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Gegen die Diskriminierung klassischer Kunstwerke

Stellen Sie sich vor, es ständ‘ zwischen Hannover und Braunschweig ein Himalaya, aber niemand ging hin! Zu hoch, zu kalt, zu schroff, jeder dächte nur an Mühe und Öde.

So geht es vielen großen Monumenten der Menschheit: ob Beethovens späten Streichquartetten oder Skrjabins späten Klaviersonaten, ob Kafkas Schloß oder den großen russischen Romanen: Den Menschen ist die Kunst zu anstrengend, sie sind vom kommerziellen Entertainment verweichlicht und lassen ihre Intelligenz im Büro, wenn sie nach Hause gehen.

Ich fürchte, in der Entertainment-Flut geht das Wissen verloren, was wir an den ganz großen Kunstwerken der Menschheit haben, wie unterhaltsam und faszinierend sie sind, und wie sehr sie das eigene Leben bereichern können. Ja, ich habe den Eindruck, es entstehen Vorurteile gegen klassische Kunst: sie sei antiquiert, trocken, schwerfällig, mühsam und völlig uncool.

Was daran richtig ist: Die großen Kunstwerke machen es uns nicht immer leicht. Für meine Oma war Beethoven Lärm. Das hätte sich schnell geändert, hätte sie Zeit und Muße gehabt, ihn öfter zu hören. Unser Gehirn muß sich erst „einlesen“. Mit klassischer Musik bin ich aufgewachsen, aber mit klassischer indischer Musik ging es mir zuerst genauso wie meiner Oma mit Beethoven. Doch irgendwann staunte ich bloß noch…

Und bei „Faust“, wenn man ihn liest, ist das alles noch schlimmer. Unmittelbar kann das echt dröge sein. Aber regelmäßig ist zu beobachten, daß Leute, die von der Lektüre abgeschreckt sind, sich an einer Aufführung begeistern. – „Faust“ ist Theater, ziemliches Theater…

Was ist an den großen, bedeutenden klassischen Kunstwerken besonders? Sie wurden von Menschen geschaffen, die nicht nur hochbegabt waren, sondern in ihrem Fach auch über eine außergewöhnliche geistige Freiheit und Autonomie verfügten. Und sie waren von Kind an „trainiert“ in einer jahrhundertelang entwickelten Handwerkskunst, ob Dichtung, Malerei oder Musik. Viele „Optima“ kommen da zusammen.

Natürlich: Hard Rock und Rap sind auch Klasse und auch da kann es Genies geben, aber Hard Rock und Rap nutzen von den künstlerischen und handwerklichen Möglichkeiten, die die Menschheit in der Musik entwickelt hat, nur einen winzigen Teil. Und das, was sie in ein oder zwei Generationen selber an neuen Möglichkeiten entwickeln und einbringen können, ist gegen das, was sie nicht nutzen, ebenso winzig… (Im Übrigen: Viele wissen noch gar nicht, daß die klassische Musik sich weiterentwickelt hat und ihre Erben u.a. Schönberg, Ligeti, Xenakis heißen… )

Ich träume von einer Inszenierung des zweiten Teils von Goethes Faust, in der nicht verraten wird, daß es der „Faust“ ist: alle würden es für ein total abgefahrenes, verrücktes, modernes Stück halten…

Weiteres zum Thema: Entstaubung klassischer Kunstwerke

(zu diesem Thema paßt eine Science-Fiction-Kurzgeschichte auf unserer Seite: Kulturaustausch,  von Daniel Seefeld)

Fack ju Göhte – wo der Film recht hat, hat er recht

Inhalt:

Jugendschutz im Unterricht
Irrungen und Wirrungen der Faust-Interpretation
Nachsatz zum Film Fackju Göhte

(1) Jugendschutz im Unterricht

1978 übersandte ein böser Schüler – heute würde man sagen: ein Whistleblower – dem Dichter H.M.Enzensberger die Fotokopie einer Deutschklausur, in der es um die Interpretation eines seiner Gedichte ging. Enzensberger hat uns die Kommentare des Lehrers erhalten: „Sachlich falsch!“ – „Das ist viel zu eng und verschiebt die Thematik“. – „Davon steht nichts im Text.“ – „Das ist so nicht richtig“ – „Die 6. Strophe wird völlig außer acht gelassen.“ – „Das kann so nicht dem Text entnommen werden“ – „Die Darstellung wird dem Gedicht in keiner Weise gerecht.“- „Mangelhaft“.

Angesichts dieses „corpus delicti“ schreibt Enzensberger über die Gilde der Deutschlehrer (den „Lehrkörper“): „Der Lehrkörper, der in diesen Zeugnissen in Erscheinung tritt, ist keineswegs homogen. Seine Methoden reichen von der subtilen Einschüchterung bis zur offenen Brutalität, seine Motivationen vom reinsten Wohlwollen bis zum schieren Sadismus. All dieser Nuancen ungeachtet macht jener Lehrkörper doch im ganzen den Eindruck einer kriminellen Vereinigung, die sich mit unsittlichen Handlungen an Abhängigen und Minderjährigen vergeht, wobei es gelegentlich – dabei denke ich vor allem an die Randbemerkungen aus Brühl – zu Fällen von offensichtlicher Kindesmißhandlung kommen kann. Als Tatwaffe dient jedesmal ein Gegenstand, dessen an und für sich harmlose Natur ich bereits dargelegt habe: das Gedicht.“ – Soweit das Zitat.

In der Ausbildung werden die Lehrer nicht angeleitet, die Heranwachsenden für sprachliche Kunstwerke zu interessieren, sondern sie mit fragwürdigen Interpretationsaufgaben zu nerven, noch bevor überhaupt ein Interesse für das Kunstwerk geweckt wurde. – Stattdessen wäre es doch spannend, erst mal zu fragen, was an dem Kunstwerk unmittelbar so unzugänglich ist, daß die Schüler sich nicht von selber für sowas Tolles interessieren. Und um die Heranwachsenden dabei zu unterstützen sich das Kunstwerk zu erschließen, könnte auf die gleiche Art und Weise mit Sprache oder Musik herumgespielt werden, wie es die Menschen machten, die diese Kunstformen mal entwickelt haben.

Ich halte die Frage für interessant, warum das in der Schule keinen Platz hat: den sichersten, motivierensten und von den Musen mit dem größten Wohlgefallen betrachteten Weg zu beschreiten, der gleichzeitig wenig Anlässe für Kinderabwertung bietet. – Ich schätze, an den Lehrern liegt es nicht, daß es das nicht gibt, sondern an den Oberlehrern, die die Curricula festschreiben.

Alle gute Kunst enthält Spontaneität und Spiel, weiterentwickelt durch „Können“ und „Müssen“, durch Handwerk und Reflexion. – So etwas wie einen rudimentären „walking bass“ könnte man mit jeder Schulklasse hinkriegen, mit viel Spaß dabei. Und aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit von „walking bass“ und Generalbass hätte man damit eine Eintrittskarte in zwei völlig verschiedene Welten. (Da würde sich sogar noch der Biologielehrer freuen, weil es veranschaulicht, wie Evolution auf völlig verschiedenen Wegen zu gleichen Resultaten gelangen kann.) – Und Rap ist poetry slam, und poetry ist poetry, ob Rap oder „Faust“… – Ich frage mich überhaupt, wie Lehrer darauf gekommen sind, Gedichte als Gedanken zu behandeln statt als Sprachspiele und Erlebnisse.

Möglicherweise eine der anschaulichsten „Engführungen“ der menschlichen Vermögen, die für künstlerisches Schaffen erfordert sind, ist Bachs 4. Kanon aus der Kunst der Fuge: Es ist ein Umkehr-Proportionskanon im doppelten Kontrapunkt – aber das hört man ihm nicht an, er ist alles andere als „akademisch“, sondern Konstruktion und Spontaneität, Sinn und Form gehen eine denkbar virtuose Verbindung ein.

(„Umkehr-Proportionskanon im doppelten Kontrapunkt“: das ist eine Melodie, die sich mit sich selbst begleitet, und zwar in dem sie in der Begleitung langsamer oder schneller gespielt wird sowie „umgekehrt“, d.h.: wo sie „nach oben geht“ geht sie in der Begleitung „nach unten“. Und als wär das noch nicht schwer genug, wird im sie zweiten Teil mit getauschten Stimmen wiederholt: der Diskant wird zum Baß und der Baß zum Diskant. Das erfordert eine weitere Rücksicht, weil Ober- und Unterstimme unterschiedliche „harmonische“ Funktionen haben. Wird das nicht aufeinander abgestimmt, entstehen unlogische Mißklänge.)

 

(2) Irrungen und Wirrungen der Faust-Interpretation

Eine unfreiwillige Ironie der Oberlehrer besteht darin, daß ihre eigenen Interpretationen mit viel gelehrtem Tamtam und nahezu kriminalistischem Scharfsinn an Irrigkeit, Abwegigkeit, ja Abstrusität oft nichts zu wünschen übrig lassen. Das beste Beispiel dafür ist Goethes Faust, der anderthalb Jahrhunderte von der professionellen Germanistenzunft mißverstanden wurde: Faust sollte als Musterbeispiel des Menschen gelten und es wurde aller Scharfsinn aufgeboten um an dieser Deutung gegen das geschriebene Wort festhalten zu können. Nach dem Nationalsozialismus drehte sich der Wind und nun überboten sich alle darin, in Faust den „Unfaustischen“ zu sehen.

Wer sich gelehrsam mit der Wissenschaftsgeschichte der Renaissance beschäftigt und Goethes Recherchen rekonstruiert, der könnte auf die Idee kommen, Goethe habe in Faust eine Satire auf einen Wissenschaftler schreiben wollen: einer, der seine Experimente nicht richtig vorzubereiten versteht, der den Geist des Elements Erde dilletantisch mit dem Erdgeist verwechselt, (dem Geist, der alle Elemente erst schafft); einer der aus Hilflosigkeit in die Esoterik der überwundenen Pseudowissenschaften flüchtet („Magie“), der die Professionalität der neuen Generation (Wagner) für kleinkariert hält, weil sie die Träume vom Wissen-Was-die-Welt-Zusammenhält aufgegeben hat und sich nur noch ans Handfeste hält; und weil Faust schließlich den Teufel nicht in seiner wahren Gestalt zu beschwören vermag, sondern die Gestalt, in der Mephisto sich ihm zeigt, für die Wahrheit des Teufels hält, und ihn in seiner ganzen finsteren Macht verkennt.

Aber was würde uns so eine Interpretation vermitteln? Daß das Drama nicht des Schauens wert wäre. – Wen interessiert das Schicksal eines närrischen Dilletanten, der nicht an der Unzureichendheit der menschlichen Vermögen sondern an der Verkennung seines Dilletantismus scheitert? Wenn es Goethe darum gegangen wäre, die Wunderlichkeit eines wunderlichen Menschen zu zeigen: was hätte er dann bewiesen?

Und sollte Goethe wirklich beabsichtigt haben, daß man seine Texte nur dann richtig verstehen könnte, wenn man genau dieselben Bücher gelesen hat, wie er? Das ist vielleicht bei Möchte-Gern-Genies der Fall – Goethe hatte es nicht nötig, mit Hilfe von Chiffrierverfahren seinen Texten den Anschein von „Tiefe“, Hintergründigkeit und Bedeutsamkeit zu geben.

Von der Struktur her zeigt uns Goethes Text Folgendes: Ein Mensch ist in seiner Hilflosigkeit und Enttäuschung bereit, sich auf geächtete Mittel und Methoden einzulassen. – Dieses Thema würde nicht sinnvoll dadurch vertieft, daß hier die Verzweiflung eines Dilletanten gezeigt wird, der verzweifelt, weil er in seiner Ungeduld und Unwissenheit keinen professionellen Begriff von der Beherrschung seines Handwerks hat, es deshalb nicht beherrscht, und zu früh aufgibt.

 

Nachsatz zum Film „Fack ju Göhte“

Manche Jugendliche – vor allem solche, die es schon als Kind besonders schwer hatten – haben keinen Sinn dafür, sich was ganz Tolles zu erschließen, es sei denn eine Droge. Ein Kick durch eine Droge scheint ihnen „cooler“, als ein Kick durch ein Gedicht. Das ist ungefähr so, wie es cooler zu finden, den ganzen Urlaub vor der Glotze zu hängen, als mal auf einen Berg zu steigen.

Es fällt auf, daß sich manche Heranwachsenden kaum mit etwas anderem beschäftigen, als mit ihrer Stellung in der Klique und ihren sexuellen Chancen. (Und haben sie hier wenig Erfolg driften sie ab in Ballerspiele oder Drogen.)

Es ist unfair, sich über das Primitive und allzu Offensichtliche daran lustig zu machen. Es liegt nicht an ihrer Intelligenz. Sie waren aufgrund unverschuldeter Beziehungsbedingungen immer darauf fixiert, ihre Selbstwert-, Integrations- und Statusbedürfnisse zu befriedigen. Das ließ ihnen nie eine Chance, andere Interessen und Ziele zu entwickeln. Daß sie ihre Intelligenz und Tüchtigkeit auch weit intelligenter nutzen könnten, hat ihnen nie jemand gezeigt, sie haben davon nicht die geringste Vorstellung, sie sind völlig ahnungslos. – Eine unkritische Wertschätzung ihrer Versuche, unter ihren widrigen Umständen klar zu kommen, tut ihnen genau so unrecht, wie Überheblichkeit. Filme wie „Fackju Göhte“ schwanken zwischen beidem…

Überheblichkeit beruht auf Illusion. Wir sind zu leicht eingenommen von dem, was wir sind, und blind für die Zufälle, die uns ermöglicht haben, so zu werden. Wir neigen dazu, uns die Geschenke des Zufalls und was daraus ohne großes Zutun erwächst, als Verdienst anzurechnen, wie ein Bauer, der einen Mähdrescher in der Lotterie gewinnt, und dann auf den Nachbarn mit der Sense herabsieht.

Selbst für Fleiß und Tüchtigkeit sind wir unterschiedlich begabt und begünstigt. Ein Mensch z.B., dessen Gehirn genetisch bedingt weniger freigiebig mit Dopamin ist, hat es einfach schwerer, etwas zu tun, wozu er unmittelbar keine Lust hat. – Und Gehirne, die unter Umständen aufwachsen, die nicht sehr ermutigend sind, haben weniger Gelegenheit die Dopaminproduktion zu trainieren…

Hat jemand eine besondere Begabung, kann er auch unter den entmutigensten Umständen mit seiner Begabung ermutigende Erlebnisse bewirken. Er wird dann trotz der Umstände tüchtig und gilt als ein Beispiel, daß es ja wohl am Millieu nicht liegen könne. – Manchmal reicht auch eine kleine Abweichung, um in die Haltekräfte des Millieus eine Unwucht zu bringen: Ein Onkel oder Opa, der Heranwachsenden einen Bereich erschließt – vielleicht ein Tier oder eine Technik – in dem sie Faszination und Selbstwirksamkeit erleben können.

Nur der geringste Teil unseres Erfolgs geht auf unser Verdienst zurück, fast alles auf die Gunst von Genen und Gesellschaft und die daraus entspringenden selbstverstärkenden Prozesse. Das ganze Ausmaß zu erkennen, in dem wir das, was wir an uns toll finden, nicht verdient haben, kränkt. Die „ungerechte Verteilung der Glücksgüter“ (Max Weber) ist für die Begünstigten oft schwerer einzugestehen als es für die Benachteiligten ist, sie zu akzeptieren. – Daß sich nicht alles um die Erde dreht und das Universum auch ohne Gott denkbar ist, daß der Mensch vom Affen abstammt und unsere angebliche Selbstbestimmung vom Unbewußten gesteuert wird: nach diesen vier großen Desillusionierungen der Menschheit bleibt der Verdienstdünkel der letzte Rückzugsort kollektiver Illusion.

Obwohl die Weisen aller Zeiten darum wußten, war erst die Hirnforschung nötig, um es breitenwirksam dämmern zu lassen, daß es mit unseren Verdiensten nicht so weit her ist, wie unser Selbstbild es gerne hätte.

Es wird sich zeigen, daß Respekt, Wertschätzung und Solidarität die einzig desillusionierten Einstellungen zu allen Menschen sind, zu allen!

Sicher, das wird die Befriedigung zweier Bedürfnisse erschweren: andere Lächerlich zu machen, um sich selbst als was Besseres zu fühlen, und sich gegen sie abzugrenzen mit dem Dogma, jeder kriege, was er verdiene.

Aber wo ist das Problem: Was wäre denn so schlecht daran, wenn wir Menschen ganz anders als jemals in der Weltgeschichte zusammenhielten: gegen ein unendliches Universum in dem wir nicht der Nabel der Welt sind sondern ein bedeutungsloser Zufall, dessen Wohl und Wehe niemanden interessiert…

 

Nachweise

Die Zitate sind aus H.M. Enzensberger (1976): Ein bescheidener Vorschlag zum Schutz der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie. In: ders. Erinnerungen an die Zukunft, Reclam, Leipzig 1988 –

Das diskutierte Interpretationsbeispiel ist aus: Gaier, Ulrich, Wissenschaftssatire, in: ders. Fausts Modernität, Reclam, Stuttgard 2000. – Eine Fülle weiterer Beispiele, wie Gelehrtheit und Scharfsinn nicht vor abstrusen Interpretationen schützen, führt Hans Arens in seinem Kommentar an: Arens, Hans, Kommentar zu Goethes Faust I und II, Heidelberg 1989 (Möglicherweise wurde dieses Werk, das zweifellos der beste Kommentar zu Goethes Faust ist, wegen seiner Ausstellung professuraler Abstrusitäten nie über enge akademische Kreise hinaus verbreitet.) – Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Arenshttps://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Arens

Ob meine Interpretation des Epilogs abstrus ist oder nicht, und wie hineinkonstruiert oder herausgelesen meine Idee, daß Goethe in Fausts Himmelfahrt die Möglichkeit einer utopischen Solidarität feiert, als Gegenmodell zum beschränkten „faustischen“ Individualismus, das alles kann hier besichtigt werden: Zum Epilog von Goethes Faust

Goethe und Quote

Goethes Faust könnte ein Musterbeispiel dafür sein, daß bedeutungsvoller Gehalt so dargeboten werden kann, daß keiner wegzappt.

Unkenntnis und Mißverständnis haben bisher zur Verkennung des Stücks geführt, weil es durch Lesen nur mühsam zu erschließen ist, weil zu viel in das Stück hineingeheimnist wurde, und weil seine Inszenierungen an Einfallslosigkeit und postmodernem Brimborium leiden. Die Folge: Wir haben einen legendären Brillianten, der wie ein stumpfer Rohling aussieht. Aber das traut sich niemand zu sagen, dafür ist er zu legendär. Um seinem Nimbus gerecht zu werden, stellt man ihn in allen möglichen Arrangements zur Schau, doch niemand kommt auf die Idee, einfach mal den Staub runter zu pusten. [Anm.: Was ich einfallslos finde.]

So geht es mit vielen Kunstwerken, die zum „Bildungsgut“ mißverstanden wurden, von Bildungsbürgern, denen es mehr darauf ankommt, sich mit Bildung zu schmücken, statt sich engagiert damit zu beschäftigen. – Kunstwerke gehören nicht ins Museum sondern ins Leben. Sie sind reiche Ressourcen von Lebensfreude, Lebensbejahung und Bewältigung der menschlichen Fragen ans Dasein.

Es ist ungeheuerlich, was den meisten Menschen heute entgeht, weil sie von den Kaufleuten darauf getrimmt werden, Spaß haben zu wollen, statt sich Kunstwerke zu erschließen. Viele intelligente junge Leute sagen mir, es sei ihnen zu mühsam, eine Beethovensinfonie zu hören. Das wirkt greisenhaft. – Goethes Faust könnte uns zeigen: Das Unterhaltsame muß nicht gehaltlos sein, das Faßliche nicht dümmlich und das Reizvolle nicht kitschig. (Beethovensinfonien zeigen das auch, aber die hört ja niemand – dabei ist Beethoven in seinen Sinfonien der größte Zauberkünstler, was die Verbindung von Gehalt, Stringenz, Faßlichkeit und „Hörlust“ betrifft…)

Die guten Ansätze in den Produktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks („Örr“) zeigen, daß wir vieles längst haben, was man für gutes Fernsehen braucht, nur kommt die Kompetenz nicht zum Zuge.

Die Forderung, daß der Örr eine bestimmte Quote erzielen soll, ist unabdingbar. Es geht nicht, daß alle bezahlen, was nur wenige interessiert. Der Örr hat daraus bloß den falschen Schluß gezogen: um der Quote Willen den Privaten nachzueifern mit Trivialisierung und Vulgarisierung.

Von einem Örr ist Qualitätsquote zu fordern: Sendungen mit einer Qualität, die von der privater Sender deutlich und zuverlässig unterscheidbar ist und die dennoch mindestens soviel Quote erzielt, wie die Privaten.

Die Erfahrung, die der Örr bis jetzt mit der Quote gesammelt hat, sind unschätzbar: Der Örr weiß, wann weggezappt wird. Das gilt es auszuwerten. Und es gilt, mit diesen Auswertungen systematisch Experimente zu machen. Aber ich habe bei meinen Recherchen keinen Hinweis darauf gefunden, daß soetwas je stattgefunden hat! Doch genau das wäre nach der Einführung der privaten Sender die Aufgabe des Örr gewesen: mit unterhaltungs- und informationsästhetischen Möglichkeiten zu experimentieren und neue zu entwickeln.

Sollte mein Befund richtig sein, hätte der Örr seinen Auftrag eklatant verkannt oder ignoriert – oder auf gut deutsch: verkackt. – Nichts könnte besser belegen, daß der Örr nicht über zureichende Kompetenzstrukturen verfügt: Die, die wissen, wie´s geht, kommen offenbar nicht zum Zuge. Nur die Funktionäre haben das Sagen, denen es um nichts anderes geht als um eine blinkende Oberfläche, um „Gilt-Als“ und „Als-Ob“. – Aber was nützt ein äußerlich prächtiger Apfel, wenn er innendrin mehlig ist? Zumal, wenn er als Qualitätsobst verkauft wird…

Sicher, Qualitätsserien wie „The wire“ oder „House of cards“ hätten im Hauptabendprogramm kaum Quote. Sie sind dafür zu „sperrig“. Aber es wäre kein Problem, etwas mit vergleichbarem Gehalt auf gleichem künstlerischen Niveau zu produzieren, das faßlicher und unterhaltsamer ist. – Manche „Tatort“-Krimis zeigen diesbezüglich gute Ansätze. – Die Drehbücher müssen gehaltvoller und künstlerisch wertvoller werden und Anklänge an Dilletantensprech bei den Schauspielern dürfen nicht durchgehen. Es ist ein Rätsel, wieso beim reichsten Fernsehen der Welt im Hauptabendprogramm Abend für Abend Dilletantismus präsentiert wird, billig und hastig produzierte Dutzendware, die sich von der der Privaten höchstens dadurch unterscheidet, daß sie von den Anstandswauwaus der Gremien sittlich zurechtgebellt wurde.

Weitere Beiträge zu dieser Thematik:
Blochin oder die Möchte-Gern-Qualität des ZDF
ZDF-Krimiabend: Wie lächerlich will sich das ZDF machen?
Laienspiel. Zum Pfingstmontags-„Tatort“

Anm.:

Was ich einfallslos finde, an den Faust-II-Inszenierungen, die ich bisher sah?

Die Möglichkeiten, Kommentare in die Inszenierung zu integrieren, wurden nicht genutzt. Dabei haben wir heute auf der Bühne alle Freiheiten! – Mephisto z.B. fällt gern aus der Rolle. Wenn man ihn nur ließe, würde er sich keine Möglichkeit entgehen lassen, etwas ironisch zu kommentieren…

Merkwürdig eigentlich: der Kreativität der Regisseure und Dramaturgen wäre da keine Grenze gesetzt. Die wollen doch so gerne super kreativ sein! Die Ausarbeitung solcher Kommentare stellt höchste Anforderungen an Witz und Prägnanz und es erfordert viel Kreativität, das Kommentieren so hinzukriegen, daß es paßt: das es sich nahtlos einfügt, die Stringenz eher erhöht statt stört, und daß es so sparsam eingesetzt wird, daß es das Stück nicht überfrachtet.

Leider nutzen die Regisseure ihre Kreativität eher dazu, den Wanderer auf Rollschuhen um Baucis herumkreisen zu lassen, die von einer jungen Frau im Hochzeitskleid gespielt wird (so geschehen in Weimar).

Stemann lud gleich Goethe persönlich mit seinem Faust-II-Team live auf die Bühne ein. Das war eine gute Idee. Aber offenbar hatten die keinen Bock, denn es kam nichts dabei herum. Außerdem würde Mephisto das viel unaufwändiger und eleganter hinkriegen. Und es gibt in dem Stück weiß Gott auch noch genug andere, die über das, was sie da machen, mal nen Ton mehr sagen könnten, als vorgeschrieben…

Wir Förderer des Faustischen

„Faustisch“ ist: Etwas ganz Tolles wollen aber es vermasseln, weil man es so toll findet, daß man sich nicht vorstellen kann, es einer Realitätsprüfung unterziehen zu müssen. (Faustische Verblendung).

Mit unsern Steuergeldern helfen wir, Menschen zu vertreiben. Die Weltbank möchte nicht rechtsverbindlich auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet werden und finanziert Faustisches: Projekte, die die Entwicklung eines Landes ganz toll vorantreiben sollen. – Blöd nur, daß die Einheimischen das nicht einsehen und nicht freiwillig dem Fortschritt weichen.

„Die Bank fördert nachweislich immer wieder große Projekte mit Milliardensummen, bei denen Polizei, Behörden oder Unternehmen der begünstigten Länder die Grundrechte der Betroffenen missachten.“ Im vergangenen Jahrzehnt seien „rund 3,4 Millionen Menschen gewaltsam und ohne ausreichende Entschädigung aus ihren Heimatorten vertrieben“ worden. (Tagesspiegel 23.10.15  S.15). –

„Das alte Wort, das Wort erschallt,
gehorche willig der Gewalt,
und bist du kühn und hälst du Stich,
so wage Haus und Hof und dich!“

So singen Mephisto und seine Spießgesellen nachdem sie die Einheimischen, die Faust zwangsumsiedeln wollte, umgebracht haben.

Die durch menschenrechtsignorierende Projekte erreichten Fortschritte sind offenbar Scheinfortschritte: UN-Sonderbotschafter Philip Alston gibt an, es sei „umfassend belegt, daß die Bekämpfung der Armut nicht funktioniere, wenn den betroffenen Menschen nicht ihre grundlegenden Rechte zugestanden würden“ (Tagesspiegel ebd).

Was hat unsere Vertreter so lange davon abgehalten, sich dafür einzusetzen, daß die von uns mitfinanzierte Weltbank sich an die Regeln hält? – Hoffen die alle auf die Erlösung durch die Muttergottes, wie sie Faust widerfuhr? Die gibt es nicht umsonst! Wer die will, der kriegt es mit den „Seligen Knaben“ zu tun! Die zwingen einen zur Einsicht in die eigene Blödheit… (Die seligen Knaben sind wißbegierig: „Denn dieser hat gelernt, er wird uns lehren“ erklären sie. Und sie wollen bestimmt mehr erfahren, als nur etwas über Mädchenverführung, Finanzmanipulation und Dammbau. Soche Themen werden sie vermutlich schnell langweilen. Sie werden bohrende Fragen stellen, sie wollen etwas darüber wissen, wie die Erwachsenen sich in die wirkenden Kräfte der Welt verstricken und was sie dagegen unternehmen können und warum sie diese Möglichkeiten so selten nutzen…)

(Allerdings gibt es Entwicklung: Laut Tagesspiegel unterstützt die amtierende deutsche Weltbank-Exekutivdirektorin Ursula Müller die Forderung nach einer „verbindlichen [d.h. einklagbaren] Verankerung der Menschenrechte“ in den Richtlinien der Weltbank. Der Prozess der Zivilisation schreitet voran. Das Faustische wird irgendwann zum Auslaufmodell… )

ARD, ZDF und Pegida

Sport, schmierige Sentimentatlität und dilettantische Schauspielleistungen: das füllt die größten Programmflächen von ARD und ZDF. Dilettantisch ist: wenn Schauspieler sprechen wie gecoachte Laien. Von einem Profi kann man mehr erwarten. Meine Erklärung für den Dilettantismus: Die Drehbücher sind miserabel, so was kann man wahrscheinlich nicht „echt“ sprechen, und die Produktionsbedingungen erlauben den Schauspielern keine Vorbereitung. – Von den wenigen Schauspielern, die unter diesen Bedingungen dennoch eine gute Figur machen, liest man, daß sie erfahrene und renommierte Theaterschauspieler sind. ARD und ZDF bringen solche Kunstfertigkeit offenbar nicht hervor. Aber genau das gehörte eigentlich zum Kulturauftrag…

Was hat das mit Pegida zu tun? – Wie kommen wir darauf, daß es spurlos an Menschen vorüber geht, wenn man sie täglich stundenlang schmierig-sentimentalen Schmonzetten aussetzt  mit dümmlich gekünsteltem Dilettantensprech? Der Realitätssinn verkümmert, Beschränktheit wird gefördert und Geschmacklosigkeit trainiert. Die Menschen können das Echte vom Unechten nicht mehr unterscheiden und das Wichtige nicht mehr vom Unwichtigen. Und sie orientieren sich in der Welt einseitig mit ihrem Gefühl und das ist dumpf und kitschig aber sie halten sich darauf was zugute. Es entsteht ein verzerrender Wirklichkeitssinn und ein nahezu infantiler Unwille, sich in Frage zu stellen.

Es heißt: Das Privatfernsehen sei noch viel schlimmer. – Wenn ich beim Konditor eine ganz besonders teure Torte bestelle und dann nur eine noch üppigere Portion aus Fett und Zucker kriege, mit dem einzigen Unterschied, daß Bio draufsteht – dann kann ich natürlich sagen: Immer noch besser, als wenn Pestizide und Schwermetalle drin sind. Ich kann aber auch sagen: Beschiß! Zucker bleibt Zucker und Fett Fett, da könnt ihr Bio draufschreiben soviel ihr wollt!