die Kinder wegen der Schule kaum noch zur Besinnung kommen. Ich habe Jugendliche behandelt, die keine Energie mehr hatten, anspruchsvollen Beschäftigungen wie Zeichnen oder Musizieren so engagiert nachzugehen, wie das wollten. Und das finde ich schon sehr fragwürdig, wenn Heranwachsende wegen der Schule zuwenig Zeit für ihre Begabungen haben.“

„Das ist noch nicht das Schlimmste“, meldete sich meine Frau zu Wort, „viele Kinder erleben schon in der Grundschule die Bewertungen als die Botschaft: „Du machst Fehler, du weißt und kannst zu wenig, du bist nicht gut genug!“ Und wenn sie lange für die Hausaufgaben brauchen, wenn sie nur noch wenig Zeit für sich haben, dann heißt es, das seien nun mal die Anforderungen, und wenn sie nicht gut genug seien, müssten sie eben mehr üben.“

Der Psychiater fügte hinzu: „Und die Kinder, die im Unterricht schlecht stillsitzen und  aufmerksam sein können, werden ganz legal drogenabhängig gemacht, mit Amphetaminen. – Es heißt immer, mit diesen Kindern sei etwas verkehrt. Doch die Frage ist, ob mit der Schule was verkehrt ist! – Ein Bildungssystem ist doch nur in dem Maße gut, wenn es allen Kindern gerecht werden kann, wenn es nicht darauf angewiesen ist, einige drogenabhängig zu machen, damit sie dem Unterricht folgen können! Meine Kollegen und ich kommen da regelmäßig in die heftigsten Konflikte: Verweigern wir die Medikation, riskieren wir, daß das Kind nur Mißerfolge hat und als Versager zum Außenseiter wird. Verschreiben wir Ritalin, machen wir das Kind zum Gegenstand eines Langzeitexperiments, von dem noch niemand weiß, wie es ausgeht.“

„Wir drillen die Kinder, als bräuchten wir lauter Hochleistungssportler“, polterte der Professor, „das ist keine Bildung, das ist Abrichtung!“

„Aber das macht sie doch intelligenter!“ wandte die Unternehmerin ein.

Der Psychiater schüttelte den Kopf: „Intelligenz ist nur die Muskulatur der Seele. Muskeln ist es egal, ob sie ein Feld bestellen oder einen Mann totschlagen, sie haben dazu keine Meinung. Es gibt in der Weltgeschichte keinen Blödsinn, dem nicht intelligente Leute die Steigbügel gehalten hätten!“

Weitere Gäste setzten sich zu uns, und der Professor regte eine Diskussion über Kulturpessimismus an, ausgehend von Max Webers Wort von den Fachmenschen ohne Herz und Genussmenschen ohne Geist. – Eis, Sorbet, ein paar Zungenspitzen alter Whisky sowie eine leidenschaftliche Diskussion sorgten dafür, daß es der Runde nur an Fachlichkeit mangelte, nicht an Herz, Geist und Genuss. – Der Psychiater hörte lange zu, bevor er das Wort ergriff:

„Was Sie sagen klingt plausibel, aber ist es auch wahr? Fehlt Führungskräften Herz und Fernsehschauern Geist? Ohne das zu überprüfen, glaub ich es nicht. Ich gehe davon aus, daß Mutter Natur uns gut ausgestattet hat. Das kriegen Beruf und Fernsehen nicht so schnell kaputt. Ich würde wetten, daß Restherz und Restgeist weit größer sind, als wir uns gerade ausmalen.“

Der Psychiater hatte kaum ausgeredet, da wurde die Terrasse gekapert von einer alkoholisierten Rentnerschar, die gerade mit dem Bus angekommen war. Auf Initiative der Unternehmerin half die nette Bedienung des Cafes, eines der Golfrollies mit Tee, Kaffee, Gebäck und Polstern auszustatten, so daß wir uns zu einem einsam gelegenen Pavillon am Rande des Parks zurückziehen konnten.

Der Blick des Pavillons ging auf den Golfplatz, der die ganze sichtbare Landschaft ausfüllte, bis an die Ränder der Hügel und den entfernten Saum des Waldes. Das Areal wirkte mit seinen künstlichen Dünen, Tümpeln und Kuhlen wie eine Spielzeuglandschaft.

Der Psychiater erzählte, was er von den Einheimischen darüber erfahren hatte: Die Hotelkette hatte direkt nach der Wende Schloß und Land billig erworben. Das Land hatte größtenteils Dorfbewohnern gehört, die es nach der sozialistischen Enteignung zurückbekommen hatten. Sie waren noch naiv bezüglich der Bedeutung größerer West-Mark-Summen und hatten keine Ahnung von der Entwicklung der Bodenpreise. So waren sie von den Managern der Hotelkette schamlos übers Ohr gehauen worden.

„Dem Geld ist nichts heilig“, ergänzte meine Frau den Bericht des Psychiaters, „nicht mal die Kindheit unserer Kinder“. – Als sie die fragenden Blicke sah, fuhr sie fort: „Die Kinder wollen die Welt entdecken, aber die Kaufleute schränken das ein. Sie gaukeln den Kindern vor, daß es viel besser sei, sich mit coolen, angesagten Themen zu beschäftigen, die was kosten, statt gemeinsam die Gegend zu erkunden, was nichts kostet. – Wenn ein 11-jähriger heute Raumschiffe aus Lego baut, wird er von den Gleichaltrigen nur noch verspottet. Stattdessen werden die Kinder darauf getrimmt, an Freundesnetzwerken teilnehmen zu wollen. Das steht so eigentlich erst in der Pubertät an. Aber dafür brauchen sie Telekommunikationsgeräte und Zugehörigkeitsinsignien. Deshalb kann es der Wirtschaft damit gar nicht schnell genug gehen. “

„Statusbestrebungen sind wichtiger geworden als Explorationsbestrebungen!“ polterte der Professor.

„Um „cool“ zu sein müssen die Kinder eine Reife vortäuschen, die sie nicht haben. Wichtige altersgemäße Interessen und Bestrebungen erlauben sie sich  nicht mehr. Mal was alleine machen, sich von den Seltsamkeiten und Geheimnissen der Dinge mal auf neue Pfade locken lassen, dafür, sagen sie, haben sie keine Zeit, sie müssen sich auf dem Laufenden halten über die Kommentare zu den Liebesnöten eines Seriensternchens.“

„Statt Autonomie Konformität“, polterte der Professor, „fremdverschuldete Unmündigkeit ohne Ausgang!“

Mhm,“ brummte der Psychiater, „so wie Sie das schildern, scheint mir, daß einige Bestrebungen der Kinder von der Werbung regelrecht hochfrisiert werden, und anderes unentwickelt bleibt. Es ist nachvollziehbar, wenn uns damit nicht wohl ist. Aber wir wissen nicht, was die Kinder tatsächlich daraus machen. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm, vielleicht hat es sogar Vorteile!“

„Vielleicht“, murmelte meine Frau, „vielleicht auch nicht“.

„Ein riesiges Experiment“, rief der Professor, „aber ohne Plan, ohne Ziel, ohne kontrollierte Bedingungen und aus keinem vernünftigen Grund! – Und es sind unsere Kinder, mit denen wir so experimentieren, es ist die Zukunft des Planeten! – Und das alles nur um völlig unnötigen Ramsch zu Geld zu machen! – Sie als Psychiater müssen natürlich beruhigen und trösten. – Aber wissen wir, was da mal herauskommt? Eine Elite, die die Entbehrungen ihrer Kindheit instinktiv als Legitimation ihrer Privilegien und ihrer Solidaritätsverweigerung verrechnet. Und ein Proletariat, das seine Wut über die Deklassierung in Verbrechen abreagiert, die es genauso dumpf und instinktiv als legitim empfindet, wegen des Zu-Kurz-Gekommen-Seins.“

Die Unternehmerin wendete sich an den Psychiater: „Ich frage mich, welche Geschichte Ihnen zu unserem Thema einfällt, ich bin es müde zu diskutieren“.

Es entstand eine Pause.

„Nun, das Thema erinnert mich schon an eine Geschichte. Aber es ist eine schlimme Geschichte, ein Alptraum, das sprengt unseren gemütlichen Rahmen!“

„Mein lieber Psychiater, nur immer zu, der Toback kann gar nicht stark genug sein!“ Der Professor rieb sich die Hände.

„Nein, so eine Geschichte ist es nicht. Es ist eine unangenehme Geschichte, keine gruselige. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich so etwas hören wollen.“

„Unser Abend ist schon lange nicht mehr angenehm“, sagte die Unternehmerin, „wenn es eine gute Geschichte ist, darf sie auch unangenehm sein.“

Die andern stimmten ihr zu, vielleicht auch nur, wie ich, aus Neugier. Nur meine Frau verabschiedete sich: „Ich muß mir jetzt nicht noch einen Alptraum antun!“

„Sie ist sehr empfindsam“, entschuldigte ich sie, „nach Steven Spielbergs Film „Krieg der Welten“ hatte sie einen regelrechten Schock und konnte 20 Minuten kein Wort herausbringen!“

„Das kann ich nachvollziehen!“ sagte der Psychiater, „der Film soll Unterhaltung sein, aber mir scheint, Spielbergs unbewußte Beschäftigung mit dem Holocaust hat seine Intention unterwandert. Ich habe damals einen Protestbrief geschrieben: Dieser Film war freigegeben für 6-jährige in Begleitung ihrer Eltern! Wir müssen davon ausgehen, daß nicht wenige Kinder durch diesen Film traumatisiert wurden.“

„Und das nur, um die Gewinne der Filmwirtschaft zu steigern!“, warf der Professor ein.

„Was fanden Sie an dem Film so traumatisierend?“ fragte ein Architekt, dessen Frau mit meiner zum Schloß zurückgegangen war.

„Es gibt eine Einstellung, wo unablässig Leichen von Männern, Frauen und Kindern den Fluß heruntertreiben. Ein Bild, das vorstellbar macht, was es bedeutet, wenn nicht nur ich sterbe sondern keiner von denen überlebt, zu denen ich gehöre und für die mein Leben sinnvoll war. Hier wird Menschen nicht nur das Leben geraubt, sondern auch der Sinn ihrer Existenz. Das ist ein Bild für Völkermord. – Die folgenden Bilder zeigen: die Menschen haben gegen die Außerirdischen keine Chance: Es gibt keinen einzigen Erfolg, nur Niederlagen, man sieht die Soldaten nur brennend flüchten. – Die Kinder erleben, wie die Erwachsenen sie nicht schützen können, sie erleben, was es bedeutet, einem mörderischen Feind völlig schutzlos ausgeliefert zu sein. – Und daß die Menschheit schließlich doch überlebt, ist für kleine Kinder nicht nachvollziehbar: Keine menschliche Leistung führt zur Rettung, sondern die Mikroben, gegen die die Außerirdischen nicht immun sind. Kinder können nicht verstehen, wieso die Außerirdischen plötzlich alle tot sind.“

„Tja“, zischte der Professor durch die Zähne zu mir gewandt, „da hat Ihre Frau doch recht mit dem Ausverkauf der Kindheit.“ Wir schwiegen und nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Aber der Herr Psychiater wird jetzt sicher wieder etwas Beruhigendes erwidern!“

„Naja, wenn wir auf einzelnes Schlimmes blicken, ist immer die Gefahr, daß es einem die Stimmung so verhagelt, daß man die ganze Welt durch eine dunkle Brille sieht und die Gesamtsituation falsch einschätzt. Da kann man sich dann schnell in was reinsteigern. Mir fällt es von Berufs wegen schwer, das dann unkommentiert stehen zu lassen. – Also, wenn Sie noch wollen, erzählte ich Ihnen die Geschichte.“

Wir baten ihn darum, und er begann:

 

1

„Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen. Mein Vater hatte sich als junger Mann freiwillig nach Spanien gemeldet, um für die Faschisten zu kämpfen. Er hatte sich mehrfach wegen Tapferkeit ausgezeichnet und war schließlich schwer verwundet worden. Dafür brauchte er im Weltkrieg nicht an die Front. Er kam als Besatzungssoldat nach Norwegen. Dort lernte er meine Mutter kennen, deren Familie zu den norwegischen Nazis gehörte. – Nun, das einzig Gute dieser Familienvergangenheit ist, daß ich zweisprachig aufwuchs und in den menschenleeren Weiten Norwegens ebenso zu Hause bin, wie in Berlin. – Einen Teil meines Studiums absolvierte ich an der Uni-Klinik in Oslo. Während dieser Zeit, es muß um 1960 gewesen sein, war ich an einer Untersuchung merkwürdiger Vorfälle beteiligt, die sich auf einer Insel weit vor der Küste abgespielt hatten.

Die Insel türmt sich zu einem 700 Meter hohen Felsmassiv, dessen Fundament mit Höhlen durchsetzt ist. In eine dieser Höhlen hatten die Nazis ein Forschungslabor eingebunkert. Nach etwa vier Jahren wurde gemunkelt, es habe dort einen Unfall gegeben und man habe das Labor überstürzt von außen verschlossen ohne noch jemanden hinauszulassen. Jedenfalls hatten die Nazis einen Teil des Felsmassivs gesprengt, um die Schlucht, in der sich der Zugang zum Bunker befand, so hoch und weit wie möglich zu verschütten. – Nach Kriegsende überlegten die Engländer, sich durch die Felstrümmer zum Bunker vorzuarbeiten, gaben das Vorhaben aber auf, als sie die Luftbildaufnahmen von dem Trümmerfeld sahen. Und die Nazis hatten alle Unterlagen über das Labor vernichtet. Es wurde nie herausgefunden, was dort geforscht worden war.

Anlaß unserer Untersuchungen war eine Häufung von Suiziden auf der Insel. Erschreckend war außerdem die Brutalität, mit der die Betroffenen sich töteten: plötzlich, mitten im Alltag, stachen sie sich ein Messer in die Brust, mit dem sie gerade hantiert hatten, warfen sich vor ein Auto oder nutzten ein Seil, das zufällig herumlag, um sich durch einen Sturz vom Dachbalken das Genick zu brechen. Diese Brutalität war um so rätselhafter, weil bei den Betroffenen keine nachvollziehbaren Gründe  erkennbar waren: Den meisten, hieß es, sei es wirtschaftlich gut gegangen, sie seien gut beleumundet gewesen und glücklich verheiratet, ihre Kinder hätten sich gut entwickelt, und jeder hätte sie als fröhliche Menschen mit allen Anzeichen eines zufrieden stellenden, sinnerfüllten und gelingenden bürgerlichen Lebens gekannt. Anzeichen von Niedergeschlagenheit, Frustration, Verbitterung oder Lebenssinnzweifeln waren nur von solchen Selbsttötern berichtet worden, die allein lebten – und die hatten sich meist weit weniger aggressiv umgebracht.

Da die Insel 50 Kilometer vor der Küste lag, benutzten wir das Flugzeug. Das gestattete uns einen Blick auf das von den Nazis zerstörte Felsmassiv. Wo früher Felswände eine tiefe Schlucht gebildet haben mußten, gab es jetzt nur eine langgestreckte öde Halde.

Es war zu vermuten, daß die Suizide mit der verschütteten Anlage zu tun hatten, daß dort hochgefährliche Forschung mit Chemikalien oder Krankheitserregern betrieben worden war, und trotz des fast hundert Meter dicken Trümmersarkophags nach mehr als 15 Jahren Gifte oder Erreger an die Oberfläche gedrungen waren, die auf das Zentralnervensystem der Inselbewohner gewirkt und psychische Störungen ausgelöst hatten. Bekräftigt wurde diese Überlegung durch Aussagen von Einheimischen, die dann und wann an verschiedenen Stellen der Insel merkwürdige widerliche Gerüche wahrgenommen haben wollten.

Aber ungewöhnliche Todesfälle beflügeln die Fantasie der Menschen. Daher galt es zunächst, herauszufinden, ob es sich bei der beschriebenen Suizidwelle überhaupt um etwas Erklärungsbedürftiges handelte. Es ist nicht leicht, Tatsachen über die Verbreitung psychischer Krankheiten zweifelsfrei festzustellen. Zwar gab es numerisch auf der Insel tatsächlich mehr Suizide als in den Jahren zuvor. Aber die Zahl war nicht signifikant, nicht außerhalb des Bereichs natürlicher Schwankungen. Es konnte sich um eine Häufung handeln, die, in einem 10 Jahres Zeitraum betrachtet, völlig unauffällig war. Solche Häufungen sind nichts außergewöhnliches bei Suizid, weil Suizid „ansteckend“ ist: Von jemandem, der sich selbst tötet, geht eine Beispielwirkung aus, für alle, die sich mit ihm identifizieren. Derartige Suizidwellen sind seit dem Altertum bekannt, die bekannteste in Deutschland wurde sogar von einem nur fiktiven Suizid ausgelöst: von Goethes „Werther“.

Der Chefarzt des Inselkrankenhauses hatte bereits eine Unterscheidung zwischen „Typ1“ und „Typ2“-Suiziden getroffen: herkömmlichen Suiziden mit vorhergehenden Anzeichen und „neuartigen“, ohne. Auch diese Unterscheidung konnten wir nicht ohne weiteres gelten lassen, wir hatten ja nur die spontanen, unhinterfragten Aussagen von Familienangehörigen, Nachbarn und Freunden, da konnte vieles unabsichtlich erfunden, hinzugefügt oder geschönt worden sein. Es galt also erst mal, die Berichte und Vermutungen zu objektivieren. Wir werteten die Krankenakten aus und gingen mit speziell entwickelten Fragebögen in die Familien. Die Ergebnisse bestätigten die Einteilung des Inselarztes.

Das verblüffenste Ergebnis hätte jedoch allein schon ein Blick ins Melderegister erbringen können: Suizide vom Typ 2 hatten sich ausschließlich in Familien ereignet, die ein Findelkind aufgenommen hatten. – Zwei Jahre vor Beginn der Suizidwelle hatte es ein ebenso rätselhaftes wie erschütterndes Vorkommnis gegeben: am Strand waren 24 etwa 3- bis 4-jährige Mädchen gefunden worden, die sich ausgehungert und frierend eng aneinanderschmiegten. Es stellte sich heraus, daß sie alle geistig behindert waren. Die Behörden gingen davon aus, daß eine kriminelle Organisation die „Sorgenkinder“, so hießen Behinderte damals, unter dem Vorwand, sie gut unterzubringen, Familien gegen Entgelt abgenommen, und dann hier ausgesetzt hatte. Die von der Entfernung her in Frage kommenden Schiffe wurden sofort durchsucht, ihre Besatzungen verhört, aber es fanden sich keine ausreichenden Belastungsgründe für eine weitere Strafverfolgung.

Die Behörden hatten geplant, die Kinder in ein Heim auf dem Festland zu bringen, doch von den Ärzten und Krankenpflegerinnen der Insel, die die Kinder untersucht hatten, zeigten einige sich so entzückt von den Kleinen, daß sie eines adoptieren wollten. Und damit die Gruppe nicht auseinandergerissen würde, hatten sie sich auf der Insel nach weiteren Familien umgesehen, die bereit waren, ein Findelkind aufzunehmen. Das Echo war so groß, daß es schließlich sogar Streit um die letzten noch unvermittelten Kinder gegeben hatte.

 

2

Der Zusammenhang der Suizide mit den Findelkindern legte ganz andere Erklärungen nahe. Zunächst tippten wir darauf, daß die Suizide eine Erschöpfungsreaktion gewesen sein könnten und doch noch Anzeichen zu finden sein müssten für „parasuizidale Gesten“, wie wir das nennen: Bemerkungen oder Verhaltensweisen, und sei es nur ein auffälliges Stöhnen, die als Wunsch der Ausgebrannten nach Ruhe und Entspannung gewertet werden können. Wir befragten die Angehörigen gezielt nach solchen Erschöpfungszeichen. Darüber hinaus maßen wir mit Fragebögen die psychischen Belastungsfaktoren der Familienangehörigen in den Parametern: Lebenszufriedenheit, Lebenssinn, Selbstwerterleben, Zukunftserwartungen, Freizeitverhalten. Doch die Ergebnisse verstärkten die Rätselhaftigkeit des Phänomens bloß noch: In den „Findelkindfamilien“ waren Lebensfreude und Sinnerleben signifikant höher und sie waren deutlich „glücklicher“ als die andern. Das hatte zweifellos zu tun mit der sinnvollen Aufgabe, ein behindertes Kind zu adoptieren, aber auch mit dem glücklichen Charakter der Kinder, von dem wir schon viel gehört hatten und den wir bald selbst erleben sollten.

Die nächste Möglichkeit, die wir in Betracht ziehen mußten war, daß die Kinder Überträger eines noch unbekannten Krankheitserregers waren, der schwere Depressionen auslöste. – Wir nahmen den Kindern Blut ab, doch die Untersuchungen blieben ergebnislos. Zur Sicherheit schickten wir die Proben an verschiedene auf die Entdeckung neuer Erreger spezialisierte Forschungsinstitute in aller Welt.

Wir sahen uns jetzt die Findelkinder genauer an. Als erstes fiel auf, daß alle ausgesprochen niedliche Gesichter hatten, nie wieder habe ich so niedliche Kinder gesehen! Sie lachten uns mit strahlenden Augen fröhlich und keck an. Ihre Fröhlichkeit war regelrecht ansteckend! Sie sprachen nicht, sondern brabbelten nur. Die Inselärzte hatten bereits ausschließen können, daß die Sprachunfähigkeit mit einer Hörbehinderung zu tun hatte.

Die Kinder zeigten keinerlei Interesse an der Erkundung ihrer Umgebung und schienen nur eine geringe Auffassungsgabe zu besitzen. Sie waren kaum lernfähig und hatten, den Angaben ihrer Eltern zufolge, in den zwei Jahren weder Autonomiebestrebungen gezeigt noch sich merkbar körperlich entwickelt.

Doch schienen sie einen eigentümlichen Sinn für Komik zu haben, den man bei so stark geistig behinderten Kindern niemals für möglich gehalten hätte: Sie legten Dinge oder Gliedmaßen irgendwo ab, wo sie am allerwenigsten hingehörten: einen Socken auf den Teller, eine Tasse in die Kecksdose oder eine Hand in den Schuh. Dann schauten sie die Erwachsenen erwartungsvoll mit keckem Blick und glucksendem Lachen an. Das war so putzig, daß kaum einer sich dem Mitlachen entziehen konnte. Wir freuten uns über ihre Freude und über die Anerkennung, die sie uns mit ihren Streichen zum Ausdruck brachten. Sie schienen sagen zu wollen: „Sieh her, ich mache jetzt etwas Lustiges, weil ich mit dir zusammen Spaß haben will!“

Außerdem waren die Kinder wegen ihrer Anspruchslosigkeit, aber vor allem wegen ihres mangelnden explorativen Interesses, pflegeleicht: Sie quengelten nicht und sie versuchten nie, herauszufinden, wie lange sie an der Tischdecke ziehen müssen, bis die Kakautasse fällt, oder was eine Schere so alles schneiden oder ein Stift so alles anmalen kann.

Wer diese Kinder erlebte, dem war es ein Rätsel, wie es deren leiblichen Eltern möglich gewesen war, sie wegzugeben. Es war nicht zu übersehen, daß die Kleinen die ganze Familie regelrecht euphorisierten.

Denkbar war, daß diese Euphorie bei einigen Erwachsenen das Engagement für die Kinder auf ein submanisches Niveau gesteigert, und zu einer Erschöpfung geführt hatte, die sie sich wegen der Verpflichtungsgefühle nicht hatten eingestehen können. So könnten von Zeit zu Zeit Erschöpfungsspitzen entstanden sein, die, wie es für schwere Erschöpfungszustände nicht ungewöhnlich ist, mit Suizidimpulsen einhergingen.

Allerdings konnten wir nicht nachvollziehen, warum die Betroffenen es scheinbar derart eilig hatten, sich zu töten, daß sie die erste beste Möglichkeit nutzten, die sich ihnen bot, egal, wie qualvoll sie war. Selbst dem heftigsten Suizidimpuls muß man ja nicht um jeden Preis augenblicklich folgen, es sei denn der Augenblick verbinde völlige Aussichtslosigkeit mit größter Qual. Doch das war bei einer depressiven Erschöpfungsreaktion ausgeschlossen, das wäre allenfalls bei einer Wahnerkrankung vorstellbar. Aber eine Wahnerkrankung hatte wir hier in jedem Fall ausschließen können.

Daß ein Zusammenhang mit den Findelkindern bestand, war nach weiteren Suiziden, die sich während unserer Untersuchungen ereignet hatten, so gewiß, daß es geboten schien, auch ohne eine Ursache für diesen Zusammenhang erkannt zu haben, die Kinder in ein Heim zu bringen, um erneute Todesfälle zu verhindern. Wir unterrichteten die Bevölkerung von unseren Überlegungen. Was wir ernteten war wütender Protest. Als wir dennoch nicht abließen von unseren Plänen, gab es nicht nur eingeworfene Scheiben und zerstochene Autoreifen sondern auch eine einstweilige richterliche Verfügung. Die Richter entschieden: Solange eine Infektion nicht nachweisbar und ein zwangsläufiges Krankheitsgeschehen nicht bewiesen sei, solange könne davon ausgegangen werden, daß die, die sich selbst töteten, genügend Freiheit hätten, das auch zu unterlassen. Unter diesen Umständen sei das Risiko nur gemutmaßt und rechtfertige nicht einen so einschneidenden Eingriff in das Leben der Kinder und ihrer Familien.

Heimlich waren wir froh über diese Entscheidung, denn die Vorstellung, die Kinder der Liebe ihrer Eltern und Geschwister zu entreißen, tat uns selber weh! Wir waren hin- und hergerissen zwischen unserer Verantwortung als Ärzte und dem Mitgefühl für die Kinder. – Unbeliebt wie Dentisten und ohne Aussicht auf Erfolg, wollten wir die Untersuchungen abbrechen und abreisen, als drei weitere Suizide geschahen, die weit bestürzender waren, als alle bisherigen. Das beunruhigte die Bürger dann doch so stark, daß sie baten, die Untersuchungen fortzuführen.

Das erste Opfer war Tanja Blom. Sie war eine regelrechte Bohnenstange, lang, hager und hässlich, prädestiniert für die Rolle der alten Jungfer. Intelligent, aber zu scheu, um aufs Festland in eine Großstadt zu gehen, hatte sie ein Fernstudium in Bibliothekswissenschaften absolviert und war die Bibliothekarin der Insel geworden. Sie war eine ausgezeichnete Cello-Spielerin und spielte mit einigen anderen begabten und engagierten Laienmusikern zusammen Streichquartett, am liebsten Boccerini.

Alle gönnten ihr, daß sie als unfreiwilliger Single eine Ausnahmegenehmigung für die Adoption eines Findelkinds bekam. Doch damit nicht Glücks genug: Die Spaziergänge mit ihrem „Kücken“, wie sie das Kind nannte, führten sie regelmäßig durch den Stadtpark. Dabei lief das Kind gerne zu einem Mann, der dort öfter auf einer Bank saß: Gunnar Lind. Auch er war hässlich und hager. Wegen seiner Statur zu schwerer Arbeit nicht zu gebrauchen und außerdem etwas dümmlich, verrichtete er im größten Kaufhaus der Insel niedrige Dienste wie: zählen, sortieren, abschreiben. Darin war er aber so gewissenhaft und zuverlässig, daß sein Chef ihn sehr schätzte. Nun: Gunnar und Tanja wurden ein Paar und man sah ihnen an, wie sie dadurch aufblühten. Alle, die es erfuhren, freuten sich über das späte Eheglück der beiden. Um so unbegreiflicher war, was dann geschah: Tanja nahm eines Morgens beim Frühstück das Brotmesser und schnitt sich die Kehle durch. Obwohl das Krankenhaus gleich nebenan war, war sie nicht zu retten.

Die zweite war Unni Halberg, verzärtelte älteste Tochter eines der reichsten Bauern der Insel. Von Kindheit an galt sie als weichlich und gemütlich. Sie brauchte kaum auf Hof und Feld zu helfen sondern betreute die 6 jüngeren Brüder und ging der Mutter zur Hand, dabei war sie zwar nicht eigentlich faul, aber langsam und behäbig. Später blieb sie auf dem Hof in der Familie des ältesten Bruders, passte auf seine Kinder auf und half im Haushalt. Ihre Freundin war die Postfrau. Die beiden waren ein heimliches Paar. Alle wußten das, aber damals, Anfang der 60ziger Jahre, pflegte man daran nicht zu denken.

Unni war zurückhaltend und sehr liebenswürdig, alles andere als stolz, hart, herrisch und hoffährtig, wie man das damals bei unverheirateten Tanten reichster Bauern erwartet hätte. Ihr Bruder hatte überlegt, ein Findelkind aufzunehmen. Unni hatte ihm zugeredet. Es wurde „ihr“ Kind. Sie glühte vor Tantenglück. – Eines Abends wollte sie, wie immer, frisch gemolkene Milch aus dem Stall holen. Die Kuhfütterung stand bevor und der Weg führte die Tante am Rübenzerkleinerer vorbei – da stürzte sie sich rein. – Der Bruder, der gleich zur Stelle war, rettete sie, aber sie war schon zu schwer verletzt, sie starb in seinen Armen. Ihr Bruder erlitt einen Schock und musste mehrere Wochen auf dem Festland in einer Spezialklinik behandelt werden. Nach seiner Rückkehr war er deutlich verändert. Von seinem Hausarzt, mit dem ich mich befreundet hatte, hörte ich 8 Jahre später, er sei am Alkohol gestorben. Seine letzten Worte seien gewesen: „Der Blick, der Blick!“

Der dritte war Kjell Christensen, der tüchtigste und klügste Bauer des Norddorfes. In der Jugend hatte er als Partisan gegen die Nazis gekämpft und sich durch Unerschrockenheit ausgezeichnet. Er kam aus einer Familie mittelloser Knechte. Nach dem Krieg hatte er einen Hof gepachtet und so erfolgreich bewirtschaftet, daß er ihn bald kaufen konnte. Er wurde der Bürgermeister des Dorfes und galt als sehr umsichtig und verantwortungsbewusst. Auch er nahm ein Findelkind in seine Familie auf, und man hatte das Kleine immer neben ihm auf dem Trecker sitzen gesehen. – Nach einem Einkauf in der Stadt fuhr er auf dem Rückweg zum Tanken, hielt plötzlich die Zapfpistole daneben und zündete sein Feuerzeug. Mit ihm verbrannten sein Neffe, der auf der Tankstelle als Lehrling die Scheiben putzte, und ein weiterer Autofahrer der gerade tankte.

Vermutlich als Summe dieser schockierenden Ereignisse hatte ich eines Nachts einen Alptraum. – Immer noch ist umstritten, was Träume sind. Ich halte nichts von Deuterei. Wichtig ist nur, welche Idee ein Traum vermittelt oder welche Gefühle die Erinnerung an ihn auslöst.

Nun: Ich sah eine Gruppe der Findelkinder in den Feldern. Eine erdrückende schwarze Gewitterwalze schob sich vom Meer heran. Es war eine Stimmung voller Bedrohlichkeit. Die Pferde auf der Koppel waren unruhig und schienen ausreißen zu wollen. Wie eine Kamera zoomte mein Blick sich an die Kinder heran. Sie sahen nicht so aus, wie sie waren, aber im Traum schien es mir, als habe ich sie nie anders gekannt: ihre Züge waren stark, wie im Comic, gemäß dem „Kindchenschema“ überzeichnet. – Die Kinder lächelten, aber ihr Lächeln schien die Bedrohlichkeit der ganzen Situation nur noch zu steigern. Plötzlich wurden sie ernst, ihre Augen flackerten wild, sie bleckten die Zähne – es waren Raubtierzähne! – Sie fielen über die Pferde her und zerfleischten sie in Sekundenschnelle, wie ein Piranja-Schwarm.

Ich schreckte auf, schlief aber erneut ein. Am Morgen erwachte ich beklommen. Irgendetwas schien mit den Kindern nicht zu stimmen. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto unsinniger schienen mir meine Anmutungen und ich merkte zunehmend, wie ich mich wieder auf den nächsten Besuch bei den Kindern freute. – Allerdings kam mir ab jetzt, wenn ich die Kinder sah, für einen Augenblick das überzeichnete Traumbild in den Sinn, begleitet von einem leicht üblen Gefühl, wie von den fetten süßen Schwaden einer Kirmes. Und auch die sichtbare Freude der Erwachsenen über die Kinder war mir suspekt geworden, ja, stieß mich auf eine unerklärliche Weise ab. – Noch blieben mir diese Anmutungen vage und rätselhaft, doch das sollte sich ändern.

 

3

Es waren zwei Tatsachen, die den Untersuchungen eine unerwartbare und beunruhigende Wendung gaben:

Ein Kollege der Uni-München, der nach Erregern im Blut der Kinder forschte, rief mich an, weil wir wohl versehentlich die Blutproben verwechselt hätten. Ich nahm einem der Kinder noch einmal Blut ab und versendete es persönlich an den Kollegen, um jeden Fehler auszuschließen. Doch er rief mich erneut an, diesmal noch ungehaltener, ob wir wirklich so schlampig seien oder was denn bei uns los sei, da müsse erneut eine Verwechslung vorliegen. Ich erkundigte mich genauer nach seiner Beanstandung und er erzählte mir Folgendes: Nachdem alle Testungen auf Erreger ergebnislos verlaufen seien, habe man das Blut mit allen nur erdenklichen Untersuchungsmethoden analysiert. Dabei sei aufgefallen, daß es sich nicht um das Blut von Kindern handeln könne, das sei eindeutig das Blut von Erwachsenen!

Wir führten noch mehrere Tests durch, bis an der Glaubhaftigkeit dieses Befundes kein Zweifel mehr sein konnte. – Eine körperliche Entwicklungsstörung derartigen Ausmaßes, daß Erwachsene noch wie 4jährige wirkten, war nach unserem Kenntnisstand noch nie beschrieben worden! Auch die Recherchen, die wir gleich bei unseren Partneruniversitäten in Auftrag gaben, blieben ergebnislos. Als nächstes veröffentlichten wir in der Fachpresse Aufrufe, wo eine derartige Behinderung schon einmal gesehen worden war. Die einzige Rückmeldung, die wir darauf bekamen, betraf etwas ganz anderes, als wir gefragt hatten:

In Deutschland war ein Doktorant bei der Durchforstung des Archivs seines Instituts auf einen verschlossenen Umschlag gestoßen, der offenbar falsch eingeordnet worden war. Es handelte sich um Unterlagen eines im Krieg verschollenen Professors. Nach seinem Verschwinden war sein Labor von der SS aufgelöst und alle Unterlagen mitgenommen worden – bis auf diesen Umschlag, den offenbar jemand versehentlich oder absichtlich falsch eingesteckt hatte. – Der Professor hatte an Krebszellen geforscht. Er war Genetiker gewesen und von den Nazis als ein Genie hoffiert worden, das seiner Zeit weit voraus sei. Seine Unterlagen belegten, daß er ein Verfahren entwickelt hatte, Zellmutationen massiv zu beschleunigen. Zwischen den Forschungsunterlagen fanden sich übergeschnappte Entwürfe rassistischer Pamphlete, die von Entartung und Umartung faselten. In einem Absatz eines der Pamphlete befand sich eine Bemerkung über die irrsinnigsten und abscheulichsten Forschungsprojekte, auf die wohl je ein Mensch gekommen ist: Experimente mit Säuglingen. Als Ziel schwebte dem abseitigen Fanatiker vor, eine Biotechnik zu entwickeln, mit der es möglich sei, den wahren Übermenschen erschaffen zu können.

Obwohl es kaum vorstellbar erschien, wie  Menschen 15  Jahre im Bunker überlebt haben sollten, war ein Zusammenhang mit der verschütteten Forschungseinrichtung offensichtlich. Weil es nach wie vor aussichtslos war, durch die mehr als hundert Meter hohe Trümmerhalde einen Zugang zum Bunker zu legen, wurde die Stelle, an denen die Kinder gefunden worden waren, nach der Spalte abgesucht, aus denen die Kinder geschlüpft sein mußten. Die Stelle war zwar 40 Kilometer Luftlinie vom Bunker entfernt, aber wer auch immer im Bunker 15 Jahre überlebt hatte, hatte genug Zeit gehabt, sich über eine so lange Strecke ins Freie zu arbeiten.

Mehrere Teams von Höhlenforschern zwängten sich in verschiedene Spalten hinein, bis die richtige gefunden war. Sie wurde zu einem passierbaren Eingang erweitert, dennoch war der Weg zum Bunker eine mehrtägige Strapaze: Der Weg betrug fast das doppelte der Luftlinie, erweiterte sich zwar immer durch natürliche Höhlen und Spalten, aber den größten Teil des Weges mußten wir kriechen. Wir wagten nicht daran zu denken, was für eine Plackerei es gewesen sein mußte, sich diese Durchschlüpfe zu meißeln. Sie waren im Innern des Berges deutlich größer als im Ausgangsbereich, so daß wir mutmaßten, daß Erwachsene sie geschaffen hatten und wir uns fragten, wo die Erwachsenen wohl geblieben waren.

Ich war bei den ersten, die den Bunker betraten. Wir hatten uns darauf vorbereitet, die Überreste grauenhaftester Verbrechen vorzufinden. Doch der Bunker war leer, wie ausgefegt. Wir fanden fast nur Gitterzellen für Gefangene, aneinandergereiht zu Gängen, so lang, daß wir sie nicht ausleuchten konnten. Der Bunker war weit größer, als wir erwartet hatten. Aber wir stießen auf keinerlei menschliche Überreste und nicht einmal auf das kleinste Stückchen Abfall. Wir fanden lediglich das ehemalige Labor mit riesigen rätselhaften Maschinen, die wirkten wie aus zweckentfremdeten Teilen zusammengebastelt. Außer diesen Maschinen fanden wir nur noch eine Art unterirdischen Gewächshauses: primitive Lampen über Kästen, angefüllt mit einer merkwürdigen, unnennbar widerwärtig zwischen den Fingern zerrinnenden Erde, in der tote Stengel stacken. Wir wanderten stundenlang durch die gespenstische Leere, ohne weitere Spuren zu finden.

Die Dokumentation über die Experimente und Forschungsergebnisse war offenbar vernichtet worden. Es gab nur noch persönliche Aufzeichnungen über das, was sich hier abgespielt hatte. Aus denen konnten wir folgendes rekonstruieren:

Eine Gruppe von Wissenschaftlern hatte sich geweigert, die Experimente an einer bestimmten Gruppe von Kindern weiterzuführen. Sie hatten darüber hinaus diese Kinder zu sich in ihre Privatquartiere genommen. Merkwürdigerweise führte das nicht zu disziplinarischen Maßnahmen sondern machte im Gegenteil Schule: bald wollten auch die anderen Wärter und Wissenschaftler eines dieser Kinder „adoptieren“. Nur zwei oder drei Nazis mahnten und drohten. Sie wurden entwaffnet und rausgeschmissen. Zwischen dem Leiter des Labors und seinem Institut sowie anderen involvierten hochrangigen SS-Funktionären gab es noch einige Telefonate. Die Wissenschaftler ließen mittlerweile niemanden mehr in den Bunker. Die schweren hermetisch schließenden Sicherheitstüren machten ihn zur Festung. Die Nazis fackelten nicht lange und sprengten die Felswände der Schlucht, an deren Ende sich der Zugang zur Anlage befand. Es war ausgeschlossen, daß sich durch die Trümmerhalde noch jemand einen Weg ins Freie bahnen konnte.

Den Wissenschaftlern fiel offenbar jetzt erst auf, wie planlos sie gehandelt hatten. In den Aufzeichnungen war zu lesen, die Kinder hätten ihnen „regelrecht den Kopf verdreht“. – Sie überdachten ihre Lage und entwickelten einen Plan, dessen Widerwärtigkeit bei einigen von uns zu Erbrechen führte:

Die Wissenschaftler errechneten, daß sie Jahre brauchen würden, um mit ihrem ungeeigneten Werkzeug einen Weg hinaus zu bahnen, denn wegen steter Bergrutschgefahr entschieden sie, sich nicht durch die Felstrümmerhalde zu arbeiten, und die Versuche, unter der Halde hindurch zu tunneln, an den Ausgang der verschütteten Schlucht, hatten wegen zu massiven Gesteins abgebrochen werden müssen. Es blieb nur der Weg durch den Berg, in der Hoffnung, immer wieder auf Spalten und Höhlen zu stoßen.

Wasser und Energie gab es genug, der Bunker verfügte über einen kleinen unterirdischen Stausee, der aus einer wasserführenden Spalte gespeist wurde. – Die über 400 Gefangenen, junge Mütter mit ihren Säuglingen, von denen es in den Unterlagen hieß, sie seien „rassisch minderwertig“, wurden jetzt so schnell wie möglich ermordet, „Gnadentod“ hieß es zynisch.

Die Wissenschaftler hatten eine Maschinerie ersonnen und aus den Teilen ihres Labors zusammengebastelt, mit der sie die Körper der Toten sowie überhaupt alles, was sich im Bunker befand, inklusive der Exkremente, zum Überleben nutzen konnten, entweder als „Rohstoff“ zur Erzeugung von Nahrung, oder zu „Humus“ verwandelt, in dem aus den Samen der Früchte, die sich in den Vorräten des Bunkers befanden, Pflanzen gezogen wurden. Trotz dieser Maßnahmen gab es unter den Wissenschaftlern und Mannschaften eine Suizidwelle, so daß nur noch 8 Erwachsene übrigblieben, sowie die 31 mutierten Kinder.

Die Wissenschaftler hatten mit einem Zeitraum von 3, längstens 5 Jahren gerechnet. Doch nach dem dritten Jahr stießen sie auf härteres Gestein. Sie versuchten, sich doch durch die Trümmerhalde zu arbeiten, aber es kam tatsächlich zu einem Bergrutsch, bei dem einer der Erwachsenen starb. Als absehbar wurde, daß die Befreiung länger dauern würde als die Vorräte vorhielten, hatte es Diskussionen gegeben, ob man nicht doch die Kinder ermorden und nur das eigene Leben retten sollte. Die drei Befürworter der Kindertötung wurden in der gleichen Nacht im Schlaf umgebracht und an die Überlebensmaschine verfüttert.

Als auch diese Zufuhr nicht reichte, nahmen sich zwei weitere Erwachsene das Leben. Auch von den Kindern waren einige an Krankheiten oder Entkräftung gestorben, so daß es schließlich nur noch 2 Erwachsene und 27 Kinder gab. Durch die Verluste waren ihre Überlebenschancen gestiegen. Zu Gute kam ihnen außerdem, daß die Kinder nicht wuchsen. Dennoch hätten sie den Ausbruch nicht geschafft, wenn sie nicht mehrmals Felsspalten gefunden hätten, die sich zu Höhlen erweiterten, in denen sie Fledermäuse, Ratten, Würmer und, in Seen mit unterirdischen Zuflüssen, auch Fische hatten „ernten“ können, als Futter für ihre Überlebensmaschine. Doch selbst das hatte nicht gereicht: Von den letzten Erwachsenen opferte sich einer freiwillig, weitere Kinder waren gestorben, offenbar gehörten dazu die letzten Knaben. Doch erneut kamen sie an die Grenze des Verhungerns, allerdings konnten sie jetzt durch eine armdicke Felsspalte das Rauschen des Meeres vernehmen. Da „opferte“ sich der letzte Erwachsene. Trotz ihrer Behinderung hatten die „Kinder“ mittlerweile alles gelernt, was sie für den Rest ihres Ausbruchs brauchten.

Darüber, wie es zur Entgleisung des Experimentes gekommen war, gab es in dem Dokument nur ein paar lapidare Sätze: Man habe die Kinder mit Substanzen behandelt, die eine Plastizität bewirkt hätten: Muskeln, Knochen und Organe wären durch physische und chemische Entwicklungsreize formbar geworden. Die Schwierigkeit sei aber gewesen, die Formung gezielt zu steuern. Die Kinder seien meist anders mutiert, als geplant. Man habe das durch zahlreiche Reihen von Experimenten zu steuern versucht, und habe auch immer bessere Erfolge dabei gehabt. Doch einige Kinder hätten unabhängig von einander einen „frappierenden Charme“ entwickelt, dem fast keiner der Wärter und Wissenschaftler sich habe entziehen können. Was als eine „Tändelei“ begonnen habe, die zwar unprofessionell gewesen sei aber unbedenklich geschienen habe, sei in kurzer Zeit zur Bestürzung aller völlig entgleist.

 

4

Den Verdacht des sexuellen Mißbrauchs der Kinder konnten wir entkräften. Auf die richtige Spur dessen, was im Bunker und später auf der Insel vor sich gegangen war, verhalf uns der Witwer der Bibleothekarin. Er gewährte uns nach langem Überlegen Einsicht in die Tagebücher seiner Partnerin. Einige der Schulhefte, die sie für ihre Aufzeichnungen benutzt hatte, hielt der Witwer zurück, es waren die Hefte, die Eintragungen über ihr Eheleben enthielten. Sie umfassten einen Zeitraum von etwa 8 Monaten. In den Heften aus ihrer letzten Lebensphase gab es dazu nur noch wenige Andeutungen so allgemeiner Art, daß er es nicht als indiskret empfand, sie uns lesen zu lassen. – Schon daraus läßt sich schließen, daß ihr Eheleben nur eine verzögernde Episode war in dem Prozeß, der zum Suizid führte. Die lang entbehrte partnerschaftliche Sexualität konnte die von dem Findelkind ausgehende Macht nicht brechen.

Aus den Tagebüchern der Bibliothekarin ging zunächst hervor, welche Bedeutung ihre Arbeit und ihr Musizieren für sie hatte: Die Bibliothek der Insel war immer von zwei alten unverheirateten Schwestern geführt worden, die ein völlig veraltetes System von ihren Vorgängern übernommen hatten. Frau Blom hatte sich als Kind immer geärgert: Die Bücher waren altmodisch und langweilig, interessante Bücher mussten vom Festland bestellt werden,  und das kostete immer Taschengeld. Und je älter sie wurde, desto beschränkter hatte sie den Bestand gefunden und desto mehr hatte sie sich über die Ordnung geärgert, die es absurd umständlich machte, etwas zu finden. Die Möglichkeit, den Bestand zu modernisieren, sein Niveau zu heben, seine Ordnung zu verbessern, und so zur Entwicklung des geistigen Niveaus der abgelegenen Insel beizutragen, war ihr eine lohnende Lebensaufgabe erschienen.

Ebenso das Musizieren: Professionelle Konzerte konnten nur ganz selten und nur mit Fördermitteln finanziert werden. Die Insel war auf die Musik angewiesen, die die Einheimischen selber machen konnten. Es gab zwar viel Volksmusik, aber es gab nur sehr wenige, die Kunstmusik gut genug spielen konnten, daß Hörer davon profitierten. Das waren außer dem Organisten meist nur ein oder zwei Lehrer, ein Arzt, ein Pastor oder deren Gattinnen. Und da Streichinstrumente noch schwerer zu spielen sind als Klavier, war es ein Glücksfall, wenn mal über längere Zeit genügend Amateurmusiker für ein Streichquartett auf der Insel lebten. Die Konzerte waren daher begehrt und die Kirche immer ausgebucht bis auf den letzten Platz. Sogar die Kirchenmäuse spitzen die Ohren.

Die Eintragungen über das Findelkind in der Zeit vor der Heirat sind noch ungetrübt und überschwenglich. Ich erinnere den Satz: „Was für eine Freude es mir bereitet, Küken eine Freude zu bereiten!“ Sie schilderte die Spiele, die das „Kind“ erfand (es wußte ja noch niemand, daß es sich eigentlich um eine junge Frau handelte), z.B. wenn es zwischen den Möbeln verschwand und ganz still wurde, und dann tauchte plötzlich an einer ganz anderen Ecke sein Köpfchen auf, schaute die Adoptivmutter an, lachte über ihre Überraschung und verschwand ebenso plötzlich wieder. „Küken ist so süß“, hieß es immer wieder.

Immer öfter berichtete sie davon, beim Musizieren und im Dienst zerstreut zu sein und nur noch an ihr „Küken“ denken zu können, an seine Spiele, sein Lachen, seine Freude. Sie wunderte sich, daß ihr ihre Aufgabe, die Bibliothek auszubauen, immer unwichtiger wurde gegen ihre Aufgabe als Adoptivmutter. Ihre Verwunderung war um so größer, weil das Kind ganz anspruchslos war und nichts Forderndes hatte. Es konnte z.B. beim Quartettspielen stundenlang in einem Sessel liegen und mit offenen Augen vor sich hin träumen, geduldig, ohne einen Mucks. Sie spürte kein schlechtes Gewissen, wenn sie sich ihm stundenlang nicht zuwandte. Das stachelte sie noch mehr an, an das Kind zu denken:  wie sie ihm eine Freude machen könnte.

Sie beschrieb ausführlich das Glück, das von seinem Blick ausgehe, wenn es sie anschaue und mit seinen Händen nach ihr greife und sie das Gefühl bekäme: sie sei gemeint, ihre ganz spezielle Art werde von dem Kind geschätzt und gewünscht und das, was zwischen ihnen entstanden sei, sei ihm wertvoll geworden. Einmal schrieb sie, dieses Gefühl sei für sie der Himmel auf Erden.

Im zweiten Teil der Tagebücher beschrieb sie erstaunt und selbstkritisch, wie ihr alles, was für sie früher Wert, Sinn und Bedeutung gehabt habe gegen das Glück mit Küken verblasse, langweilig werde und immer weniger motiviere. Das Musizieren gab sie auf, die Arbeit in der Bibliothek war ihr längst nur noch lästiger Broterwerb, die Nähe zu ihrem Partner schätzte sie, aber nicht anders, als man einen warmen Ofen schätzt.

So sehr ihr auch klar wurde, daß etwas nicht in Ordnung war, wußte sie sich doch nicht zu helfen: Nicht nur, weil ihr der Verzicht auf die Freude mit ihrem „Küken“ unannehmbar schien, indiskutabel, nicht verhandelbar, sondern weil sie auch das unabweisbare Gefühl hatte, daß das Kind all diese Liebe verdient habe, daß man ihm keinen Deut davon nehmen dürfe – denn alle anderen Menschen hatten noch andere Quellen des Glücks zur Verfügung, diese behinderten, verstoßenen und vermutlich vor Lieblosigkeit fast gestorbenen Kinder hatten nur diese eine Quelle des Glücks: Ihre Adoptiveltern. Die Kinder konnten gar nicht genug Liebe kriegen, das stand ihnen zu! Es schien ihr das Schäbigste, dem Kind etwas von seinem Glück zu nehmen, dadurch, daß sie es zu anderen Eltern gab, nur damit sie sich selbst verwirklichen könne.

Sie begann daran zu zweifeln, daß ihr Musizieren und ihre Bibliotheksarbeit wirklich so wichtig für die Insel seien und nicht doch bloß ein Luxusgut, gegen das das Glück der Kinder weit schwerer wiege.

Die kritische Phase setzte ein, als sie zum ersten Mal den Gedanken hatte, daß solche Kinder in früheren Zeiten als kleine Götter erlebt worden wären. Ja: sie ertappte sich dabei, wie sie mit der Vorstellung spielte, einer Gottheit in Gestalt eines Kindes zu dienen, und sie musste sich eingestehen, daß dieser verbotene Gedanke – denn sie sollte ja keinen Gott neben dem des Pastors haben – daß dieser Gedanke – den sie selber auch gar nicht glaubte, sondern mit dem sie nur gerne spielte – daß der Gedanke sie zusätzlich euphorisierte.

Das erste Mal, als ihr klar wurde, daß an der ganzen Sache ernsthaft etwas nicht stimmte, war erreicht, als ihr ganz spontan die Idee kam, eine Auserwählte zu sein. Sie wies diesen Gedanken entschieden zurück. Sie fand ihn wahnhaft und lächerlich, sie hatte Gedanken dieser Art nie nötig gehabt, Auserwähltheitsfantasien waren ihr fremd. Doch sie merkte, daß ihre Selbstkritik immer wieder von dieser Idee unterlaufen wurde: Sicher, sie hatte es nicht nötig eine Auserwählte zu sein und sie wollte das auch nicht – aber wenn sie es nun doch wäre?

Dann war sie wieder zerknirscht, daß so ein dummer Gedanke überhaupt Macht in ihr haben konnte. Sie rechnete sich das als Geistesstörung an und überlegte, ob nicht ein Punkt überschritten sei, ob diese Geistesstörung nicht zeige, daß sie ihrer Aufgabe als Mutter dieses Kindes nicht gewachsen sei, so erstaunlich und überraschend dieser Befund auch war.

Doch dann fragte sie sich wieder, was sie denn eigentlich habe, wo denn eigentlich das Problem sei, es gebe doch nichts Sinnvolleres im Leben, als so ein Kind glücklich zu machen! Dennoch gab es aber immer wieder Momente, in denen sie die Freude an dem Kind als falsch empfand, als verkehrt, wie etwas, das zu wuchern begonnen hatte. – Doch ohne diese Freude, so falsch sie möglicherweise auch war: ohne diese Freude schien ihr das Leben ein Leben ohne Sonne zu sein, ein Leben im Schatten, ein Leben auf einem öden, lichtlosen, kalten Fleck ohne jemals wieder strahlendes Licht und üppige Wärme genießen zu können.

Außerdem hatte sie das Gefühl, daß sie nach einer Trennung immer daran denken müsse, was sie dem Kind dadurch angetan habe und ob es dem Kind ohne sie gut gehe. Es schien ihr ganz klar, daß sie ihres Lebens nicht mehr froh werden würde, wenn sie das Kind weggäbe.

Doch die Vorstellung, das Kind zu behalten, machte sie von Zeit zu Zeit nicht weniger beklommen. Was sonst nur ein vernachlässigbares Gefühl von Fadheit war, steigerte sich in solchen Augenblicken zu einem Gefühl beängstigender Leere: Die Musik war ihr gleichgültig geworden, ihre Ehe und ihr Beruf auch; und Küken würde sich nicht weiter entwickeln: Sie würde für den Rest ihres Lebens so für das Kind da sein, wie sie jetzt für es da war, es würde nie wieder etwas anderes kommen.

Sie hatte in diesen Augenblicken das Gefühl, in eine Falle geraten zu sein: Mit dem Kind musste sie willenlos dem Zweck eines Fremden leben, sie fühlte sich um ihr Selbst beraubt, wie eine lebende Tote. Doch ohne das Kind fürchtete sie, an Freud- und Hoffnungslosigkeit einzugehen, wie in einem Lebensraum, in dem es zu wenig Nahrung, Wärme und Licht gibt, um auf Dauer zu überleben. Ohne Küken war ihr Leben grau, kalt, und beklommen vom schlechten Gewissen, mit Küken war es leer und ohne Selbst.

In diesen Augenblicken kam ihr das Kind nicht mehr vor wie ein Gott sondern wie ein Dämon, ein unschuldiger vielleicht, einer der keiner sein wollte, der vielleicht nicht mal wusste, daß er böse war, der gar keinen Begriff davon haben konnte. Sie sah dann nur noch einen Ausweg: sich umzubringen.

Aber das wollte sie dem Kind nicht antun! Jeder Suizidimpuls wurde abgewiesen durch den Gedanken: was zählst Du? Du hattest ein schönes Leben bisher, hast Sinn erlebt und Liebe, jetzt ist das Kind dran! Es hat die Freude mit dir verdient! Es hat verdient, daß du wegen ihm auf deine Selbstverwirklichung, die ohnehin fragwürdig ist, verzichtest und dich zusammenreißt! Was hast du überhaupt? Läßt dir das Kind etwa nicht genug Zeit? Es quengelt nicht, wenn du arbeitest und musiziert, also wo ist das Problem?

Die Antwort war: Ihr ganzes Sinnen und Trachten drehte sich nur noch um das Kind, ob sie wollte oder nicht. Das Kind ließ ihr keine Zeit mehr, gar keine, nicht eine Sekunde. Aber immer wieder wurde ihr diese Antwort fraglich: „Wieso? Das bildest du dir nur ein! Stell dich nicht so an! Das redest du dir nur ein, um einen Grund zu haben, dich vor der Pflicht an diesem Kind zu drücken! Einer Pflicht, die es nicht mal verlangt und deshalb um so mehr verdient hat! Und wie undankbar du bist gegen die Freude, die Küken dir macht!“

Immer wieder wies sie die Suizidimpulse mit solchen Gedanken ab. Aber etwas in ihr wollte sich dem Selbstmissbrauch entziehen, um jeden Preis, um jeden – und ihr Selbstzerstörungswille lernte immer mehr über die Macht und die Strategie ihrer Moral, bis er schließlich instinktiv wusste, daß er gegen das Bewusstsein nicht lange bestehen konnte, daß er seinen Weg finden musste, bevor es gefechtsklar war…

 

5

Nach Abschluß der Untersuchungen rekonstruierten wir das Entgleisen der skrupellosen Experimente wie folgt:

Die Kinder waren von ihren Müttern nach der Geburt getrennt in Brutkästen aufgezogen und biologisch manipuliert worden. Die Ängste und Entbehrungen, die sie durch lieblose Behandlung erlitten, hatten zu ungerichteten Anstrengungen ihres Überlebenswillens geführt, der dabei offenbar die chemisch induzierte Mutationsfähigkeit „entdeckt“ hatte.

Der angeborene biologische Programm von Kleinkindern, alles zu tun, um die Bezugspersonen zur Zuwendung zu bewegen, hatte dann Mutationen über Mutationen vorangetrieben, hatte nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum Gestalt und Verhaltensbereitschaften der Kinder immer wieder moduliert, hatte regelrecht mit den Experimentatoren experimentiert, bis die Kinder schließlich eine unwiderstehliche „Putzigkeit“ ausgebildet hatten, jenen unnatürlichen Charme, der selbst die hartgesottensten Wissenschaftler regelrecht „betört“ hatte.

Die Kinder hatten es geschafft, die Biologie der Nachwuchshege für ihre Selbstverteidigung nutzbar zu machen: die angeborene Eigenschaft unseres Gehirns, auf Kinder mit Entzücken zu reagieren sowie mit Zuwendungs- und Fürsorgeimpulsen, deren Befolgung mit Glücksgefühlen belohnt wird. Die für diese Belohnung verantwortlichen neuronalen Stoffwechselvorgänge in den Hirnen der Wissenschaftler hatten die Kinder durch die Modulationen ihres Aussehens und Verhaltens regelrecht hochfrisiert, bis sie die Wissenschaftler in eine Art körpereigener Drogenabhängigkeit versetzt hatten.

Das hatte dann fatalerweise auch bei den unschuldigen Inselbewohnern funktioniert. Spätestens als klar wurde, daß die Kinder immer so bleiben würden, hatten ihre Adoptiveltern gemerkt, daß ihr ganzes Leben, ihr ganzes Sinnen und Trachten nur noch auf die Kleinen ausgerichtet bleiben würde. Die Erwachsenen konnten an nichts anderes mehr denken, sich über nichts anderes mehr freuen, sie hatten keine geistige und seelische Kapazität mehr für ein eigenes Leben, gleichwohl war ihnen die Vorstellung unerträglich, sich von den Kindern zu trennen. Sie genossen das Elternglück und fühlten sich gleichzeitig leer, aber ohne zu wissen, ob sie sich das nicht nur einbildeten. Im Laufe der Zeit mehrten sich die Augenblicke, in denen sie sich von den Kindern regelrecht „besessen“ fühlten. Untergründig schwärte eine immer übermächtiger werdende Verzweiflung, die in dem Selbstzerstörungs-„Instinkt“ gipfelte, den nächsten sich bietenden hinreichend starken Suizidimpuls zu nutzen, ohne Wenn und Aber, koste es, was es wolle. Sie wurden dabei getrieben von der Angst, von den Kindern immer mehr verzaubert zu werden, schließlich vielleicht nie wieder eine Suizidentscheidung treffen zu können und zu einem entpersönlichten Leben versklavt zu bleiben.

Nachdem die Wahrheit über die Findelkinder ans Licht gekommen war, war es möglich, mit den Inselbewohnern vernünftig über den Handlungsbedarf zu reden. Die Kinder waren Helden wider Willen! Sie hatten als Kleinkinder die hoffnungslos überlegene Macht skrupelloser Massenmörder gebrochen! Sie hatten alle nur erdenkliche Unterstützung und Zuwendung verdient!

Wir schlugen den Bürgern vor, die Kinder in ein Heim zu bringen, das extra für sie eingerichtet würde. Dort würde ausgesuchtes professionelles Personal mit engmaschiger Unterstützung der erfahrensten Psychologen versuchen, ihnen gerecht zu werden, ohne sich in die mächtigen Gefühle, die die Kinder auslösten, zu verstricken. Das würde sicher ein paar Jahre dauern. Aber dann könnten die Familien in dieser Art Beziehungsgestaltung geschult werden und die „Kinder“ zu ihnen zurückkehren.

Unter dem Eindruck der letzten Suizide willigten die Leute ein. Wir hatten keine Probleme, von internationalen Stiftungen genügend Gelder zu bekommen, um den „Kindern“ ein schönes Heim einzurichten: einen verwaisten großen alten Landsitz mit anmutigem Park. Und wir suchten die fortschrittlichsten Psychologen und Erzieher für sie aus, in einem sehr sorgfältigen Auswahlverfahren. Ich konnte mich selber überzeugen, daß es den „Kindern“ dort richtig gut ging.

Eine Frage, die ich selbst längst für beantwortet hielt, kommt mir allerdings immer wieder in den Sinn: Warum hatten sich die letzten Erwachsenen im Bunker umgebracht um die Kinder zu retten? – Es gibt einige Forschungsergebnisse und Tatsachen, die wir bis heute der Öffentlichkeit verschwiegen haben: Wir vermuten, daß über all die Jahre der Eingeschlossenheit mit den Kindern weiter experimentiert wurde. Jedenfalls erklären wir uns so die Tatsachen, deren Folgen nicht aufgehört haben, uns zu beunruhigen:

Die Babys, die ungefähr ein Jahr nach Adoption der „Findelkinder“ in den Adoptionsfamilien geboren worden waren, waren gegen Abschluß unserer Untersuchungen etwa 2 Jahre alt. Und in einigen Familien wurde immer mehr zur Gewissheit, was zunächst nur gescherzt worden war: Die Babys begannen immer mehr, den Findelkindern aufs Haar zu gleichen! Mit einem Mal sah man auch die verzweifelten Beteuerungen einiger minderjähriger und unverheirateter Mütter in ganz anderem Licht: Die Untersuchungen der Kleinkinder ergab, daß es sich um Klone handelte, um Klone der Findelkinder!

Nach aufwändigen Forschungen fanden wir heraus, daß die Findelkinder keimfähige Eizellen mit ihrem Speichel absonderten, so daß für eine Frau jedes Mal, wenn sie den gleichen Löffel benutzte oder am gleichen Biß abbiß, die Gefahr bestand, schwanger zu werden. Wie diese Eizellen es schaffen, den Weg in die Gebärmutter zu finden ist bis heute unbekannt. Offenbar gelingt das wohl den wenigsten, denn in den meisten Fällen war trotz jahrelanger Exposition nichts passiert. – Auch die Kinder der Findelkinder wurden in das Heim aufgenommen. Dort wurde die Fortpflanzung durch einfache Hygienevorschriften verhindert.

Wir erforschten die „Kinder“ weiter. Dabei kamen weitere ungewöhnliche Tatsachen zu Tage: Sie verhalten sich zu Kindern anders als zu Erwachsenen. Ab etwa ein Meter fünfzig Größe scheint ihr Gehirn Menschen als erwachsen zu definieren und stellt ihnen gegenüber auf ein neues Verhalten um, das nur durch systematische Beobachtung vom ursprünglichen Verhalten zu unterscheiden ist.

Kinder scheinen sie wirklich zu lieben. Den Erwachsenen aber scheinen sie die Liebe nur zu heucheln. Außerdem konnte durch Verhaltensexperimente, bei denen die „Kinder“ nicht wussten, worauf es ankam, gezeigt werden, daß sie gar nicht so lernunfähig und auffassungsschwach sind, wie sie tun. Sie verbergen bloß systematisch, was sie können. Sie sind zwar nicht so intelligent wie normal entwickelte 4-jährige Kinder, geschweige denn normal entwickelte Gleichaltrige, aber sie haben eine andere Art von Intelligenz: Sie können sehr viel besser Gefühle, Stimmungen und Absichten Erwachsener an deren Körpersprache ablesen und haben einen hocheffektiven Manipulationsinstinkt. Darin sind sie Meister.

Die weitere Erforschung ihrer Haltung Erwachsenen gegenüber legt nahe: Sie betrachten nur Kinder als Menschen. Erwachsene können sie nicht mehr als Menschen erkennen, sondern nur noch als eine Art affenhaftes Raubtier. Sie setzen Erwachsenwerden offenbar mit einer Art Demenz gleich, die die wesentlichen Fähigkeiten des Menschen zerstört und sie dadurch aggressiv enthemmt und gnadenlos ichbezogen macht. Für sie sind Erwachsene Teil der nicht-sozialen Umwelt, wie für uns Affen, mit denen sie ohne ethische Bedenken Experimente machen.

Und es gibt noch ein Forschungsergebnis: Sie haben ihre Mutationsfähigkeit nicht verloren. Ihr Organismus ist weit „plastischer“ als der unsere. Es ist nicht abzusehen, was das langfristig für die Hirn- und Intelligenzentwicklung bedeutet.

All dies wäre weit weniger beunruhigend, wenn alles gelaufen wäre, wie geplant. Aber die bei den „Findelkindern“ erforderte hochspezielle Kunst der „inneren“ Abgrenzung musste erst mal entwickelt werden! Wir hatten nicht gleich nur Erfolge. Einige Erzieher und Erzieherinnen nahmen sich ein Kind und tauchten damit unter. Nicht alle davon konnten gefunden werden. Mehrere Kinder wurden auch „geklaut“, offenbar von Besuchern, die das Heim besichtigt hatten. Und einige Kinder sind ausgebüxt, obwohl sie in dem Heim doch wie kleine Fürsten lebten. Von denen wurde keines wieder gefunden.

Bei Menschen, die wie diese Nazi-Wissenschaftler eine so abseitige, skrupellose Aggression und kriminellen Energie besitzen, kann man sich vieles vorstellen. War es also aus Liebe, daß sie sich für das Überleben der Kinder aufopferten – oder aus Rache?“

Nach dem der Psychiater geendet hatte trat eine lange Pause ein. – „Eigenartig“, brach der Professor das Schweigen, „Sie haben vorhin versucht, unsere pessimistischen Mutmaßungen zu relativieren, aber ihr erzählerischer Reflex auf unsere Diskussion läßt sich an Düsterkeit kaum überbieten!“

„Die Abseitigkeiten des letzten Jahrhunderts stecken uns allen noch in den Knochen“ entgegnete der Psychiater, „verkapselt zwar, aber viele Menschen schaffen es einfach nicht, sich darüber zu beruhigen. Die meisten haben allerdings gar keine Zeit, sich mit ihrer Unruhe zu beschäftigen. – Diese Zeit habe ich nun. Und ich bin erst Anfänger darin, meiner Beunruhigung Ausdruck zu verschaffen. – Der Dichter Rilke sprach einmal davon, daß die Toten vielleicht noch etwas von uns wollen könnten. – Wenn Sie z.B. zu irgendeinem Anlaß in irgendeiner Zeitung ein Bild sehen – und ich erinnere mich, vor dem Spaziergang, der diese Geschichte hervorbrachte, eines gesehen zu haben: Bürger die mit ihren Kindern abgeführt werden in eine Ermordungsfabrik – wenn Sie solche Bilder sehen: haben Sie da nicht auch das Gefühl, daß diese Getöteten noch etwas von uns wollen? Ich versuche, etwas von dem zu vernehmen, was sie uns zuraunen. Ich habe jetzt viel Zeit, da lösen sich Reflexe, und ich bin jetzt alt genug, um es mir leisten zu dürfen, diese Reflexe nicht mehr zu unterdrücken.“

 

Weiterlesen: Psychjatergarn Nr. 5: „Das galaktische Bewußtsein“

„Psychiatergarn“ ist ein Zyklus von aktuell 6 Geschichten verbunden durch eine Rahmenerzählung.

 

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