So modern wie verkannt? Zum Epilog von Goethes „Faust“

Die Sache ist eigentlich ganz einfach, etwa so: Der große Bruder wettet mit Papa, daß der kleine Bruder sich mit Schokoeis vollstopft, bis er kotzt. Doch bevor es soweit ist, platzt Mama dazwischen, stinksauer, zischt: „ihr seit ja wohl völlig bescheuert“, und holt den Kleinen da weg.

Das Thema des Epilogs ist, modern formuliert: soziale Intelligenz: Was ist ein sozial intelligenter Umgang mit moralischem Versagen? Das wird exemplarisch dargestellt an der „Erlösung“ eines Egozentrikers, der mit dem Agieren seines Daseinsgrolls katastrophales Unheil anrichtete.

Inhalt: 

(1) Der poetische Sinn der mythologischen Figuren
(2) Figuren- und Textstelleninterpretation: Die Eremiten: Pater Ecstaticus, Pater Profundus, Pater Seraphicus. – – Die Engel. – – Die seligen Knaben. – – Mater gloriosa. – – Dr. Marianus I. – – Die gute Seele. — Dr. Marianus II. – – Chorus Mysticus: Das Ewig Weibliche, das Vergängliche, das Unzulängliche, das Unbeschreibliche

(Lesezeit: 40 Minuten)

 

(1) Der poetische Sinn der mythologischen Figuren

Man darf sich nicht verwirren lassen: Der Epilog ist unreligös gemeint. Goethe nutzte den Volksglauben als die vergängliche Gestalt, in der überzeitliche Ideen historisch ihre Form finden. So wie der Prolog nichts darüber aussagen will, ob es Gott gibt, will der Epilog nichts darüber sagen, was wir nach dem Tod zu erwarten haben. Das wäre keine Poesie sondern Ideologie. – Poesie bedeutet immer: entrückt werden aus dem Alltag durch Gleichnisse und sprachlichen Zauber.

Für Goethe hatten die Geschichten der Religionen ganz glaubensfrei etwas Poetisches. Und er war offenbar bewegt von der Haltung, die ihn aus den Elementen des christlichen Volksglaubens ansprach: wertschätzen statt verurteilen, integrieren statt ausstoßen. Die Figuren des Volksglaubens – Engel, Heilige, gute Geister und Muttergottes – bringt Goethe in ihrer liebenswürdigen Beschränktheit, ihrer rührenden, unfreiwilligen Komik auf die Bühne: auch das Erlösende ist in seiner historischen Gestalt bedingt und unzulänglich, nicht weniger als die zu Erlösenden.

Indem er Elemente des Volksglaubens nutzt, knüpft Goethe gleichzeitig an das an, was für Margarete Realität ist. Das ist eine ebenso große Wertschätzung für Margarete wie für das „Volk“ – ähnlich wie Goethe in den „Wanderjahren“ aussterbende jahrhundertealte Handwerkstechniken minutiös beschrieb, in der sich die Findigkeit der vorindustriellen Kultur widerspiegelte: als etwas, das von uns erzählt.

Rilke drückt diese Haltung so aus: „Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall, wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet, als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick. Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil“ (9. Duineser Elegie). – Der Epilog preist das Menschliche, das findig und geschickt Töpfe, Seile und Madonnenfiguren hervorbringt… –

Es geht darum, aus den Mythen und Märchen herauszuhören, was vom Menschlichen kündet – die unreligiösen vorbewußten Motive und Intentionen, die mit den zauberhaften mythischen Inhalten und Figuren verbunden sind [1].

Wenn im Folgenden von „Gott“ die Rede ist, steht das für das Überindividuelle: entweder für „Natur“ oder für „Sinn“. Das Leben „auf Gott ausrichten“ bedeutet entweder: Kontemplation auf das, was uns hervorgebracht hat und in uns wirkt; oder: konsequent nach dem Sinn leben, den unser Leben für andere Menschen haben kann [2].

 

(2) Figuren- und Textstelleninterpretation

(2.1) Die Eremiten:

Immer wenn Frauengeschichten scheitern, flieht Faust ins Gebirge. Gebirge fungiert leitmotivisch als Sinnbild für Entrücktheit aus den Niederungen der alltäglichen Getriebenheiten in eine Sphäre der „Öde“: der besinnungsfördernden Abwesenheit von ablenkenden Außenreizen.

Das Gebirge des Epilogs, an dem Fausts Seele „nach oben“ geführt wird, ist mit heiligen Einsiedlern bevölkert. Ihre Nähe zu Gott hat offenbar die ganze Region so mit Liebe infiziert, daß die Löwen zahm wie Miezekatzen herumschnurren. Die Aggressivität ist verwandelt, die Tage des Zorns sind vorbei.

Was ist an Eremiten poetisch?

Eremiten sind Aussteiger. Sie haben die Konflikte des weltlichen Lebens satt. Sie machen das Rennen nach dem Glück nicht mehr mit. Sie wollen sich nicht von sinnlichen und seelischen Lüsten in ihrem Sinnen und Trachten beeinträchtigen lassen. Eremiten sind ein Sinnbild für die Emanzipation von der eigenen Natur und für die Kultivierung von Reflexion.

„Kultiviert“ ist Reflexion, wenn sie oft und stetig genug gepflegt wird, um gestalterischen Einfluß auf das Leben zu erlangen. – In einer duftenden Sommernacht im Gras zu liegen und angesichts des Sternenhimmels einen Schauder zu spüren, ist auch Reflexion, die in der Regel aber zu nichts führt. – Ein drastisches Beispiel dafür gibt es in einer Südsee-Erzählung Jack Londons: Eine Frau überlegt, wie sie eine schicke Standuhr finanzieren kann, um die die andern sie beneiden werden, da kommt ein Tsunami, sie wird auf eine entfernte Sandbank gespült, sieht an den angespülten Leichen, daß sie selber nur mit viel Glück überlebt hat, baut sich aus den angespülten Trümmern ein Floß, verdurstet auf dem Meer fast, erreicht aber mit letzter Kraft ihre Insel. Und als sie sich erholt hat, denkt sie – als wär nichts gewesen – wieder nur über die Finanzierung der Standuhr nach.

Kultivierte Reflexion dagegen lässt keine Ignoranz aufkommen gegen die einmal erlebte Relativierung der fraglosen Sicherheiten und Werte des eingelebten Lebenswandels, sondern erforscht diese Relativierung immer weiter und zieht daraus Konsequenzen.

Solche Reflexion erfordert Anstrengung, weil andere Gedanken unmittelbarer andrängen: „Was kann ich? Wo steh ich? Wo will ich hin? Wie kann ich das erreichen? Wie kann ich mich einbringen und was gibt mir das für eine Bedeutung und für einen Status? Welche Ziele sind realistisch? Was darf ich und was will ich wagen?“

Eine klassische Meditationsübung besteht darin, das Kommen und Gehen solcher Gedanken und Gefühle zu beobachten und immer besser zu erleben, daß wir sie genauso wenig selber machen, wie Atem und Herzschlag; zu erleben, wie wenig „Ich“ da eigentlich drin ist. – Eremiten machen aus solchem Meditieren einen Hochleistungssport.

Doch der „Pater Ecstaticus“ wirkt seltsam: Inmitten zahmer Löwen ersehnt er nichts leidenschaftlicher, als zerrissen zu werden. – Als Faust mit den Engeln nach oben zieht, schaut er sich möglicherweise befremdet nach den Pater um, und die Engel sagen: „Ach der! Das ist unser Ecci. Der hebt manchmal etwas ab, aber sonst ist er ganz o.k.“.

Für Fromme sind solche Selbstquäler Sinnbild für die Stärke der Sehnsucht nach der Verbundenheit mit Gott und für die Heftigkeit und Hartnäckigkeit mit der unsere natürlichen und gewachsenen Bestrebungen von Leib und Seele sich immer wieder gegen Wissen und Willen durchsetzen, uns egoistisch auf uns selbst beziehen, und von Gott abhalten. Die Figur des Paters veranschaulicht die Wut, die das aufstauen kann, die Wut auf alles, was uns immer wieder ablenkt von dem, was wir für wichtig und richtig erkannt haben. Das Bibelwort: „Wenn dich dein Auge stört, reiß es aus und wirf es weit von dir“ ist so zu verstehen. Die Fachleute nennen das: Stimuluskontrolle.

Die zweiten vier Verse des Paters können geradezu als Versprachlichung des Gefühls gelten, das viele rückfällige Alkoholiker nur allzu gut kennen, der Volksmund sagt´s nur schlichter: „Ich könnt mich in den Arsch beißen!“ – Dennoch: die Heftigkeit der Autoaggression des Paters befremdet, sie wirkt unreif und hoch neurotisch. Das entspricht nicht dem Prinzip der Natur: „selbst im Großen ist es nicht Gewalt“. Ein reiferer Mann würde sagen: „Blöd, daß ich noch derart dem Nichtigen verhaftet bin. Aber ich habe Pflichten, ich kann mich nicht zerschmettern lassen, bloß um das Nichtige an mir ganz schnell zu verflüchtigen!“

Das Nichtige zu verflüchtigen, es der verflixten Triebhaftigkeit zu zeigen, das hat für den Pater Vorrang vor allem Bezug zu anderen Menschen. Eigentlich geht es ihm zwar um die „Ewige Liebe“, aber er will ein ganz toller Virtuose der Selbstlosigkeit werden, so etwas ist nur durch kompromissloses Training hin zu kriegen. Deshalb hat er bis auf weiteres erstmal gar keine Zeit für die selbstlose Tätigkeit, um die es der Liebe, die er glänzen lassen will, eigentlich geht [3].

Man könnte glatt auf die Idee kommen, daß der Pater seine Worte der Mater Gloriosa in wachsender sexueller Erregung ins Gesicht schreit, während sie – als Domina – gerade dabei ist, ihn auszupeitschen. (Ich hoffe, damit habe ich die Aufführungspraxis gegen diese Inszenierungsidee geimpft. Auf der Bühne wäre es unbrauchbar, weil es fragwürdige Nebenaspekte als Hauptaspekt herausstellt, um des „Effektes“ willen.)

Aber selbst, wenn seine Selbstkasteiung eine sexuelle Ersatzhandlung wäre: Da, wo Löwen zahm sind, dürfen alle unzulänglich bleiben, ihre Unzulänglichkeit wird als „ready made“ Ereignis: etwas Einzelnes, an dem sich etwas Allgemeines abzeichnet, etwas, das uns über uns selbst belehrt, über die Kräfte, die in uns wirken, und die Bedingungen, unter denen sie sich verheddern… – Abgesehen davon griffe eine sexuelle Lesart zu kurz, weil der Pater seine Triebe ebenso wie seinen Stolz zerschmettern will. – Er ist vielleicht aus Verzweiflung so extrem, weil er das in der Extremität liegende Paradox entdeckt hat: daß er ganz stolz darauf ist, fähig zu sein, seinen Stolz so kompromißlos zu zerstören…

In seiner Gewaltsamkeit und Selbstbezogenheit gleicht der Pater dem Faust vom Beginn des Dramas. Seine Worte haben eine entfernte Sinnverwandtschaft mit Fausts „Fluchlitanei“ („so fluch ich allem…“). Und falls Faust im Vorüberschweben befremdet auf den Pater blickt, erblickt er eigentlich nur einen Teil seiner selbst.

Autoaggression als Abwehr von Schuldgefühlen: darin ist der Pater aber auch Margarete verwandt, die eine Chance zur Flucht hatte, aber ihre Hinrichtung freiwillig auf sich nahm! (Einem Teenager kann man allerdings zugestehen, durch schwere Schuld überfordert zu sein und „unreife“ Formen der Schuldbewältigung vorzuziehen – zumal Margarete niemanden hatte, der ihr beistand: Mutter und Bruder waren tot, Faust weg, und sie selbst geächtet wegen des Mordes an ihrem unehelichen Baby. Sie hatte niemanden mehr, der sie gegen ihre Selbstvorwürfe in Schutz nahm und sie bei der Bewältigung ihrer vernichtenden Schuldgefühle unterstützte.)

Der Pater Profundus ist auch noch selbstbezüglich: die Kräfte der Natur sollen die Wunden heilen, die das Leben seiner Seele geschlagen haben. – Sein „Inneres“ ist in einem Zustand, den Faust sehr gut kennen müßte: „verworren, kalt, verquält in stumpfer Sinne Schranken, scharf angeschlossenem Kettenschmerz“. Das gleicht dem „garstgen Wirrwarr netzumstrickter Qualen“, dem Faust nach Heimsuchung der Sorge nicht anheimfallen will. Aber während Faust stolz ist auf sein „inneres“ Licht, das ihm das äußere entbehrlich macht, wendet der Pater sich an Gott. Er sucht Interaktion wo Faust sich in einsames, von sich selbst eingenommenes Schaffen flüchtet.

Der Pater Seraphikus ist nicht mehr mit sich selbst beschäftigt, er kümmert sich um andere: um die seligen Knaben, blinde und unwissende Geister direkt nach der Geburt verstorbener Kinder. Der Pater ist empathisch und solidarisch, er will ihnen sofort helfen. Aber er kann sie auch problemlos wieder loslassen, als sie signalisieren, daß er nicht die richtige „Kur“ für sie hat. Dadurch erweist er sich als reif, im Gegensatz zu Faust, der seinen in die Freiheit drängenden Sohn fest zu halten versuchte: „Nur mäßig, mäßig, nicht ins Verwegene! Daß Sturz und Unfall dir nicht begegne, zugrund uns richte der teure Sohn!“ (Und Helena: „O denk o denke, wem du gehörest, wie es uns kränke, wie du zerstörest das schön errungene Mein, Dein und Sein!“)

Der Pater dagegen ist fürsorglich, ohne damit einen selbstbezüglichen Zweck zu verbinden: Er braucht es weder, ein ganz toller Pflegevater zu sein oder ganz tolle Pflegekinder zu haben, noch braucht er es, gebraucht zu werden. (In der Psychotherapie nennt man das:„therapeutische Abstinenz“. Sie ist nicht selbstverständlich sondern muß während der Ausbildung in der Selbsterfahrung, und berufsbegleitend durch Supervision geübt und erhalten werden. – Der Pater Seraphikus hat diese Einstellung offenbar durch seinen „Reflexionssport“ erreicht.)

Wir zeigen unseren Kindern unsere Welt. Und wenn sie unsere Welt furchtbar finden, müssen wir bereit sein, daß sie uns einen Strich durch die Rechnung machen, denn die Zukunft ist ihre Zukunft, nicht mehr die unsere.

 

(2.2) Die Engel

Engel sind gute Geister. In der Vorstellung von Engeln personifizierten unsere Vorfahren wünschenswerte wirkende Kräfte, die sie sich anders nicht erklären konnten. Solche „engelhaften“ Kräfte erleben z.B. Musiker und Lastwagenfahrer: Viele Musiker berichten von Erlebnissen, plötzlich ein Stück so „beflügelt“ gespielt zu haben, wie sie es nie für möglich gehalten hätten. – Und Lastwagenfahrer staunen manchmal darüber, wie sie aus einer schwierigen Rangiersituation, in die sie unversehens gerieten, schon wieder heraus sind, ohne einmal eine Lenkbewegung korrigiert zu haben, und bevor ihnen bewußt wurde, daß sie eigentlich erwartet hätten, soetwas ohne volle Konzentration nicht hinzukriegen.

Es handelt sich um das Erlebnis von Lerneffekten: Ein Teil unseres Gedächtnisses, von den Fachleuten „prozedurales Gedächtnis“ genannt, wird uns nicht bewußt. Wer viel Übung und Erfahrung in einem Handwerk hat, wird daher immer wieder mal von seinem Können überrascht. Wer soetwas öfter erlebt, kann schon auf den Gedanken kommen, daß Wesen dahinterstecken könnten, die uns wohlgesonnen sind.

Die vollendeteren Engel: Zunächst muß die Zuständigkeitsfrage geklärt werden, und nach dem sie Faust an ausgestreckten Armen mit zwei Fingern hochgehoben und mit gerümpfter Nase begutachtend hin und her gewendet haben, wird beschieden: „Nee, sowas machen wir hier nicht, das muß in die Reinigung“.

Es gibt offenbar ein Problem mit den Erdenresten: Faust hat sich im Leben verunreinigt durch das „Heranraffen der Elemente“: Durch die Erfolge getriebenen Wirkens („raffen“) entstand Faust eine Illusion von der eigenen Vorzüglichkeit. Solche Illusionen sind um so stärker, je mehr Erfolg sich jemand verschaffen kann, und je weniger er realisiert, welche Defizite an bewußter Gestaltung seine Lebensführung aufweist – wie sehr er Trieb und Stolz auf den Leim geht [4].

Faust ist ein überdurchschnittlicher Mensch. Das weiß er. Und er findet das ganz toll und hält sich für total wichtig. Eine solche Illusion von der eigenen Bedeutsamkeit ist eine Schwäche, die fatale Folgen haben kann, die aber sehr menschlich und nachvollziehbar ist. Doch Engel, vor allem vollendetere, müssen das natürlich höchst unfein finden, sie ekeln sich wie Polizisten vor einem verwahrlosten Obdachlosen und fassen ihn wahrscheinlich nur mit Handschuhen an.

Je größer der Stolz, je schwerer ist der Abschied davon: die desillusionierende Erkenntnis, wie wenig es auf die eigene Person ankommt. Die Engel erkennen: Bei diesem unreinen Geist ist die Desillusionierung bloß mit Hilfe der „ewigen Liebe“ zu schaffen.

Die Unvollkommenheit Fausts bestand in seinem Bestreben, der Welt seinen Stempel aufzuprägen, ohne zu fragen, ob die das will. Er hatte eine Einstellung, die vor seinem Selbstbild sicher keinen Bestand gehabt hätte, wäre sie ihm bewußt gewesen: „Ich muß meinen Potentialen Sinn geben, egal wie ich dadurch die Chancen der anderen, ihren Potentialen Sinn zu geben, beeinträchtige oder zerstöre. Hauptsache, ich habe es geschafft, meinen Potentialen Sinn zu geben!“

Faust will für die Menschheit etwas ganz Tolles schaffen, statt mit ihr. Wenn selbst die vollendeteren Engel Faust nicht helfen können und ihn nicht an noch vollendetere Geister weiterreichen, sondern im Gegenteil: an die denkbar unvollendetsten (aber auch unverbildetsten), dann heißt das soviel wie: Ego-Illusionen sind nicht therapierbar.

Zwar können wir können durch Solidarität und „Verzeihen“ den Ausstoß aus der Gemeinschaft, die „Verdammung“, unterbinden und die Illusionierten „zurück ins Boot holen“, aber die „Läuterung“, die „Reinigung“ von den Illusionen, müssen sie selbst hinkriegen.

Ego-Illusionen entstehen durch Mangel an guten Beziehungen: Wer in seiner Kindheit gelernt hat, von Beziehungen nicht viel erwarten zu können, erwartet auch als Erwachsener nicht viel davon. Er wird sich in Beziehungen entsprechend vorsichtig verhalten und entsprechend weniger Freude, Anerkennung und Bedeutung erleben. Diesen Mangel wird er kompensieren, in dem er durch sein Schaffen Bedeutung zu erlangen versucht: Faust will mit seinem Landgewinnungsprojekt etwas Bedeutendes für die Menschheit leisten, und er findet sich und die Realisierung seiner Idee so wichtig, daß er glaubt, dafür ruhig Piraterie betreiben und Arbeitssklaven „herbeipressen“ zu dürfen.

Eine solche Einstellung kann nur durch neue Beziehungserfahrungen korrigiert werden: Erst wer beginnt, seine lebensgeschichtlich gewachsenen Vorbehalte gegen die anderen Menschen in Frage zu stellen, und stattdessen riskiert, mit Kooperation und Solidarität „in Vorleistung“ zu gehen, erhält so viel „Gewinn“, daß er das Gefühl eigener Vortrefflichkeit immer weniger braucht. Und erst in dem Maße, wie der „falsche“ Stolz nicht mehr gebraucht wird, ist es möglich, Illusionen über sich selbst zu verlieren.

Wahrscheinlich gibt es keinen einzigen Menschen ganz ohne Ego-Illusion. Aber wir können den Schaden durch unser Streben nach Bedeutung minimieren, indem wir uns mehr für die Kinder engagieren: Je besser unsere Beziehungen zur nachwachsenden Generation sind, desto überzeugender überliefern wir die Menschheitserfahrungen, die sich in den Werten und Kompetenzen unserer Zivilisation verkörpern. Dadurch wird der paradoxe Effekt unwahrscheinlicher, daß wir durch ein unpersönliches Engagement in Form eines stolzen Werkes denjenigen Schaden zufügen, für die wir uns mit unserem Werk engagieren wollen: den Nachgeborenen. – Wir neigen dazu, wie der Pater Ecxtaticus, selbst noch in unserer Selbstlosigkeit zu selbstbezogen zu sein.

Aus diesen Gründen soll Faust der Lehrer der seligen Knaben werden. – So putzmunter wie die Knaben sind, ist das vielleicht schlimmer als Fegefeuer, und Faust wird irgendwann wie mancher Lehrer oder Sozialarbeiter stöhnen: „Ich bin von allem geheilt!“

Weiterlesen: „Wer immer strebend sich bemüht“ – Fausts Erlösung

 

(2.3) Die Seligen Knaben

Die Mär von den „seligen Knaben“ auf die Bühne zu bringen, gehört wohl zu den verrücktesten Einfällen Goethes. Es ist ein vieldeutiges Bild:

(2.3.1) Die seligen Knaben leiden unter einer „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. Darin erinnern sie an Homunkulus und Euphorion. Und wie die beiden, sind auch die Knaben ganz schön krekel und ansprüchlich: Sie wollen nichts Geringeres als Gott schauen. Der frühe Tod hat sie von allem abgeschnitten, mit dem sie eine Chance gehabt hätten, sich selbst einen Weg zu Gott zu bahnen, jetzt lümmeln sie sich hier herum, um per Anhalter dahin zu gelangen.

(2.3.2) Sie packen den verpuppten Faust aus, wahrscheinlich sind sie neugierig, was drin ist. Jedenfalls staunen sie, wie er plötzlich wächst: Sie reißen seine Verpuppung herunter, seine Luxusklamotten und seine Altersmaske, und heraus kommt: ein Jüngling. – So „enthüllt“ fällt von Faust ab, was ihn ans irdische Leben, an Trieb und Stolz, bindet. Mit dieser Distanz, diesem “ungetrübten“ Blick, wird es Faust ermöglicht, sich über seine Fehler und sein Scheitern zu desillusionieren, und daraus eine „echte“ Lehre ziehen, nicht eine „leere“, mit denen er die seligen Knaben höchstens „an der Nase herumziehen“ könnte. – Auch in diesem Sinne (als „Fehler aus denen man klug wird“) wird das Unzulängliche „Ereignis“.

(2.3.3) Stellt man sich die Szene inszeniert vor, sieht man, wie Kinder einen alten Mann jung pflegen. Der alte Goethe dreht die Erziehungsrichtung um und fragt: Wie fördert die Beziehung zu Kindern die persönliche Entwicklung Erwachsener? (In jedem Fall nur dann, wenn wir die Beziehungen zu Kindern nicht für unsere persönliche Entwicklung zu instrumentalisieren versuchen! Nur Leute wie der ungeläuterte Faust oder der Pater Ecstaticus würden meinen, unbedingt mehr Kontakt zu Kindern haben zu müssen, um ganz toll zu werden…)

Die Kinder verändern uns, weil sie unsere Empathie trainieren, uns ständig Anlaß geben, darüber nachzudenken, was berechtigte Ansprüche sind und was nicht, und weil sie unseren Blick schärfen für unsere eigenen kindhaften Züge, denen wir nie ganz entwachsen (z.B. für Trotzreaktionen, die bei Erwachsenen als solche nicht immer gleich auffallen, weil sie nicht so impulsiv und expressiv wie bei Kindern auftreten).

Und Kinder sind Desillusionierer: sie können die Überwertigkeiten nicht nachvollziehen, die wir mit vielen Dingen verbinden („Des Kaisers neue Kleider“).

Nicht zuletzt inspirieren uns die Kinder, die Welt mal wieder so anzuschauen, wie wir sie als Kind gesehen haben: Wir bewunderten die Erwachsenen für ihre Stärke und Tapferkeit aber wunderten uns auch über ihre Beschränktheit. Sie hielten sich für Realisten, doch waren meist bloß völlig eingenommen vom Nützlichen, verkannten das Mögliche und übersahen das Wunderbare. Mit jedem Kind wächst eine neue und einzigartige Sicht auf die Welt heran…

(Goethe stellt die „seligen Knaben“ so krekel und aktiv dar, dass man glauben könnte, sein Sinn für Leben und Wachstum („Überall reget sich Bildung und Streben“) hätte ihm eine Intuition gestattet, die Erkenntnisse moderner Säuglingsforschung vorwegnimmt: Säuglinge haben ein angeborenes „Programm“, Beziehung zu stiften und zu gestalten. Sie sind nicht so hilflos, wie immer angenommen, sondern ziemlich „kompetent“ (Dornes 1993). )

(2.3.4) Die „Ewige Liebe“ ist eine tolle Kraft: Sie ist kraftvoll genug, um an Eigensinnigen wie Faust die hartnäckigsten Verunreinigungen zu beseitigen, und zart genug, um die furchtsamen Seligen Knaben nicht zu verschrecken. Und das Beste ist: Sie entsteht durch Unzulänglichkeit:

Die Knaben sind unzulänglich, weil völlig ahnungslos. Faust ist unzulänglich, weil völlig verblendet. Und da gründen sie jetzt eine Selbsthilfegruppe der Unzulänglichen. Und in der entsteht durch die Erlebnisse von Solidarität und Kooperation Ewige Liebe.

Das ist schon irre: Faust, der große Wissenschaftler, der Topmanager, der innovative Staatsgründer, der Lebenserfahrene: er wird gehegt von den Seligen Knaben und belehrt von Margarete, einer jungen Frau, die die große Welt bestenfalls vom Fernsehen kennt (sie hat vom Himmel aus zugeschaut). Bezüglich dessen, was für Fausts Weiterentwicklung jetzt notwendig ist, sind Kinder und junge Leute geeigneter als Tüchtige und Lebenserfahrene – ja, selbst noch geeigneter als Engel!

(2.3.5) Die Knaben finden es toll, einfach bloß da zu sein. Sie haben ein Ziel, aber gehen es ganz gelassen an („cool“), ohne Ungeduld. Sie müssen weder sich noch anderen etwas beweisen. Sie sind zuversichtlich, ihr Ziel erreichen zu können; sie müssen nicht getrieben tätig sein und diese Tätigkeit ständig im Hinblick darauf auswerten, ob sie das erreichen, von dem sie glauben, daß sie nur dann ganz toll sind, wenn sie es erreicht haben. – Sie verbinden Genuß des Augenblicks mit Streben zur Höherentwicklung, sie sind das Gegenkonzept zu Fausts Dichotomie von Streben und Genuß und vor allem zu Mephisto, der es blöd findet, daß es überhaupt etwas gibt und nicht nichts.

(2.3.6) Die Knaben sind aber auch ein Sinnbild dafür, wie sehr Kinder die Beziehung zu Erwachsenen wollen, und welchen Sinn uns Erwachsenen das gibt. Etwa so: Faust brütet im Büro über seine Landgewinnungspläne, und dann kommen die Bengels und zerren ihn raus zum Fußballspiel. – Darin liegt keine Ansprüchlichkeit sondern eine große Wertschätzung für die Erwachsenen: Wir sollten doch froh sein, wenn die lebendige Zukunft mit uns was anfangen will! Statt daß wir uns an unseren Schreibtischen hinter den Stapeln unserer Pläne  verschanzen, von denen wir gar nicht wissen, ob unsere Kinder sie einmal toll oder bescheuert finden werden. – Aber wahrscheinlich werden wir den Wert des Kontaktes zu unseren Kindern erst in dem Maße erkennen, wie die jungen Leute im Internet unter sich oder mit PC-Spielen für sich bleiben und den Kontakt zu uns Erwachsenen wegen der Unbeholfenheit unseres Interesses an ihnen nur noch als langweilig erleben.

(2.3.7) Es soll vielleicht nicht alles erdeutet werden. Der Dichter hat uns mit den „seligen Knaben“ einfach aufgegeben, über das Leben nachzudenken angesichts eines Kindes, das bei der Geburt stirbt: eine Meditation über Leben und Dasein, ausgehend von unserer Berührtheit bei der Vorstellung einer entgangenen Existenz, einer vorenthaltenen Chance, die Kräfte des Lebens zu erleben, den eigenen Potentialen Sinn zu geben, und die Fragen des Daseins zu stellen. („Den Tod, den ganzen Tod noch vor dem Leben so sanft zu enthalten und nicht bös zu sein, ist unbeschreiblich“ (Rilke, 4. Duineser Elegie).) – Auf diese Weise sind die seligen Knaben „für die Engel“ (für unsere geistige Kultur) „zum Gewinn“.

 

(2.4) Mater Gloriosa

Fast alle Menschen sind mit der instinktiven Erwartung ausgestattet, verläßlich Schutz, Versorgung und Trost finden zu können bei Mama.

Die christliche, von Männern dominierte Religion, hatte gegen Mama keine Chance: Subversiv haben sich die antiken Muttergottheiten mit gefälschtem Marienausweis als illegale Einwanderer in die monotheistische Männerwelt geschummelt und dort weit mehr Bedeutung bekommen, als den Kirchenvätern lieb war.

„Maria breit den Mantel aus, mach Schutz und Schirm für uns daraus, laß uns darunter sicher stehen, bis alle Stürm vorüber gehen“ heißt es in einem Kirchenlied. – Auf ähnliche Weise erwarten schon die Jungen der niedrigsten Säugetiere, daß auf ihr Piepsen Mama herbei eilt und ihr Fell über sie ausbreitet. Kein Wunder, daß gegen einen stammesgeschichtlich so archaischen Instinkt die frommen Väter machtlos waren.

Die Mater Gloriosa ist in der Volksfrömmigkeit der Inbegriff der mütterlichen Liebe: Sie heilt Krankheiten, hilft gegen Naturkatastrophen und mildert die Strenge ihres richtenden Sohnes: Es gibt Darstellungen, wie sie beim jüngsten Gericht heimlich auf die Waagschale drückt, damit der Sünder nicht in die Hölle muß.

„Klagen und Tränen stumpfen ihre Zärtlichkeit nicht ab, denn sie leidet ja mit uns. Sie kann unsere Flecken tilgen und unser Herz rein machen, damit wir ihre Barmherzigkeit und ihre Liebe empfangen. Unsere Jungfrau, unsere Mutter, die nichts von unseren Sünden wissen will, die die Schuld unserer Sünden auf sich nimmt, die uns auf ihren Armen tragen möchte, damit das Leben uns kein Leid antut – sie ist hier unter uns und lindert unsere Müdigkeit und heilt die Krankheiten unserer Seele und unseres von Dornen starrenden, wunden und flehenden Leibes“ (aus einer mexikanischen Erzählung von 1953. [4a])

Die Verehrung von Jungfräulichkeit wirkt für uns heute abstrus. Aber Jungfräulichkeit ist eine Chiffre für Distanz: Maria hat dadurch, daß sie nicht alles „Natürliche“ mitmacht, Distanz zu sich und anderen, sie ist nicht verstrickt in Beziehungsgeschichten, und sie ist nicht verstrickt in den natürlichen Egozentrismus. Sinn überwiegt Genuß. So kann sie unparteiisch sein und für andere da: die Mutter aller.

 

(2.5) Dr. Marianus I

Der Dr. Marianus ist die Verkörperung der Sublimationsfähigkeit: Er widmet sein Leben einer in jeder Beziehung unerreichbaren Frau. Er verkörpert eine Botschaft, die wir heute nicht gerne hören: Verzicht lohnt sich, man muß nur wissen, wie. – Für Kaufleute ist das eine Horrorbotschaft und sie tun alles dafür, sie nicht unters Volk kommen zu lassen, deshalb hat das Wort „Verzicht“ in unserer heutigen, durch Kaufleute geprägten Kultur, einen so unguten Klang, es klingt nach Spaßbremse, Zugeknöpftheit und Genußunfähigkeit.

Die Worte des Doktors an die Muttergottes sind so umschreibbar: „Zeige mir, wie man das macht, wahrhaft zu lieben. Und solange wir´s nicht begriffen haben, billige bitte, was wir Kerls an Liebe leisten können. Schau doch, wie sehr wir eigentlich für die Liebe gemacht sind: wie stark sie uns anstachelt und befriedet.“

Rilke spricht das so aus: Die Frauen „haben Jahrhunderte lang die ganze Liebe geleistet, sie haben immer den vollen Dialog gespielt, beide Teile. Denn der Mann hat nur nachgesprochen und schlecht. Und hat ihnen das Erlernen schwer gemacht mit seiner Zerstreutheit, mit seiner Nachlässigkeit, mit seiner Eifersucht, die auch eine Art Nachlässigkeit war. Und sie haben trotzdem ausgeharrt Tag und Nacht und haben zugenommen an Liebe und Elend. … Aber nun, da so vieles anders wird, ist es nicht an uns, uns zu verändern? Könnten wir nicht versuchen, uns ein wenig zu entwickeln, und unseren Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns nehmen nach und nach? Man hat uns alle ihre Mühsal erspart… Wir sind verdorben vom leichten Genuß wie alle Dilettanten und stehen im Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir ganz von vorne begännen die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist? Wie, wenn wir hingingen und Anfänger würden, nun, da sich vieles verändert?“ (Rilke 1910).

 

(2.6) Die Gute Seele

Wer ist die gute Seele, die sich einmal vergessen hat? Faust oder Margarete? Wie kommen die Interpreten darauf, es sei Margarete?

(2.6.1) Wie passt das denn: sie ermordet ihr Baby und ahnt nicht, daß das falsch ist? Selbst wenn gemeint wäre, daß sie im Affekt nicht wußte, was sie tat, klänge es komisch, hier das Wort „ahnte“ zu verwenden. Die Zuschauer wären irritiert und müssten nachdenken, wie das passt: daß eine Mutter ihr Baby ermordet und keine Ahnung hat, daß das nicht gut ist. Bis die Zuschauer sich das zusammengereimt haben, haben sie die nächsten Verse verpasst. – Auf Faust würde das viel besser passen: Bei der Wette mit dem Teufel befand er sich in einer schweren depressiven Episode, er hat sich vergessen (und wäre daran gestorben, hätten die Osterglocken ihn nicht an die Frühlingsgefühle der Jugend erinnert). Und er konnte nur diese eine Möglichkeit der Entscheidung sehen und hatte keine Ahnung, wieviele bessere Alternativen es gegeben hätte.

(2.6.2) Und außerdem: Im Epilog geht’s doch um Faust! Was soll jetzt auf einmal der Sündenablaß für Margarete? Ihre Sünde ist ein halbes Jahrhundert her! – „Ja, das heißt nix, im Himmel gelten andere Zeitregeln, das kann man gar nicht miteinander vergleichen!“ – Schön. Das wäre eine Zusatzannahme, die eine weitere nach sich zöge: Margarete stellt fest, daß Faust vom „neuen Tag“ geblendet ist. Ihr scheint dieser Tag nicht neu. Das müßte dann auch erklärt werden.

(2.6.3) Und was wär das für ein wenig vertrauenerweckendes Verhalten: Kaum haben die andern Büßerinnen Margarete Maria vorgestellt und für sie um Verzeihung gebeten, schmiegt sich die bis dato ganz unbekannte Sünderin an die Cheffin und bitte um Verzeihung für den Freund, der noch viel schlimmere Dinge auf dem Kerbholz hat? – Das Anschmiegen wäre viel glaubwürdiger, wenn zwischen Margarete und der Mater Gloriosa schon länger ein ungetrübtes Verhältnis wäre, nicht erst seit einem Augenblick.

(2.6.4) Und wenn Gott Faust für das Exemplar eines guten Menschen hält (Prolog), dann darf er hier von den Büßerinnen als „gute Seele“ bezeichnet werden, das ergäbe sich allein aus der gebotenen Solidarität unter Büßern – abgesehen davon könnten die Büßerinnen die Worte „dieser guten Seele“ auch ironisch betonen.

(2.6.5) Daß für Margarete gebeten würde, hätte szenischen Sinn, wenn die Büßerinnen die Muttergottes hier gerade erst getroffen hätten, statt daß sie schon die ganze Zeit zusammen mit ihr hier rumschweben. Etwa so: Margarete kommt mit ihren Schuldgefühlen nicht klar, wendet sich an Profi-Büßerinnen, die wissen sich auch keinen Rat mehr und sagen schließlich: „Du mußt unbedingt Maria treffen, die kann dir weiterhelfen. Die schwebt da gerade im Gebirge rum, um so´nen schmierigen Kerl zu erlösen, der sich ganz selbstgefällig was drauf einbildet, nicht selbstgefällig zu sein!“ – Aber was für ein Zufall, wenn die Gelegenheit für Margarete, die Muttergottes zu treffen mit Fausts Rettung zusammenfiele!

(2.6.6) Daß nur drei der vier Büßerinnen ihre Bitte vorbringen, muß nicht heißen, daß sie für die vierte, Margarete, bitten, sondern ergibt sich aus dem Zusammenhang: Welchen Aussagewert hätte es, wenn Margarete sich für Faust einsetzte? Sie ist befangen gegenüber ihrem ehemaligen Geliebten! Da denkt doch jeder: „Ist doch klar, die will ihn wiederhaben, die stecken doch buchstäblich unter einer Decke!“ – Die Alt-Büßerinnen haben dagegen kein persönliches Interesse an dem Kerl. Der kann ihnen völlig egal sein. Dennoch haben sie ein ganzes Wochenende Stinkrosen gebastelt und ihre Begnadigungsperformance ausgearbeitet und sind jetzt stundenlang im kalten Gebirge rumgeschwebt, um die Teufel zu beschmeißen und ihr Gnadengesuch loszuwerden. Die hätten es sich vor dem Fernsehschirm des Himmels wirklich bequemer machen und all die Fortsetzungsserien der menschlichen Kommödie weiterschauen können! Allein aus Solidarität haben sie sich für den armen Sünder engagiert. Ihre Bitte hat einen ganz anderen Aussagewert als die Margaretes!

(2.6.7) Hinzu kommt: Die biblischen Büßerinnen sind Meisterinnen im Büßen, Margarete ist Azubine. Sie sind Prommi-Büßerinnen, Margarete eine no-name-Büßerin. Würde Margarete mitbitten, könnte die Muttergottes denken: „Was will die überhaupt, die weiß doch noch gar nicht, was Buße wirklich ist, wie will die einschätzen, was es bedeutet, so´n Kerl wie Faust, mit so ´ner riesen Bußlast ins Boot zu holen! Noch von nix ne Ahnung haben und gleich glauben, mitbitten zu können!“ – Die drei Büßerinnen werden auch szenisch so deutlich als Prommi-Büßerinnen exponiert, sie heben sich so stark von Margarete ab, daß die Frage gar nicht entsteht: „Warum bitten bloß drei von vieren für Faust?“

(2.6.8) Es ist auch nicht einsichtig, weshalb die bis jetzt auf Margaretes Begnadigung gewartet haben sollten – zumal Margarete ja – im Gegensatz zu Faust – bereits Verantwortung übernommen hat und längst als „Gerettet“ klassifiziert worden ist. – Oder soll das heißen: Wen Gott gerettet hat, dem hat die Muttergottes noch lange nicht verziehen? Was für eine nachtragende Tante wäre sie dann!

(2.6.9) Schließlich: was soll dagegen sprechen, daß die Büßerinnen Faust meinen? Die sind so nah an ihm dran, daß sie den armen Sünder am Ohr unter die Augen der Gottesmutter ziehen können. Zudem soll die Gottesmutter ihm nur ja nicht mehr Verzeihung gewähren, als angemessen. – „Angemessen“: Das Wort sticht heraus wegen seines aggressiven Gehaltes: Ein Maß begrenzt. Würde sich das auf Margarete beziehen, klänge es nach schwelendem Zickenkrieg: „Die darf dann aber auch nicht mehr kriegen als wir!“

Die Interpretation, daß die Büßerinnen sich für Margarete einsetzen, ist schon immer über das „angemessen“ gestolpert: Zu soviel Mitgefühl, wie Margarete auslöst, passt solche Knauserigkeit nicht. Das ließ die Philologen einen Schreibfehler vermuten: daß es „un-“ statt „an-gemessen“ heißen sollte. Eine weitere Zusatzannahme. Und eine blöde: Es entgeht die Pointe, daß im Himmel zwar Gnade vor Recht ergeht, aber nicht grenzenlos! Die Löwen sind zahm aber nicht zahnlos. – Die haben professionelle Sozialarbeiterinnen dort, keine unprofessionellen!

(2.6.10) Und falls Goethe wirklich Margarete gemeint haben sollte, ist er selbst schuld: warum hat er das nicht hingeschrieben? Das wäre einfach eine Panne, einen simplen Sachverhalt so unzureichend auszudrücken, daß Generationen von Gelehrten scharfsinnig spekulieren müssen und keine eindeutige Lösung finden [5].

 

(2.7) Dr. Marianus II

Auf dem Hintergrund der katastrophalen Kollektivismen des 20. Jahrhunderts mutet das Schlußgebet des Dr. Marianus mit seiner Forderung nach Unterordnung, Selbstanklage („Reue“) und Dienstfertigkeit gruselig an. Doch im Kontext des vorhergehenden Geschehens der tätigen Liebe gesehen und in entreligiösifizierter Sprache ausgedrückt, sagt der Doktor etwa:

„Zusammenhalt rettet. Wer du auch bist: einer Gemeinschaft, in der wahrer Zusammenhalt herrscht, bist du nicht egal [„Retterblick“]. Das Leben auf die Gemeinschaft ausrichten [zum Retterblick „aufblicken“] bedeutet: sich für den Zusammenhalt zu engagieren [Dienst erbieten] und die Gemeinschaft als etwas anzuerkennen, das dir als Einzelnem überlegen ist und dem gegenüber eine gewisse Unterordnungsbereitschaft sinnvoll wäre [„aufblicken“]. Erforderlich für den Erfolg des Engagements ist Selbstkritik mit Veränderungsbereitschaft [Reue] und Zurückhaltung [„Zartheit“, die rücksichtsvolle Bereitschaft, eigene Ansprüche herunter zu schrauben]. In der idealen Gemeinschaft stellen die Einzelnen Sinn über Trieb (Jungfräulichkeit), sind fürsorglich für einander engagiert (Mütterlichkeit), anpassungsbereit (der Königin untertänig) und erleben den Zusammenhalt als einen der höchsten Werte (Göttin)“.

Wir sind von Natur aus gut (der „gute Mensch“, die „gute Seele“), aber das reicht nicht, um die Potentiale, die im Zusammenhalt schlummern, zu entfalten. Dazu braucht es eines „besseren Sinns“, eines Sinns, der durch Kultivierung über seine Natürlichkeit hinaus wächst. – Gott hat Unrecht und der Teufel irrt selbst da, wo er Recht hat: Der gute Mensch glaubt bloß, sich des rechten Weges dunkel bewußt zu sein, und gerät dadurch auf die schlimmsten Abwege. Der Gute Wille kann die bösartigsten Formen annehmen: selbst Terroristen folgen nur ihren Gewissensentscheidungen. Augustinus hat Recht: Wir können allein, aus eigener Kraft, ohne „Gott“, den rechten Weg nicht finden. Wir brauchen die rechte Ausrichtung auf die Gemeinschaft („Gott“): wir brauchen einander zur „Kurskorrektur“ [8].

Im Gebet des Kollegen ist Faust am Ziel: das Gute gesteht ein, daß es nicht hinreicht, und disqualifiziert das Bessere nicht länger als Trug und Wahn.

 

(2.8) Chorus Mysticus

Der Chorus Mysticus stimmt einen Lobgesang an auf das, was er hier beobachtet hat. Seine Zeilen sind nicht Kommentar sondern Ausdruck: Ausdruck des Staunens und der Freude:

Ewig-Weibliches und Ewig-Männliches: Ewig weiblich und ewig männlich sind allein die Probleme, die aus den unterschiedlichen körperlichen Chancen entstehen. – Wie wir es auch immer sonst noch verstehen wollen: wir können es auf eine Weise verstehen, die Frauen und Männer nicht auf Rollen festlegt – denn Rollenfestlegungen wären selbst in dem Fall, daß es tatsächlich biologisch konstituierte Wesensunterschiede zwischen den Geschlechtern geben sollte, ein „naturalistischer Fehlschluß“ [9].

Es lassen sich immer entgegensetzbare Einstellungen finden, egal ob und wie wir sie symbolisch als „Männlich“ und „Weiblich“ kategorisieren : Das Forsche und das Fürsorgliche; das Aktive und das Rezeptive; das Technische und das Soziale; das Zielstrebige und das Umsichtige; das Erfolgsorientierte und das Verständigungsorientierte; das: „Man muß die Welt doch voran bringen!“ und das: „Es müssen doch alle satt werden!“

Ob eine Einstellung besser ist als die andere, sagt der Dichter nicht. Nur daß die eine uns hinan zieht, die andere nach vorne. In einem mehrdimensionalen Raum ist die eine nichts ohne die andere. Das auszusprechen ist Blasphemie in einer Kultur, die geprägt ist von einem „selektiven Muster von Rationalisierung“ (Habermas), das individuell zurechenbare technische Potenz infantil glorifiziert: „Guck mal Mammi, das hab ich ganz allein gemacht!“

Das „ewig Weibliche“ steht für die Einstellung, die Faust mangelt: für soziale Intelligenz und kommunikative Rationalität – unabhängig davon, wie diese Vermögen in einer Kultur mit dem Männlichen oder Weiblichen assoziiert sind.

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“: Wir brauchen nicht mehr zu wissen, als zum Überleben der Gattung nötig. Deshalb erkennen wir auch nicht mehr von der Wirklichkeit, als wir an Wirkung brauchen. Das, was darüber hinausgeht, bleibt uns verborgen. Bestenfalls lassen sich gigantische Maschinen bauen, wie das CERN, die Phänomene erzeugen, aus denen wir zu erschließen versuchen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber: „was sie uns nicht offenbaren mag, das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben!“ Egal wie weit wir im Zerlegen kommen: Struktur und Dynamik können wir immer nur fallibel und modellhaft, also „vergänglich“ und „unzulänglich“ erschließen. (Aber die Art, wie wir es erschließen, könnten wir ins Museum stellen als „ready made“: zur poetischen, „anmutigen“ Anschauung der Findigkeit des Menschen. Auch so würde das Vergänglich-Unzulängliche „Ereignis“.)

An anderer Stelle schreibt Goethe: „Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur … in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen es dennoch zu begreifen“  [10].

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ können wir daher als eine poetische Aufforderung verstehen, über die erahnbaren Wunder des Daseins, die sich im Konkreten zu offenbaren scheinen, zu staunen. (Die Gefahr ist allerdings: dieses Staunen religiös zu überhöhen: Aus dem Staunen mit Ideen und Begriffen zurückzukehren und sie für den objektiven Gehalt des Staunens zu verkaufen. Das führt bestenfalls zu neuen Mythen, schlimmstenfalls zu neuen Dogmen.)

Am Konkreten zeichnen sich die Wunder des Daseins gleichnishaft ab. – Auf welches Konkrete bezieht sich der Chor hier? Auf Fausts Leben und auf seine Erlösung. Sein Leben offenbart etwas von der „Güte“ des Menschen: Faust wollte beweisen, wie primitiv der Teufel ist, und er wollte Margarete retten und den Menschen die Freiheit bringen. Und selbst seine Fehler sind Erkenntnisgewinn, sie offenbaren etwas von den wirkenden Kräften, mit denen wir Menschen es im Leben zu tun kriegen. – In der Erlösung Fausts zeigt sich die Macht des Menschen im Erkennen und Überwinden. – So offenbart etwas Vergänglich-Menschliches etwas vom Ewig-Männlich- und -Weiblichen.

„Das Unzulängliche, hier wird es Ereignis“:  Anderswo ist das Unzulängliche kein Ereignis, hier schon. Was normalerweise nicht der Aufmerksamkeit wert ist: hier zieht es sie auf sich. – Wodurch? – Hier wird verziehen. Hier wird auf die Stärken geschaut. Hier werden Unvollkommenheiten eingestanden. Hier werden Fehler nicht bewertet sondern erforscht. Hier waltet Gnade. Hier übt man Abstinenzen: Der Pater Seraphikus hilft völlig selbstlos, der Pater Ecxtaticus will niemand bestimmtes sein und ist bereit, sich alle Identitäten zerschmettern zu lassen, und Margarete verzichtet darauf, es Faust heimzuzahlen (z.B. in Form eines Umgangsrechtkriegs um die seligen Knaben: „Na warte du Arsch, du sollst mich kennenlernen, dir werd ich es zeigen! Du wirst die Kinder nie wieder sehen!“).

Hier muß nicht zwischen „Zulänglichem“ und „Unzulänglichem“ unterschieden werden, weil es hier – im Gegensatz zum Handlungsdruck in Konkurrenzgesellschaften – völlig unsinnig wäre, Vorteile zu ergattern und „heranzuraffen“. Hier hat man sich von diesem Handlungsdruck so weit wie es geht emanzipiert. Hier gibt es kein „gut“ und „schlecht“. Darin besteht der „bessere Sinn“. Dadurch gerät das Unzulängliche, das Normale, Wahrscheinliche und Erwartbare, das im Alltag keiner besonderen Aufmerksamkeit wert ist, in ein anderes Licht, es wird nicht mehr funktional bewertet, sondern in seinem Eigenwert betrachtet, ähnlich wie John Cage, der die Emanzipation des Geräuschs in die Musik einführte, auf die Frage eines Reporters, ob das Quietschen der Tür auch Kunst sei, antwortete: „If you celebrate it, it´s art“; ähnlich wie von Zen-Meistern erzählt wird, daß Alltags-Ereignisse sie zur Erleuchtung brachten: das Klackern eines beim Fegen aufgewirbelten Steinchens.

„Das Unbeschreibliche, hier ist es getan“. – Das Vergängliche und Unzulängliche ist das Beschreibliche, in dem das Unbeschreibliche gleichnishaft präsent ist. Hier wird etwas von diesem Unbeschreiblichen getan, konkretisiert. Das gelingt offenbar sehr selten, sonst würde der Chor hier nicht so staunen. (Vielleicht standen die Choretiden, bevor sie in Jubel ausbrachen, mit offenen Mündern da, wie die Fans einer Regionalmannschaft, die sich kurz vor Schluß mit einem entscheidenden Tor in die zweite Liga spielt.)

In diesem Konkretisierten, in der tätigen Liebe zwischen den Menschen, kommt das Göttlich-Unbeschreibliche offenbar besonders erstaunlich zum Ausdruck: in der Bereitschaft, sich über sich selbst zu desillusionieren – in der Bereitschaft, aus der Schuld sich eine Pflicht zu machen (Buße) – im Verzeihen – in der Art und Weise wie man sich hier gegenseitig uneigennützig zur Hand geht (Kooperation) und schließlich in der Solidarität: im Zusammenhalten gegen ein gnadenloses Schicksal, das jedem Paar Füße anders schiefen Boden unterschiebt.

 

Anmerkungen

„[1]

„Die Geschichte aller Religionen und Philosophien lehrt uns, daß diese große, uns Menschen unentbehrliche Wahrheit von verschiedenen Nationen in verschiedenen Zeiten auf mancherlei Weise, ja in seltsamen Fabeln und Bildern der Beschränktheit gemäß überliefert worden“ (Goethe nach Eibl 2000, S. 332).

 [2]

Viel Spaß im Leben zu haben ist schön und gut. Aber zu wissen, daß man etwas beigetragen hat zur Bewahrung oder Entwicklung der Zivilisation, kann ne´ Menge Spaß aufwiegen, so sehr, daß sich ein mühseliges und schmerzensreiches Leben unter Umständen besser anfühlt, als ein Spaßiges. Doch glücklicherweise schließen sich Spaß und Sinn nur selten gegenseitig aus. – Ein Gedankenexperiment zum Gewicht von Spaß und Sinn: Es müßte komisch sein, beim Sterben zu erkennen: „Mein Leben hatte nur für mich Bedeutung. Ich habe nichts bewahrt und nichts entwickelt und es wird keiner groß an mich denken. Keiner wird das Gefühl haben, daß mein Dasein sein Leben ein wenig bereichert hat, und er etwas von dieser Bereicherung, so gering sie auch sei, weiter geben könnte.“

 [3]

Das ist bei religiösen Perfektionisten offenbar kein unbekanntes Phänomen: „Was hast du gesagt? Es gilt dir nichts, deine Seele für die endlose Ewigkeit zu verderben, nur um in diesem flüchtigen Leben einem anderen zu helfen!“ (N. Leskow). – Für Thomas von Aquin kam es auf die Liebe an, nicht auf Askese, Askese war nur eine mögliche Methode der Liebe. – Und Luther sah in der Askese die Gefahr, den falschen Schein zu erwecken, „als ob die eigentliche Sünde vom Fleische, vom leiblichen Sein herkomme – statt aus dem ungläubigen Herzen“; und daß „das augenfällige oder gar sensationelle asketische Leben nur allzuleicht zum Ausdruck geistlicher Eitelkeit und Selbstgefälligkeit“ werden könne. (Refereriert aus dem Artikel „Askese“ in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, S. 646.). – Weitere Askesekritik findet man bei M. Buber (Vorwort zu den „Erzählungen der Chassidim“). – Weitere „Eremitenpoesie“ bei Hermann Hesse („Der Beichtvater“ und „Indischer Lebenslauf“ aus dem „Glasperlenspiel“); und bei Thomas Mann („Die vertauschten Köpfe“).

[4]

Ein weiser Rabbi hatte sich bei der Einschätzung des Zeitpunkts der Erlösung der Menschheit vertan und rechtfertigte sich so: „Die gemeinen Leute haben die vollkommene Umkehr getan oder können sie tun. Von ihrer Seite ist kein Hindernis. Das Hemmende sind die gehobenen Menschen. Sie vermögen nicht zur Demut und so auch nicht zur Umkehr zu gelangen“. Buber, Martin, „Hindernis“, aus: Die Erzählungen der Chassidim (1949), Neuauflage, Zürich 2014, S.400,

[4a] Juan Rulfo, Talpa. Aus: Der Llano in Flammen (Mexico 1953) Verlag Volk und Welt Berlin 1974 S. 65. – Rulfo ist eine Ausnahmeerscheinung in der Literatur: Er hat mit einem schmalen Werk von knapp 300 Seiten maßgeblichen Einfluß auf die gesamte Lateinamerikanische Literatur ausgeübt. (Quelle: Wikipedia, Rulfo)

[5]

Mit Annahmen und Zusatzannahmen kann fast alles begründet werden, es kommt dadurch ein Moment der Willkür in die Interpretation. Warum ist Verzeihen noch nötig, wenn Margarete schon gerettet ist? Antwort: Das „Gerettet“ bezieht sich nur auf den Kindsmord. Der voreheliche Beischlaf ist noch ein offener Posten auf dem Schuldkonto. – Oder: Da Margarete kein Verzeihen mehr braucht, weil sie gerettet ist, könnte es ja sein, daß die Büßerinnen Maria darum bitten, daß sie Margarete ihre Fähigkeit zu Verzeihen ausleiht, um Faust zu verzeihen. – (Die Beispiele sind aus: Arens 1989 und Trunz 1949.)

Oder, bezüglich der Wette: Eibl (1999) meint, Faust wolle den Teufel mit der Wette überlisten, denn ein Augenblick, der so vollendet sei, daß er den Wunsch nach Ewigkeit erwecke, sei Menschen gar nicht möglich, der Teufel habe also von vornherein verloren. Eibl bezieht sich dabei auf eine andere Stelle im Werk Goethes, wo Goethe „Augenblick“ als punktuelles Erlebnis der Vollkommenheit versteht. Auch hier stellt sich die grundsätzliche Frage, ob man nicht durch Bezüge auf andere Schriften eines Dichters alles Mögliche in eine Stelle hineininterpretieren kann. Und auch hier geht das nicht ohne Zusatzannahmen: „Wie ich beharre bin ich Knecht“, sagt Faust. Eibl müßte behaupten, daß Faust mit dem Wissen um die Unmöglichkeit eines vollendeten Augenblicks Mephisto vorsätzlich in die Irre führt, aber diese Absicht verschleiert in dem er so tut, es gehe ihm darum, nicht bestechlich durch Bequemlichkeit zu sein…

All das sind Beispiele für die „Unzulänglichkeit“ aller Wissenschaften: Jede Erklärung schafft an einer anderen Stelle „Anomalien“ (Kuhn 1973). Die Erklärungskraft der Erklärung fungiert dann als Erlaubnis, die Anomalien ignorieren zu dürfen.

Die Naturwissenschaften haben es besser: Bei ihnen findet die Denkwillkür ihre Grenze daran, ob Erklärungen dazu führen, unsere Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. (Zu den Begriffen Denkwillkür, Denkwiderstand, Denkstil: Fleck 1980). – In der Philologie würde es darum gehen, zusätzliche „Denkwiderstände“ zu beschaffen. Z.B. könnte man Goethe ja zutrauen, „rezeptionspraktisch“ gedacht und das „Drehbuch“ so geschrieben zu haben, daß die Zuschauenden auch ohne mit Professorenwissen um vier Ecken herum zu denken, verstehen können, worum es geht. Dann kämen nur die naheliegenderen Deutungsmöglichkeiten in Frage. – Ein anderer „Denkwiderstand“ könnte, wie oben dargestellt, der szenische Sinn sein.

Es gibt in der Interpretationsliteratur Passagen, die – ähnlich wie in der psychoanalytischen Literatur – so lächerlich abstrus wirken, daß es unfair wäre, sie außerhalb ihres Zusammenhangs zu zitieren. Im Kontext eines Denkstils haben sie jedoch Folgerichtigkeit und Berechtigung. (Beispiele bei Trunz.)

Ein anderes Problem der Gelehrtheit ist die validierungsignorante Konkretisierungsfaulheit. Ein Beispiel bei Eibl (2000, S. 57): „Wie können Ich und Gesellschaft miteinander versöhnt werden? Sie können es nicht. Das durch Exklusion begründete Subjekt muss sich selbst ungemein wichtig nehmen und hat als Entsprechung nicht die Gesellschaft sondern die Welt als das Ganze (da es Gesellschaft nicht als Ganzes erleben kann).“ – Mit „Exklusion“ meint Eibl: Das Individuum gehört verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen zu und in jedem muß es sich nach anderen Normen richten: Der fürsorgliche Familienvater muß als Manager Familienväter entlassen und andere Familien dadurch in Armut stürzen. – Was ist an dem Problem wirklich neu? Hatte ein antiker Kaufmann, der Mitarbeiter entließ, das nicht? – Und was soll das heißen: das Subjekt hat eine „Entsprechung“? Und wie kann man Gesellschaft oder Welt als Entsprechung haben? Und was soll das heißen: etwas als Ganzes empfinden? Und Gesellschaft so nicht mehr empfinden können, nur noch die Welt? – Wenn er weiß, wovon er spricht, warum benennt er es nicht kurz und bündig? Ich fürchte, er glaubt nur, daß er weiß, wovon er spricht, und er kratzt diesen Glauben lieber gar nicht erst an – denn konkreter zu benennen, was er meint, würde bedeuten: schauen, ob wirklich drin ist, was es verspricht… (Ein Beispiel für validierende Konkretisierung ist mein Aufsatz: „Verwaltung des Wohls“, in dem ich J.Habermas These von der Kolonialisierung der Lebenswelt untersuche.) – Ich müßte eigentlich einen Aufsatz schreiben: „Wittgenstein als Erzieher“, aber mir fehlt die Zeit.

[8]

Wir brauchen keinen Glauben aber wir brauchen das Überindividuelle, um Individuum sein zu können. Allein wären wir nicht einmal zur Sprache fähig. Wittgenstein verneinte die Möglichkeit einer „privaten“ Sprache, einer Sprache, die man alleine erfindet und nur für sich selbst haben kann. Denn er fragte sich, wie man sich alleine daran erinnern könne, was man einmal mit einem Wort gemeint habe – man könne ja nie wissen, ob man sich richtig erinnere, denn eine Erinnerung könne eine andere nicht korrigieren: „Es wäre, als kaufte man sich zwei Exemplare einer Zeitung, um zu kontrollieren, ob sie auch die Wahrheit spricht.“

Diese Intuition für Gemeinschaftlichkeit hat sich durch die Kollektivismen des letzten Jahrhunderts nicht weniger diskreditiert, als der individualistische Glaube des Faust-Prolog-Gottes an den Orientierungssinn des von ihm erschaffenen „guten Menschen“. – Kennzeichen von Kollektivismen ist ein demagogischer Taschenspielertrick: die Erfindung eines Feindes.

Ein Zusammenhalt, der nur mit einem Feind, einer äußeren Bedrohung funktioniert, ist bereits korrumpiert: Er braucht Denkverbote: Ein Saboteur ist schon jeder, der an der herrschenden Auffassung von der Bedrohlichkeit der Bedrohung zweifelt. – Ein weiteres Indiz für archaische, irrationale Gemeinschaftsbildung ist, den Mitgliedern kein eigenes Leben zuzugestehen: die Hingabe an „den Führer“ muß bedingungslos sein. Wer abweicht, riskiert Ächtung. – Frag- und bedingungsloser Zusammenhalt gegen einen Feind, der Erbarmungslosigkeit verdient, ermöglicht institutionalisiertes Mobbing. Auschwitz zeigt, in welchen unfaßbaren Horror institutionalisiertes Mobbing kulminieren kann.

Möglicherweise hat es noch nie ein wirklich ausgewogenes Verhältnis von Individuum und Kollektiv gegeben. Immer scheint der Lauf der Dinge mal der einen, mal der anderen Seite zu viel Gewicht zu verleihen. Es wird eine Entwicklungsaufgabe der Zivilisation sein, eine ausgewogene Dialektik von Einzelnen und Gemeinschaft zu schaffen. – Allerdings: Gesellschaft ist nicht planbar. Jeder Plan beruht auf der Beschränktheit der Planer und wird zum Prokrustesbett, das alles abhackt, was in den Plan nicht paßt. Ein Plan enthält die Weisheit einiger Weniger, die Geschichte braucht die Weisheit aller. Daher kann ohne Demokratie nichts gut gehen. Das verkennt Faust mit seiner Vorstellung von „ein Geist für tausend Hände“.

[9]

„Naturalistischer Fehlschluß“: Von Hume so genannte Einsicht, daß aus dem Sein (den Naturgegebenheiten) kein Sollen (keine Moral) ableitbar ist. – Selbst wenn herauskäme, daß männliche Hirne besser zum Jagen, weibliche besser zur Kinderhege geeignet sind, heißt das gar nichts. Die Blagen müssen nicht immer von Mama verwöhnt werden und es muß auch nicht jeden Tag Braten geben. Unsere natürliche Ausstattung verpflichtet uns zu nix. – Abgesehen davon werden wir wahrscheinlich niemals rausfinden, welches Hirn für was besser geeignet ist, dazu ist das Gehirn zu kompliziert. Außerdem gelten alle Unterschiede wahrscheinlich nur statistisch: Der Abstand zwischen Männlich und Weiblich wird kaum irgendwo so groß sein, daß alle Frauen dieses und alle Männer jenes besser können. Das Einzige was sicher ist: kraft unserer ausgeprägteren Muskeln eignen wir Kerls uns besser zum Steineschleppen.

Interessant ist, in der Literaturgeschichte zu verfolgen, welche Dichter ein Gespür für die Tragik der Frauen hatten, daß sie sozialisationsbedingt ihre Potentiale nicht entfalten durften oder konnten. Goethes Margaretentragödie ist in diese Reihe zu stellen. Gut ausgeprägt findet man es bei Maupassant, Tolstoi, Tschechow, Rilke – und bei Nietzsche! Man hält Nietzsche immer für einen Frauenverächter. Aber wer genau liest, stellt fest, daß das Gegenteil zutrifft und er einfach nur erschüttert darüber war, was die patriarchalische Kultur auf der damaligen Kulturstufe aus den Frauen machte: lächerliche hysterische Hennen, die sich bestenfalls mit Intriganz ein wenig entschädigen konnten für das vorenthaltene Leben.

[10] zitiert nach: Hans Joachim Schrimpf, J.W.v.Goethe, Faust, in: Harro Müller-Michaels (Hg.), Deutsche Dramen, Interpretationen Bd.1, S. 105

Weiterlesen: Überblick über das Drama: Deutende Inhaltsangabe

Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel)

Literatur

Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust II. Heidelberg 1989.

Eibl, Karl: Zur Wette im Faust. In: Goethe-Jahrbuch 116 (1999). S. 271
ders.:  Das monumentale Ich, Frankfurt a.M. 2000.

Dornes, Martin: Der kompetente Säugling. Frankfurt a.M. 1993

Fleck, Ludwig: Die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache (1939), Frankfurt a.M. 1980

Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1973

Leskow, Nicolei, Der Gaukler Pamphalon. In: Meistererzählungen, Diederichs Leipzig 1952, S. 332.

London, Jack, Das Haus Mapuhis, in: Phantastische Weltliteratur, hrsg. von Jorge Luis Borges, Bd. 7

McGuinness, Alec: Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt a.M. 1992, S.433

Rilke, Rainer Maria: Malte Laurids Brigge (1910), in: kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Frankfurt a.M. 1996, S.548ff

Trunz, Erich, Kommentar zu Goethes Faust, in: Goethe, Hamburger Ausgabe Bd. 3, 1949

 

Copyright:
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copyright-kontakt: www.goethesfaust.com

Unser Reim aufs copyright:

An die Worte und ihre Häscher

So schick ich euch den still und leise
Liebe Worte auf die Reise.
Es freut mich, wenn ihr nützlich seid,
Und jemand sich an euch erfreut.
Doch wenn euch jemand einfach stielt,
Fremden Namens mit euch dealt,
Dann seit nicht sauer, denket eher,
Mit fremden Federn fliegt sichs schwer.

Ein Tipp für den Gedankendieb:
Folg mal dem Sinn und nicht dem Trieb.
Und was ist schon daran so schwer,
Anzugeben, wo ists her?
Ein rechtes Wort am rechten Ort
Bringt immer Lob und zwar sofort.
Und wenn es auch nicht Deines ist,
So rühmt man wie Du kundig bist.

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