„Einer bleibt übrig damit er berichte“ – Verfallsszenarien von Christoph Meckel

In Meckels Texten blicken Menschen in Verfall, Chaos, Zukunftslosigkeit und Tod, weil sie fliehen oder weil sie nicht mehr fliehen können.

Wie auch immer wir das Problem der globalen Fluchtbewegungen lösen wollen: wir sind es den Fliehenden schuldig, dieses Problem nicht nur in seinem Ausmaß sondern in seiner ganzen menschlichen und existentiellen Bedeutung zu erfassen, zu begreifen, zu ermessen. Denn einen deutschen Paß zu haben, ist reiner Zufall. Wer die Ungeheuerlichkeit dieses Zufalls nicht begreift, hat gar nichts begriffen.

Meckels Erzählungen helfen, zu begreifen.

Wie bei Träumen sollte man sich bei der Lektüre von Meckels Erzählungen vor Deuten hüten. Deuten ist Ersatzhandlung, Abwehr: Abwehr der Stimmungen und Gefühle, die Meckels Erzählungen auslösen, unangenehme Stimmungen, die wortkarg machen für Stunden, wortkarg, gerade weil sie zur Sprache gebracht werden wollen – aber dafür müssen sie erst gefühlt, gespürt werden, deutlich! – Deuten ist dumm. Es geht ums Fühlen. Gefühle haben einen Informationsgehalt, um ihn „abzuschöpfen“ brauchen wir eigentlich gar nicht viel zu tun, die Gefühle drängen uns ihren Gehalt auf – sofern wir sie nicht verdrängen…

Was hat das nun mit Goethes Faust zu tun?

Meckels Erzählungen können aufgefaßt werden als „Parallelgeschichten“ im goethischen Sinne zum 5. Akt von Goethes Faust: Ein Potentat will Einheimische deportieren lassen, läßt die Deportation von Leuten ausführen, deren Skrupellosigkeit er eigentlich kennen müßte, und als nur Tod und verbrannte Erde zurückbleibt, flüchtet er in seine Vision, einen freien Grund für ein freies Volk zu schaffen, und hält diesen Zweck für so  heilig, daß er keine Probleme damit hat, dafür Zwangsarbeiter herbeizupressen. – Und von dem, was die, die von den Deportierten und Herbeigepressten übrig bleiben, erzählen, hat Meckel etwas aufgeschnappt…

Um zu ermessen, wie sehr Faust sich verstiegen und verblendet hat, und um zu ermessen, wie radikal Goethes Idee ist, solch einen Heini zu erlösen (die Engel finden ihn bloß peinlich), kann die Lektüre von Meckels Erzählungen hilfreich sein.

Und nicht zuletzt auch, um zu begreifen, auf welchem Gräberfeld wir heutigen Deutschpaßbesitzer tanzen: Meckel ist 1935 geboren. Wenn ich mir vorstelle, welche Blicke ins Chaos seinen Kinderaugen zugemutet wurden, dann scheinen die Geschichten, die er mit 70 veröffentlichte, davon ein später, gut durchgearbeiteter Reflex – eine Botschaft von jemandem der übrigblieb, damit er erzähle…

(Ich erinnere mich an einen Patienten von mir, einen überdurchschnittlich erfolgreichen, tüchtigen Mann, der nach seiner Pensionierung sich von Zeit zu Zeit an den Alkohol verlor, weil sich die Bilder hochwühlten, die er als 5-jähriger sehen und begraben mußte, z.B. die Straße, wo an jeder Straßenlampe ein deutscher Soldat hing, aufgeknüpft von Deutschen, die es für Recht befanden, jemanden hinzurichten, der verweigert, in einem aussichtslosen Kampf weiter zu töten… (So nutzlos kann ein deutscher Paß sein bei einer richtigen Entscheidung zur falschen Zeit am falschen Ort… – (Und noch in den 70ziger Jahren gab es einen CDU-Ministerpräsidenten, der Todesurteile für solche Hinrichtungen ausgestellt hatte und nicht verstehen konnte, was daran Unrecht gewesen sein sollte.)

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/einer-bleibt-uebrig-damit-er-berichte/978-3-446-20572-7/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert