Neuartige Musikdokumentation

Neue Konzepte der Vermittlung klassischer Musik in Dokumentarfilmen

Die großen Kunstwerke der Musik sind zu einem Nischendasein verurteilt. Es ist, als ob die meisten Menschen noch nie eine Kathedrale betreten hätten!

Sich Musikkunstwerke zu erschließen ist nicht leicht. Wissenschaftlich ist es noch nicht untersucht, aber offenbar braucht das Gehirn eine gewisse Zeit, bis es in einer Musik, mit der wir nicht aufgewachsen sind, Muster und Ordnungen erkennt. Selbst Musik, wie die von Corelli, die mir einfach und eingängig erscheint – und wunderbar schwelgerisch! – selbst diese Musik ist für viele intelligente und feinfühlige Leute, denen ich sie zum Einstieg in die klassische Musik empfehle, unmittelbar völlig nichtssagend.

Herkömmlicherweise werden in Dokumentarfilmen zur Vermittlung von Musik Anekdoten aus dem Leben von Komponisten inszeniert und ihre Musik dabei als Filmmusik unterlegt. Nicht die Musik wird interessant gemacht, sondern ihr Schöpfer.

Das vermittelt indirekt die Botschaft, daß die Musik nebensächlich ist. Die Musik selbst wird entwertet und ihr künstlich ein äußerlicher, nicht-musikalischer Mehrwert wieder zugefügt: Wie erstaunlich das ist, daß da ein tauber Mann oder ein achtjähriger Junge eine Sinfonie komponiert! Man will die Leute für den Menschen interessieren und hofft, daß sie dann neugierig genug auf das Werk werden, um sich so oft damit zu beschäftigen, daß sie alleine einen Zugang dazu zu finden.

Ein Folgeproblem könnte in Vernutzungseffekten bestehen: Werden die gleichen Themen aus klassischen Kunstwerken immer wieder Filmen unterlegt, besteht die Gefahr, daß die Musik mit Assoziationen „verschmutzt“ wird: Hört man eine Sinfonie, drängen sich immer wieder Bilder aus Filmen auf. – (Allerdings meinte der Dokumentarfilmer Hannes Schalle, der mir dankenswerterweise auf meine Fragen antwortete, seit dreißig Jahren sei ich der erste, der sich darüber beschwere, daß er in seinen Filmen über klassische Musik Bilder und Musik dramaturgisch verknüpft. – Also vielleicht spinne ich mit meiner These von der Vernutzung.)

Wie kann auf attraktive Weise eingängig vorstellbar gemacht werden, wie toll die hohe musikalische Kunst ist? – Attraktiv sind Bilder und Geschichten; und Unbekanntes wird vorstellbar durch Vergleich mit Bekanntem.

Kreativ wäre es, Gleichnisse zu entwickeln, die die Vielschichtigkeit und den Reichtum der Musik veranschaulichen – ohne auch nur einen Ton dieser Musik selbst darbieten zu müssen oder auch nur eine Anekdote aus dem Leben ihrer Schöpfer und Schöpferinnen. – Wie bringen wir Kindern das rechnen bei? Mit Geschichten: „Hans, Paul und Grete finden 6 Äpfel. Wieviel Äpfel kriegt jeder?“

Es könnten mit Hilfe von künstlicher Intelligenz optische „Profile“ entstehen, mit denen z.B. Vergleiche zwischen Beethoven und Beatels möglich wären: „Seht her: so sieht das 3-D-Profil einer Sinfonie aus, und so das eines Songs!“ – Diese Profile sollen nicht bewerten, sondern die grundlegenden Unterschiede sichtbar machen und Neugier anstacheln. (Manchmal sitzen wir lieber im Garten, ein andermal durchstreifen wir lieber den Wald, erklettern einen Berg oder erforschen eine Höhle. Es gibt da nicht sinnvoll was zu bewerten, jedes ist zu seiner Zeit unübertreffbar.)

Eine andere Möglichkeit wäre, zu veranschaulichen, was im Gehirn vor sich geht bei verschiedenen „Musiken“.

Oder: Es könnten Wege gefunden werden, das Phänomen der Form zu veranschaulichen: was der Unterschied ist, ob ich 20 Minuten improvisiere oder mit den gleichen musikalischen Ideen im gleichen Stil eine Komposition ausarbeite?

Die Vorstellung eines Werkes wäre stilistisch statt anekdotisch. Mit einfallsreichen optischen „Übersetzungen“ könnte „sichtbar“ gemacht werden, was Beethovens Musik von der Mozarts unterscheidet. Beethovens Verfahren könnte aus seinen Skizzenbüchern anschaulich und nachvollziehbar rekonstruiert werden, ohne daß jemand dazu Noten lesen können muß. – Oder es könnte sichtbar gemacht werden, was die Klassik anders macht, als der Barock.

Eine derartige Vermittlung von Musik bedeutet immer auch eine Erforschung der Musik. Das ist aufwändig. Aber sind die großen Schätze der Menschheit das nicht wert? – Es ist doch erklärungsbedürftig, warum es nicht längst solche Ansätze gibt! – Für alles mögliche wird KI eingesetzt. Warum nicht dafür, uns z.B. Vorschläge für die Veranschaulichung der Komplexität klassischer Musik zu machen?

Das sind ad hoc Ideen. Ob sie „funktionieren“ muß sich zeigen. Ohne Forschungs- Experimentier- und Entwicklungszeit wird es nicht möglich sein, herauszufinden, was überhaupt geht und was davon gut. Es wird nicht reichen, einfach mal was auszuprobieren, um dann besserwisserisch festzustellen, daß es nichts bringt.

Weiterlesen: Gegen die Diskriminierung klassischer Kunstwerke

Ein Beispiel, wie läppisch das Niveau der Musikdokumentation im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk ist:
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/meisterstuecke/audio-emilie-mayer-faust-ouverture–100.html

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