Welche Absicht verbindet Faust mit der Wette?

(Lesezeit: 12 Minuten)

Inhalt:
(1) Der Inhalt der Wette (Lesezeit 3 Minuten)
(2) Was hat Faust zu verlieren, wenn er die Wette verliert?  (Lesezeit 3 Minuten)
(3) Der Ausgang der Wette (Lesezeit 2 Minuten)
(4) Mißverständnisse bezüglich des Augenblicks (Lesezeit 2 Minuten)
(5) Diskussion anderer Deutungen (Lesezeit 2 Minuten)

 

(1) Der Inhalt der Wette

Die Wett-Formel:
„Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, so sei es gleich um mich getan. – Kannst du mich mit Genuß betrügen, das sei für mich der letzte Tag. – Werd ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön, dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehen. … Wie ich beharre, bin ich Knecht, ob dein, was frag ich, oder wessen.“

Der Dialog zwischen Faust und Mephisto könnte so zusammengefaßt werden:

Faust: Ich wette, ich bin nicht bestechlich durch schöne Augenblicke.

Mephisto: Das will ich schriftlich.

Faust: Du kapierst es nicht. Ich kann dir das gerne schriftlich geben, aber für mich ist das lächerlich. Mir geht es hier nicht um einen Deal, mir geht es ums Ganze! Wenn ich es nicht schaffe, meine Würde zu wahren und mich meinem Selbstbild gemäß zu verhalten, kann mir sowieso alles egal sein. Aber das können Teufel nicht verstehen, dazu sind sie zu beschränkt, ihr könnt bloß in den Kategorien Lust oder Frust denken. – Ich brauche dich nur, um zu beweisen, daß reife Menschen selbst unter extremsten Versuchungen ihre Würde dem Glück vorziehen, weil es ihnen um Glück nicht geht. Es geht ihnen darum, herauszufinden, was wir Menschen vom Dasein zu halten haben!

Mephisto: Vergiß es, Das habe ich in vielen tausend Jahren nicht geschafft, herauszufinden, was vom Dasein zu halten ist. Wenn selbst ich an dieser Frage noch kaue, habt ihr Menschen da nicht die geringste Chance.

Faust: Das wollen wir doch mal sehen! Ich will das ultimative menschliche Leben erleben, wie es unter normalen Umständen keinem Menschen möglich ist!“

Mephisto: Träum weiter, dafür bräuchtest du mehrere Leben und mehrere Persönlichkeiten.

Faust: Mist, ich fürchte, da hast du recht. Aber egal: ob ich nun beweisen kann oder nicht, daß das menschliche Leben selbst mit dem Erleben aller Schätze des Menschengeists nur scheitern kann, und ob ich dabei dem Unendlichen näher komme oder nicht, Hauptsache ist, daß ich allen zeige, daß hochgesinnte Menschen sich von keinem Glück der Welt von ihrem Bestreben abhalten lassen, Antwort auf die Frage zu finden, was vom Dasein zu halten ist und was die Würde unter den Bedingungen des menschlichen Daseins erfordert!“

Die Wette verloren hat Faust, wenn er sich vorstellen kann, daß irgendetwas es wert wäre, dem Streben nach Würde und der Beantwortung der Frage, was wir vom Leben zu halten haben, den ersten Rang streitig zu machen1.

Es ist keine Sportwette, wie: „Ich werde diese Strecke unter 60 Sekunden laufen!“, sondern eine Sachwette, wie die Kants: „so möchte ich wohl alles das Meinige darauf verwetten, daß es wenigstens in irgendeinem von den Planeten, die wir sehen, Einwohner gebe“ 2. Es geht nicht um die Stärke von Fausts persönlicher Selbstbeherrschung sondern um die Macht menschlicher Würde. Faust wettet: „Ich kann selbst der teuflischsten Bestechung widerstehen, weil das menschliche Gefühl für Würde so stark ist, daß wir uns von keiner noch so starken Lust auf Dauer davon abhalten lassen müssen, das Richtige zu tun!“

Die Wette ist allerdings auch eine vom Unbewußten raffiniert konstruierte Kompromißbildung: Faust lehnt das Streben nach Glücksgütern ab, doch hat sich durch die Wette ein Arrangement geschaffen, in dem er hemmungslos nach Glücksgütern aller Art streben darf – rein aus Forschungszwecken natürlich, um zu beweisen, dass keines der Glücksgüter es wert ist, sich damit aufzuhalten. Faust darf jetzt alle Spielarten des menschlichen Lebens erleben, ohne sich vorwerfen zu müssen, sich mit wertlosem Zeug abzugeben, denn er will ja, indem er sich damit abgibt, bloß beweisen, wie belanglos es im Verhältnis zur menschlichen Würde tatsächlich ist.

(2) Was hat Faust zu verlieren, wenn er die Wette verliert?

Welchen Sinn können wir heute mit den religiösen Vorstellungen von Seelenverlust und ewiger Verdammnis verbinden?

Die ewige Verdammnis ist der ultimative Shit-Storm. Es bedeutet: aus der Menschengemeinschaft als Ausschuß ausgeschlossen und allein zurückgelassen zu werden, endgültig, für immer, als letztes Wort. Den Verdammten wird abgesprochen, ein Mensch zu sein, der bei anderen ein Gefühl von Respekt, Zugehörigkeit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft auslöst. Stattdessen lösen sie nur Gefühle von Gleichgültigkeit, Verachtung, Empörung und Ablehnung aus. Und es ist völlig indiskutabel, auch bloß darüber nachzudenken, ob je wieder die Chance von Begnadigung und Vergebung eingräumt werden könnte. Sondern alle werden für immer ausschließlich und entschieden mit Abscheu und Ausstoßung reagieren. – „Aus dem Leben Gottes entfernt werden“ heißt es bei Augustinus, und bei Calvin: „von aller Gemeinschaft mit Gott abgeschnitten zu sein“ 3

Seelenverlust ist ein Sinnbild für das Gefühl, sich selbst untreu geworden zu sein, auf die eigenen Gefühle von Stimmigkeit und Unstimmigkeit nicht gehört und dadurch gegen das eigene Selbstbild grundlegend verstoßen zu haben. Sich nicht gemäß dem eigenen Selbstbild zu verhalten bedeutet: sich nicht selbstbestimmt zu verhalten sondern sich zum Knecht unserer Tiernatur zu entwürdigen. – Seelenverlust bezeichnet die Verzweiflung eines Menschen, der sich vor seinem Tod zugeben muß, daß er sein Leben in der Hauptsache selbstbezogen und sinnlos verbracht hat, daß er aus den eigenen Fähigkeiten nichts gemacht, dem eigenen Leben keinen Sinn gegeben und stattdessen das Leben vergeudet oder Anderen geschadet hat durch Rücksichtslosigkeit, Ausbeutung oder gar Bösartigkeit. Seelenverlust ist das Gefühl, daß das eigene Leben für alle anderen Menschen bedeutungslos und verachtens- oder gar verabscheuungswert war.

(Fausts Wette scheint ein Freibrief für Selbstbezüglichkeit zu sein. Doch für Faust ist sie nicht selbstbezüglicher als Sport oder Kunst: Er macht sich zum Testpiloten Gottes, um zu zeigen, was das Geschöpf Mensch alles „draufhat“.)

Sich dem Teufel zu übergeben bedeutet soviel wie: sich selbst entwerten, aufgeben, sich der Verzweiflung hingeben – z.B. in dem man sich nur noch betrinkt. Eine Art Seelenselbstmord. – Daß Faust bereit ist, sich dem Teufel zu übergeben, falls er seinem Selbstbild (sich nicht zu unwürdigem Verhalten bestechen zu lassen) nicht entspricht, ist ein Selbstbestrafungswunsch. „Dann will ich gern zugrunde gehen“ heißt soviel wie: dann habe ich nichts anderes verdient. – Faust hat ein überwertiges, unreifes Selbstkonzept, eine antiquierte Vorstellung vom „freien Willen“, von dem, was wir erreichen können, wenn wir uns bloß gehörig zusammenreißen.

(3) Der Ausgang der Wette

Faust stößt schließlich doch noch auf etwas, das die Leiden des Lebens mit den Ansprüchen seiner Würde so versöhnen kann, daß es Faust das Kopfzerbrechen über das Dasein entbehrlich macht: das Werk, das der Gemeinschaft nützt. Für dieses Werk will Faust keinen Ruhm, das wäre wieder tierisch, es kommt ihm allein auf die Tat an. Er hat den Sinn entdeckt, aber die Wette verloren.

Doch der Sinn läßt sich nicht in Fausts Spaltung des menschlichen Lebens in Bedürfnis und Bewußtsein einordnen: Sinn hat einen gewissen Genußanteil: Erfolgserlebnisse und Zufriedenheit, daher kann er schöne Augenblicke schaffen (wenn wir uns unserer sinnvollen Leistungen inne werden), aber eine sinnvolle Tat ist nicht bloß selbstbezüglich sondern auch für andere vorteilhaft. – Es wäre wenig sinnvoll, wenn Faust sich jetzt verdammen würde, weil er das Selbstbild hatte, mit nichts zufrieden sein zu können und nun doch damit zufrieden ist, daß er für andere Menschen etwas Bedeutendes geschaffen hat. Die Zufriedenheit mit einem guten Werk war zwar in Fausts Selbstbild nicht vorgesehen, ist aber in sein Selbstbild integrierbar. – Faust hat die Wette verloren, aber dennoch nicht grundsätzlich gegen sein Selbstbild verstoßen. Vermutlich meint Goethe das, wenn er sagt, der Teufel habe die Wette nur halb gewonnen.

(4) Mißverständnisse bezüglich des Augenblicks

Die Wette bedeutet nicht, daß Faust nicht genießen darf. Er darf sich bloß nicht durch den Genuß bestechen lassen, sein Bemühen um eine Antwort auf die Fragen, was er vom Dasein zu halten habe und was die Würde erfordert, zu Gunsten des Genusses zu vernachlässigen. Er spricht nicht davon, daß er sich nie auf ein Faulbett legen darf, er spricht nur davon, daß er sich nicht beruhigt darauf legen darf. Er hätte die Wette nicht verloren, wenn er sagen würde: Ach, laß uns noch ein wenig hier auf der Terrasse verweilen, es ist gerade so schön“. Sondern Faust wettet, daß er nie sagen wird: „das ist so schön, da verliert mein Streben nach einer Antwort auf die Frage, was wir vom Leben zu halten haben, völlig an Bedeutung! Und ich gebe diese Frage gerne auf, wenn dieser schöne Augenblick nie aufhört!“ Um die Wette zu verlieren würde es sogar schon reichen, zu denken: „Das ist so schön, ich finde es mindestens genauso wertvoll, wie meine Fragen und wäre gerne bereit, für das Schöne einen Kompromiß zu machen und der Beantwortung meiner Fragen weniger Raum einzuräumen, als ich einmal für notwendig erachtet habe.“

Oder meint Faust doch: jegliches Verweilen sei ihm verboten, nicht nur Verweilen auf Kosten des Richtigen? Spitzfindigkeiten sind hier wenig sinnvoll. Wir können die Wette allgemeiner fassen: Läßt er sich durch Genuß vom Tun des Richtigen abhalten, hat er verloren – nicht dem Buchstaben sondern dem Sinn nach: Versäumt er zuviel durch das Verweilen, entgehen ihm dadurch entscheidende Gelegenheiten oder Zeiträume weil er sich länger aufhält, als für den Lebensrhythmus erforderlich und für sein „Projekt“ verantwortbar, dann hat er verloren.

Was heißt überhaupt rastlos? Wieviel Lebensrhythmus, wieviel Wechsel von Anspannung und Entspannung, Anstrengung und Erholung darf sein? Faust darf nicht rasten in dem Sinne: daß er irgendwo länger verweilt, als unbedingt nötig um sich zu erholen oder Genüsse zu kosten. So verweilt er ja in der Szene „Wald und Höhle“ zum Genuß im Gebirge, das ist also erlaubt. Er muß sogar so lange verweilen, wie ein Genuß braucht, seine ganze bestechende Macht zu entfalten. – Er darf sich dann aber nicht länger damit aufhalten und Lebenszeit vergeuden.

(5) Diskussion anderer Deutungen

Faust wettet, daß Menschen – zumindest Menschen wie er („gute“ Menschen) Tat und Erkenntnis dem Genuß immer vorziehen werden und nicht glücklich damit würden, den höchsten Glückszustand festzuhalten, selbst den vollendetsten nicht!

Möglich ist auch folgende Auffassung: Egal wie wunderbar ein Augenblick sein wird, keiner wird völlig leidfrei ist, völlig frei von Beunruhigung, von Dissonanzen, Bekümmernis, Zweifel, Mitleid, Wissen und Trauer um das Leid der Welt, die Not anderer Menschen. Die Dissonanz im schönen Augenblick stachelt weiter zu Tat und Schaffen an. Wird Faust diese Dissonanz ignorieren, legt er sich beruhigt auf das Faulbett. – Und einen Augenblick ohne Dissonanz zu wünschen, käme ebenfalls einer Ignoranz der Not auf der Welt bei.

Eine weitere Lesart der Wette wäre:  Faust zweifelt, dass es einen wahrhaft erfüllten Augenblick im menschlichen Leben geben könne. Daher glaubt er, dass er darauf gefahrlos wetten kann . – Einen wahrhaft erfüllten Augenblick herstellen kann nur ein Gott, kein Teufel. Deshalb kann Mephistopheles gar nicht gewinnen4. – Diese Lesart hat den Nachteil, daß sie einen dummen Teufel voraussetzt. Freilich geht es ja bei dem Streben nach Vollkommenheit gerade um jenen „göttlichen“ Funken, den der Teufel nicht begreift und den der Teufel, laut Beschluß des Herrn im „Prolog im Himmel“, endlich mal begreifen lernen soll. Danach wäre das ganze Drama nur das Protokoll einer Nachhilfelektion für Mephisto. Auch eine interessante Lesart.

Schwerwiegender ist aber, daß Eibl´s Lesart der Wette nicht erklären kann, wieso Faust später sagt: „von Freud ist nicht die Rede… mein Busen … soll keinen Schmerzen sich verschließen… und am End auch ich zerscheitern“.

(Die Anmerkungen werden noch vervollständigt)

1 so auch Arens S.183
2 Kritik der reinen Vernunft B 853
3 Philosophisches Wörterbuch Bd. 11, S. 600
4 Eibl, … Das monumentale Ich  127f – Ein Aufsatz Eibls dazu ist hier lesbar.

Weiterlesen auf dem Faustpfad: Auerbachs Keller

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Mummenschanz: Beginn und Plutusszene
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Der Helenaakt – kommentierende Inhaltsangabe
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Faustische Verblendung (Faust und Sorge)
Epilog