Über die Interpretationen auf dieser web-site:
Wer ins Gebirge will, aber noch an unüberwindbaren Felswänden hin- und herläuft, braucht sich noch keine Gedanken zu machen, welche Richtung einzuschlagen ist, wenn die Felswände erklommen sind.
So verstehen wir unsere Interpretationen: Es ist nicht die Frage, ob sie richtig sind, sondern wie gut sie einen ersten Zugang schaffen, von dem aus eine Orientierung über sinnvolle Deutungsmöglichkeiten möglich wird.
Dennoch glauben wir, daß viele unserer Deutungen – vor allem bezüglich Fausts Problem und Fausts Wette – sich auch im akademischen Diskurs behaupten können.
Hier nun unsere Interpretations-„Philosophie“ an der wir selbst gemessen werden wollen:
Inhalt:
Wissenschaftliche Interpretation
Laieninterpretation
Irrwege der Interpretation:
– Hineinlesen: Naives Hineinlesen – Tendenziöses Hineinlesen
– Fleiß und Scharfsinn als Falle – Spontaneität als Korrektiv
– Problematische Mittel der Interpretation: Indizienbeweise – Ignoranz
Lesezeit: 8 Minuten
Eine Frage ist, was Dichter mit ihren Worten meinen, eine andere, wie wir ihre Worte verstehen und zu welchen Gedanken sie uns anregen, eine dritte, was wir in sie hineinlesen.
(1) Wissenschaftliche Interpretation
Was die Dichter mit ihren Worten meinen, ist Gegenstand der Wissenschaft. So wird z.B. alles, was Goethe in seinen Schriften über den Begriff „Augenblick“ ausgeführt hat, herangezogen, um herauszufinden, was er mit der Formel: „Werd ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön“ gemeint haben könnte. – Ebenso werden aufwändige zeitgeschichtliche Untersuchungen betrieben, die den Rahmen abstecken dafür, was jemand in dieser Zeit überhaupt meinen konnte.
Zu eindeutigen Ergebnissen wie in der Naturwissenschaft kann die professionelle Interpretation grundsätzlich nicht führen. Es bleibt bei Deutungshypothesen. Doch diese Hypothesen sind das notwendige Korrektiv zur Laieninterpretation: zu dem Reim, den sich Laien auf die Worte der Dichtungen machen.
(2) Laieninterpretation
Dichtung ist nicht für Philologen geschrieben. Dichtung hat ihr Leben in der Laieninterpretation, im unprofessionellen Verstehen.
Laien lassen sich von den Worten anmuten, inspirieren. – Interpretation heißt: das subjektive Erleben der Dichtung zu versprachlichen, und diese Aussage immer wieder kritisch zu konfrontieren mit den Worten des Kunstwerks. Nicht was die Dichter uns sagen wollen, ist die Frage, sondern auf welche Ideen sie uns bringen und was sie uns eröffnet doch selber nicht ausgeschöpft haben.
Wenn Goethe in einem Brief schreibt, daß wir vielleicht mehr im „Faust“ entdecken, als er geben konnte, scheint seine Intention eher darin zu liegen, uns mit der Dichtung zu inspirieren, als uns dazu anzustacheln, zu erforschen, was er gemeint haben könnte.
Laieninterpretation kann der Wissenschaft Ideen liefern. Eine Disqualifikation von Seiten der Wissenschaft wäre daher verfehlt. – In den Naturwissenschaften gibt es die Unterscheidung von context of discovery und context of justification: Der eine Kontext liefert die Ideen, der andere überprüft sie. – Die Laieninterpretation ist in diesem Sinne ein „context of discovery“.
(3) Irrwege der Interpretation
(3.1) Naives Hineinlesen
Laien neigen dazu, in den Text irgendetwas hineinzulesen, was ihnen gefällt oder was ihnen das Kunstwerk verstehbar macht. Hineinlesen geht so: Ich ignoriere alles, was meiner Deutung widerspricht oder erkläre es weg mit willkürlichen Zusatzannahmen („ja, aber es kann doch sein, daß…“).
Um nicht zu sehr der Beliebigkeit zu verfallen ist die Laieninterpretation angewiesen auf die Experteninterpretation. Denn je beliebiger meine Deutung, desto weniger habe ich vom Kunstwerk, weil ich nur hineinlese, was ich ohnehin schon denke.
(3.2) Tendenziöses Hineinlesen
Tendenziös ist Hineinlesen, wenn der Text zu etwas herhalten soll: „Das ist der Beleg dafür, daß diese Haltung in Goethes Sinne ist!“ – Oder: „Das ist der Beleg dafür, daß dieser Autor rassistisch ist“. – Es gibt in der Deutung keine Belege, es gibt nur Vermutungen.
(3.3) Fleiß und Scharfsinn als Falle
Keiner Interpretation ist zu trauen, die zu scharfsinnig ist. Ein Kunstwerk ist kein Rätselheft. – Interpretation bedeutet nicht: kriminalistische Auswertung von Indizien, die für oder gegen eine bestimmte Deutung sprechen – vor allem nicht von Indizien, die nicht aus dem Werk selbst stammen sondern mit Bienenfleiß zusammengetragen sind aus den anderen Werken der Dichterin oder des Dichters und aus allem, was wir über die Zeit der Dichtung wissen.
Ich finde es bemerkenswert, daß die Wissenschaft sich offenbar noch nie die simple Frage gestellt hat, wie Leute, die keine Germanisten sind, auf eine Deutung kommen sollen, die so hintersinnig und voraussetzungsvoll ist, daß man nur darauf kommen kann, wenn man hunderte Seiten Fachliteratur gewälzt und jahrelang professionell darüber gebrütet hat. – Es würde gerade nicht für Goethe sprechen, falls er sich nicht anders verständlich machen könnte, als durch vorhergehende Besuche von Oberseminaren!
Spontaneität als Korrektiv: Die Kunst der Interpretation besteht darin, den Punkt finden, an dem Interpretation umschlägt in Exegese und Scholastik. – Für einen Denkwiderstand beim Interpretieren halte ich daher auch den Interpretationsaufwand. Die naheliegendere Möglichkeit ist zur Not diejenige, die dem Text eher gerecht wird: „Was suggeriert der Text hier? Wie läßt er sich spontan und intuitiv verstehen, so wie man es bei einer Aufführung verstehen würde, d.h. ohne es akademisch durchdenken zu können?“
(4) Problematische Mittel der Interpretation
(4.1) Indizienbeweise
Ein Beispiel für einen Indizienbeweis: Der Germanist Arens schreibt, Goethe sei nie rhetorisch gewesen, Faust dagegen schon, also habe Goethe Faust mit dessen Rhetorikgebrauch charakterisieren wollen und zwar als aufgebläht mit hohlem Pathos.
Generell halte ich die sprachliche Form in der Regel für zu uneindeutig um als Beleg für irgendwas gelten zu können. Will ein Autor mittels der Form etwas Konkretes mitteilen, muß das sehr sehr eindeutig sein. – Außerdem finde ich Interpretationen prinzipiell problematisch, die nicht den Text für sich selbst sprechen lassen, sondern ihn mit Rückgriff auf Informationen über den Autor und seine anderen Texte erklären wollen.
Selbst bei folgender Stelle bin ich im Zweifel, ob man sie als Indiz für irgendwas werten kann: Beim Eintritt in Margaretes Gefängniszelle, in der sie auf ihren Tod wartet, spricht Faust: „hier wohnt sie hinter dieser feuchten Mauer“. Durch das Wort „wohnen“ wird das Unwirtliche und Schaurige des Ortes bagatellisiert, es entsteht ein „humoriger“ Widerspruch. Das würde man bei Wilhelm Busch erwarten, aber nicht hier, vor einem schockierenden Geschehen.
Ist das ein Indiz dafür, daß Faust nicht in der Lage ist, zu erfassen, unter welchem Schock Margarete steht? Und muß man dann seine Ausrufe: „werd ich den Jammer überstehen“, „du bringst mich um“ und „o wär ich nie geboren“ so deuten, daß er hier nur auf sein eigenes Leid schaut im Sinne von: „Ich kann dich nicht so leiden sehen, mach die Tür zu“? – In diesem Sinne deutet es Arens: Fausts Worte seien „doch schon etwas zu formelhaft um volles Gewicht zu haben. Außerdem zieht er es ja vor, am Leben zu bleiben“ (Arens Bd.1 S.464)).
Aber Arens Deutung kann nicht überzeugend darlegen, wieso Faust Margarete dann überhaupt retten will und dafür sogar seine Wette mit Mephisto riskiert. Ich würde eher davon ausgehen, daß „hier wohnt sie hinter diesen feuchten Mauern“ ein Lapsus Goethes ist, statt eine bewußte Botschaft durch die Form. – Möglicherweise hörte man das Wort „wohnen“ damals auch anders. (Das Grimmsche Wörterbuch legt das jedoch nicht nahe.) – Ich würde bei einer Inszenierung nicht zögern, „harrt“ statt „wohnt“ zu sagen oder den Vers einfach zu streichen.
Auch vorher ist Arens deutlich tendenziös in seiner Beurteilung Fausts: Faust habe keine richtige Beziehung zu Margarete, er liebe sie nicht, das sehe man daran, daß er in „trüber Tag, Feld“ Margarete kein einziges Mal erwähne, und seine Beziehung zu ihr auch nicht, und er äußere auch keinen Schmerz über das von ihm ins Unglück gestürzte Mädchen, sondern nur allgemein seine humanitäre Entrüstung über soziale Mißstände. – Selbst wenn es so wäre: Würde das nicht gerade Faust auszeichnen, daß er Margarete rettet, obwohl er sie nicht liebt? Das wäre doch ein noch größeres Zeichen für nicht selbstbezügliche Menschenliebe, als wenn er ein Mädchen rettet, an dem sein Herz hängt!
Möglicherweise ist es in der Interpretation wie im Leben: Es ist nicht sinnvoll, Indizienbeweise bezüglich Gesinnungen zu führen. Im Leben ist das Inquisition und Stalinismus. Wer von realen Personen keine Liebesbeweise fordert, sollte es auch von literarischen nicht. Die Aussage: „Jemand, der so handelt, liebt nicht“ sollte transformiert werden in die Aussage: „Ein solches Handeln läßt sich nicht gut mit Liebe vereinbaren. Von jemandem, der liebt, würden wir etwas anderes erwarten.“ Damit haben wir statt einer Antwort eine Frage: „Liebt er sie wirklich nicht, oder welche Faktoren verhindern hier, daß seine Liebe in seinem Verhalten zum Ausdruck kommt?“
(4.2) Ignoranz
Wieso wählt Gott ausgerechnet Faust aus, als er mit Mephisto darüber diskutiert, ob der Mensch ein gelungenes Geschöpf ist? Dieser Frage muß die Interpretation der Faust-Figur gerecht werden. Wer aus Faust einen Dilletanten macht oder jemanden, der sich in hohlem Pathos aufbläht oder wer ihm eine narzistische Persönlichkeitsstörung attestiert – was hätte es für einen Sinn, wenn Gott so einen Menschen als Beispiel dafür anführt, daß es sich mit seinem Geschöpf besser verhält, als der Teufel glaubt?
An der Interpretation von Arens zeigt sich beispielhaft, wie anfällig wir dafür sind, unsere Überzeugungen gegen die Realität zu schützen. Er führt hunderte Beispiele dafür an, wie die Philologen Stellen ignorieren oder nicht nachvollziehbar umdeuten, tut aber selbst manchmal nichts anderes. So verträgt sich z.B. Arens Darstellung der Faust-Figur nicht damit, daß die Seherin Manto Faust einen Halbgott nennt. Arens argumentiert: in dem Moment, wo sie sage „Halbgötter treten heran“ habe sie erstens keine Sehergabe gebraucht, weil das Hufgetrappel in dieser Nacht, wie jedes Jahr, eindeutig Chiron angekündigt habe, und zweitens habe sie den Plural allein für Chiron gebraucht, Gott habe im Prolog ja auch von „Göttersöhnen“ gesprochen, obwohl es nur einen Gott gebe. Zudem, wenn Manto nach Faust frage mit den Worten „und dieser?“, klinge das nicht danach, daß sie nach einem Halbgott frage.
Zur Interpretation in der Schule:-„fackju göhte“
Zum Wikipediaartikel über Interpretation
Literatur:
(1) Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust I und II, Heidelberg 1982 und 1989. –
Trotz meiner Kritik an Arens halte ich seinen Kommentar für den hilfreichsten – allerdings auch den anspruchsvollsten. – Vor allem die Fülle der Interpretationsbeispiele anderer renommierter Germanisten gibt eine satte Anschauung von den Irrungen und Wirrungen der Faust-Interpretation – und mutet oft an wie absurdes Theater…
(2) Die Begriffe „Denkwillkür“ und „Denkwiderstand“ stammen von einem der Pioniere der Wissenschaftstheorie: Ludwik Fleck, : Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, (1935), Frankfurt a.m. 1980,