Übersicht:
(1) Allgemeine Hinweise zur Verständlichkeit
(2) Was das Lesen schwermacht
(3) Warum Verse? Warum es sich lohnt, sich ein sprachliches Kunstwerk zu erschließen
(1) Allgemeine Hinweise zur Verständlichkeit
- Der „Faust“ ist weit leichter zu verstehen, als die Interpretationsscholastik, die Generationen von Philologen um das Werk gesponnen haben, vermuten läßt! Doch zunächst erscheint der Text schwer verständlich. Warum?
- Goethe war ein Geschichtennarr. Der Fausttext ist ein Patchwork: Ob Gott oder Galathea, ob die Gottesmutter Maria oder die Phorkyaden, ob Persephone oder Mephisto: Goethe montiert Figuren aus den verschiedensten Geschichten. („Mythos“ ist ein altgriechisches Wort für „Geschichte.“) Von diesen Geschichten muß man was kennen, sonst wird der Text flach und Zusammenhänge werden nicht erfaßt. Der Epilog hat z.B. zweifellos kabarettistische Züge (z.B. die Regieanweisung: „Mater Gloriosa: schwebt einher“). Aber wer hinter dem Komischen nicht dasjenige sehen kann, was dazu geführt hat, dass Menschen sich einmal solche Figuren ausgedacht und heilig gehalten haben, der kriegt das Wesentliche nicht mit. Was kann man mit den alten Geschichten und ihren Figuren anfangen? Mit der Mär von den gefallenen Engeln? Mit Mephisto? Mit der Muttergottes und den „Müttern“? Mit dem ganzen mythologischen Gespensterwesen von Hexen, Elfen, Gnomen, Zentauren, Lamien und Meergeistern? Diese Fragen zu beantworten: das hätte ein guter Kommentar zu leisten…
- Mephisto z.B. kann man auffassen als Personifikation menschlicher Aggression und Triebhaftigkeit. Eine solche Auffassung ist immer auch eine Verkürzung, weil sie der Bedeutungsentfaltung der Figur enge Grenzen setzt. Dennoch trifft sie aber auch etwas Richtiges und kann als erster, provisorischer Kristallisationspunkt hilfreich sein bei der Orientierung in der Fülle der Aspekte und Auffassungmöglichkeiten des bildhaften Geschehens des Dramas.
- Erschwert wird die Verständlichkeit (vor allem in Faust 2) dadurch, daß der Zuschauer oft einen langen Atem haben muß, bis sich die Textfülle zu einer „Gestalt“ formiert. Ähnlich wie in der Musik das Gewicht der „Gestaltbildung“ in manchen Werken mehr auf dem Einzelton liegt, wie z.B. in einer Bachfuge, in anderen dagegen die meisten Töne nur eine klanglich-„statistische“ Rolle spielen (z.B. bei Rachmaninoff): so wechseln auch im „Faust“ Passagen, in denen es auf jedes Wort ankommt mit „redseligen“ Passagen, wo mit Worten Bilder und Athmosphären erzeugt werden. – Wie soll z.B. das Keifen eines alten Weibes (Phorkyas) anders als durch einen Wortschwall auf die Bühne gebracht werden? Und wie soll die Versöhnlichkeit der gleichen alten Frau anders als durch Redseligkeit dargestellt werden, wenn sie merkt, daß die jungen Frauen sich für das interessieren, was sie zu sagen hat? Nur wenn man dieses „Bild“ erlebt (was z.B. in der Stein-Aufführung sehr gut vermittelt wird), verliert man nicht die Orientierung, wenn Phorkyas in minutiöser Ironie den gotischen Baustil beschreibt.
- An dieser Szene läßt sich anhand der Gestalt der Phorkyas beispielhaft zeigen, wie das mit den „ethisch-ästhetischen Formeln“ funktioniert: Der Zuschauer weiß zwar, daß Phorkyas keine alte Frau ist, sondern daß Mephisto sich diese Larve von den Phorkyaden entliehen hat, der Zuschauer durchschaut auch die Strategie der Mädchen, die sich der alten Frau nur anbiedern wollen, weil sie die Macht hat, sie zu retten; an der Oberfläche erscheint jedoch folgende Gestalt: Eine alte Frau, die offenbar mit den Herausforderungen der Jugend und des Alterns nicht klargekommen ist und jetzt, angestachelt von uneingestandener sexueller Frustration, sich in heftigsten Schmähreden auf die jungen Frauen ergeht, wird plötzlich wohlwollend gestimmt, als sie das Interesse der jungen Frauen an ihr wahrnimmt: sie ist plötzlich wichtig für die Mädchen, die sich um sie scharen und ihr ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Es ist eine „poetische Formel“ dafür, wie Sinn an die Stelle von Sexualität treten kann: die Alte partizipiert an der Jugend der Jungen, an der „Macht“ der Jugend, indem sie wichtig für sie ist, in dem sie sozusagen zur Hüterin, zur Retterin der jungen Frauen wird. – Gleichzeitig sehen wir außerdem, wie wir zu dieser „Naturtatsache“ des Lebens in Distanz gehen können, indem wir sie für unsere Zwecke nutzen, denn beide Seiten spielen sich nur etwas vor, doch jede Seite muß ihren Part überzeugend spielen, wenn sie eine Chance haben will, daß die andere Seite ihr auf den Leim geht. (Ein anderes Beispiel für eine „poetische Formel“ finden Sie in meiner Kritik der Stein-Inszenierung unter Nereus.)
(2) Was das Lesen schwermacht
In unserer Zeit geht das gar nicht: man will Inhalt und stößt auf Form. „Faust“ liest sich nicht wie Erzählungen oder Romane. – Es ist wie ein Wettlauf zwischen Brei und Brot: Für den „Faust“ braucht man gute Zähne. Den Text muß man sich erschließen. Dafür ist ein Brocken davon nahrhafter und wohlschmeckender, als die Schüsseln voller Brei, die durchschnittliche Textkonsumenten sich täglich schnell hinter schlucken.
Was macht das Lesen so sperrig?
- Die Sprache richtet sich nach Reim und Rhythmus. Dem muß sich die Verständlichkeit unterordnen.
- Der Text ist poetisch und informationell voraussetzungsvoll: Oft werden nicht Handlungen und Beschreibungen dargeboten, sondern Stimmungen erzeugt und Bedeutsamkeit erschlossen. So entstehen Passagen, die beim schnellen Lesen wie Fülltexte wirken. Da passiert nix. – Und ständig muß man sich in Kommentaren informieren, wer das ist, der da gerade spricht, oder wovon er eigentlich redet, sonst entgeht einem ein Stück der Pointe.
- Der Text besteht fast ausschließlich aus gesprochenem Wort, pur. Das Sprechverhalten wird nicht, wie im Roman, beschrieben: „Und während er seine Zigarette ausdrückte, fügte er hinzu….“ – so werden die Leser im Roman bedient. Das Hinzufügen ist im „Faust“ Sache der Leser: Es ist weit mehr als im Roman das Vorstellungsvermögen gefordert: man muß sich das Gelesene ständig in lebendiger Rede vorstellen, d.h.: man muß szenisch lesen. Die Leser müssen beim Lesen alles mobilisieren, was an Schauspiel- und Regisseurstalent in ihnen steckt.
Was erleichtert das Lesen?
- Laut zu lesen, Schauspieler zu spielen.
- Zeilen-Kommentare zu benutzen: Am empfehlenswertesten finde ich den Kommentar von Albrecht Schöne.
- Inszenierungen anzuschauen. – Steins Inszenierung hat den Vorteil, den ganzen Text darzubieten. Trotz aller Verzeichnungen ist das eine vorzügliche Lesehilfe. Es ist ein altbekanntes Phänomen: Der Text des „Faust“ erscheint ungeheuer schwer verständlich. Wenn man ihn auf der Bühne sieht, erschließt sich selbst den unvorgebildetsten Lesern erstaunlich viel. – Schade bloß, das Stein so einfallslos und nahezu treudoof inszeniert hat und offenbar mit völliger Taubheit geschlagen war bezüglich monotoner Manierismen… –
In der Prosa geht die Sprache, im Gedicht tanzt sie (1).
Der Nachteil: Verse sind oft nicht so unmittelbar verständlich wie Prosa, weil sich die Sprache Rhythmus und Reim beugen muß. In viele Gedichte muß man Arbeit hinein stecken um Erleben und Bedeutung heraus zu bekommen. Aber der Aufwand ist gering im Verhältnis zum Gewinn: dem persönlichen Wachstum, das uns die Erschließung eines Kunstwerks ermöglicht.
Denn der Vorteil der Verse ist: die unbewußten Bedeutungsdimensionen der Sprache werden zugänglicher. Warum? Die Alltagssprache hat einen „Tunnelblick“: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein), d.h. sie erschöpft sich in alltäglichen Verwendungszwecken der Sprache. [Erläuterung zu Wittgensteins Sprachphilosophie][Einführung in die Philosophie Wittgensteins]
Alle bekannten Kulturen kennen neben dem alltäglichen Sprachgebrauch auch das „Feiern“ der Sprache (auch eine Metapher Wittgensteins), nicht nur im Erzählen von Mythen und Märchen sondern auch „formal“: Auf Balladen wurde wirklich einmal getanzt! (2) – Und auch außerhalb der Kunst wird die Sprache „frisiert“: in der Rhetorik. Und der Übergang zwischen Alltagssprache und Rhetorik ist fließend, wie z.B. bei Redewendungen wie: „ganz oder gar nicht“, „gang und gäbe“ usw…
Die Gestaltung der Sprache besteht dabei immer darin, daß das ihr innewohnende musikalische Moment „herauspräpariert“ wird: Rhythmus und Klang. (Der Klang kann durch Zusammenstellung gleicher oder ähnlicher Vokale und Konsonanten gestaltet werden: Reim, Alliteration, Häufung heller oder dunkler Vokale (z.B. „und verschlucke den Lockruf dunklen Schluchzens“ (Rilke)). Die Wortbedeutung kann dabei musikalisch „begleitet“ oder „unterstrichen“ werden, z.B. bei den „lieblichen“ Versen, mit denen die Elfen am Beginn von Faust 2 den „lieblichen“ Frühling besingen.
Ähnlich wie geballte Faust und laute Stimme den Zorn zorniger Worte unterstreichen, können auch musikalische Aspekte der Sprache das „Digital“ der Wortbedeutungen „analog“ verstärken. („Digital“ nennen Watzlawik et al. die Wortbedeutung, weil sie mit dem Gegenstand, auf den sie sich bezieht, genauso wenig zu tun haben muß, wie die digitale Kodierung einer Computer-Operation mit der Operation selbst: Aus dem Wort „Katze“ z.B. läßt nichts auf eine Katze schließen, sonst würde das Wort in allen Sprachen verstanden (3) „Digital“ und „analog“ sind Metaphern. In den Geisteswissenschaften spricht man von „symbolischer“ und „gestenvermittelter“ Interaktion.) – Tieren steht nur die „analoge“ Kommunikation zur Verfügung: gedroht wird nicht mit Worten sondern mit Gebärden, die ein Bild für Aggression sind, z.B. das Blecken der Zähne. Da die „analoge“ Kommunikation stammesgeschichtlich sehr alt ist, sind wir dafür „instinktiv“ sensibilisiert. Doch offenbar verfügen wir Menschen noch über weitere „analoge“ Erkenntnisweisen, und zwar, wie die Säuglingsforschung herausgefunden hat, schon ganz früh: Ab der 3. Lebenswoche können die Kleinen einen Schnuller mit Noppen, den sie nicht gesehen haben, visuell identifizieren, indem sie anhand des gustatorischen Sinnesreizes im Mund auf die visuelle Erscheinung schließen. Ebenso bilden sie „amodale“ und ereignisunabhängige Invarianzen, d.h. sie orientieren sich an Erfahrungsqualitäten, die in den verschiedenen Sinnen oder Ereignissen gleich sind: z.B. ob etwas „explosiv“ oder allmählich geschieht, ob es „anstürmt“ oder „tröpfelt“, „verblasst“ oder „verfliegt“. Das ist für Säuglinge eine der wichtigsten Operationen zur Organisation ihrer Wahrnehmung. Dadurch, daß es eine der archaischsten und bedeutensten Organisationsweisen unserer Erfahrung ist, können wir davon ausgehen, daß wir für solche Erlebnisqualitäten, ohne daß es uns zu Bewusstsein kommen muß, besondern „anfällig“ sind, d.h., daß wir selbst kleine Nuancen gut wahrnehmen und „auswerten“ und „Schlüsse“ daraus ziehen, die wir in der Regel jedoch nur in Form vager Gefühlsbeimischungen „spüren“ und auf die wir implizit, d.h. ohne bewusste Intention, reagieren – z.B. indem wir ärgerlich werden und nicht wissen wieso. –
Paul Valery beschreibt den Effekt von Versen als „Schwingungen zwischen Klang und Sinn“. Was neuropsychologisch vermutlich passiert ist: Das „Tanzen“ der Sprache aktiviert mehr Hirnareale als die Alltagssprache und führt zur Ausschüttung zusätzlicher stimulierender Botenstoffe (4). Die Folge: „Netzwerke“ werden zugeschaltet, die von der Alltagssprache nicht aktiviert werden können. Das Wort wird in einen größeren Zusammenhang impliziten Wissens eingeordnet, seine Bedeutung wird dadurch „vertieft“, ohne daß wir es bereits bewußt erfassen, d.h. artikulieren können. Wir spüren am Eindruck, den ein Vers hinterlässt, zunächst nur vage, daß die Aktivierung impliziten Wissens zu höheren neuronalen „Erregungspotentialen“ führt. Am einfachsten ist dieser Effekt wohl bei Spaßversen wahrzunehmen, z.B bei Wilhelm Busch (6):
Einen Menschen nahmens Meier,
Schubst man vor des Hauses Tor
Und man spricht, betrunken sei er,
Selber kams ihm nicht so vor.
So mühsam es anfangs scheint: Es lohnt sich, sich Verse zu erschließen.
Weiterlesen: Überblick über das Drama: Deutende Inhaltsangabe
Nachweise
(1) Valery, Paul Über das Wesen der Poesie, in: Urbanek, Walter, Gespräche über Lyrik, Bamberg 1961
(2) Müller-Seidel, Walter, Die deutsche Ballade, Umrisse ihrer Geschichte, in: Hirschenauer, R., Weber, A., Wege zum Gedicht Bd.2, München und Zürich, 1968, 20f
(3) Watzlawick, P., Beavin, J., Jackson, D., Menschliche Kommunikation,, Bern 1990, 61ff
(4) Stern, Daniel, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 2007 S. 74 – 93
(5) Grawe, Klaus, Neuropsychotherapie, Göttingen 2004, 46ff
(6) Wilhelm Busch, „Die Haarbeutel“: https://www.projekt-gutenberg.org/wbusch/haarbeut/chap003.html