„Wozu?“

Eine Erwiderung auf Herrmann Hesses „Indischen Lebenslauf“ 

von Daniel Seefeld. Geschrieben 2015. – Lesezeit 22 Minuten

 

Ein Volk war in 9 Königreiche zerfallen, bis einer der Könige die Gemeinschaft gleicher Herkunft beschwor, die andern Könige zur Unterordnung bewog und sich zum Kaiser ausrief. Durch eine weise Verfassung, die die Einheit des Ganzen mit der Eigenständigkeit der Teile verband, blühte das Reich auf, und nahm Generation für Generation an Reichtum und Stärke zu.

Gegen Ende dieser gesegneten Zeit wurden einem der Könige drei Söhne geboren: der erste als Thronfolger, der zweite als Oberster Priester, der dritte als Heerführer. Fünfzehn Jahre nach der Geburt des dritten Sohnes trug die Königin wieder ein Kind unter dem Herzen, in einem Alter, in dem es niemand mehr erwartet hätte.

In der Kaiserzeit glaubte man, die Seele eines Kindes käme erst nach dem dritten Monat in das werdende Leben. Dieser Glaube hatte dem Reich ermöglicht, den Abbruch von Schwangerschaften zu erlauben. Empfohlen war: keine Frau sollte vor dem 21. Lebensjahr gebären und keine mehr als vier Geburten haben. Das hatte zu Wohlstand und Frieden geführt.

Auch dem Königspaar wurde Abtreibung nahe gelegt, weil man, im Falle, daß es ein Junge würde, spätere Machtkämpfe befürchtete, denn für den vierten gab es kein machtvolles Amt mehr. Doch König und Königin waren sehr kinderlieb, sie brachten es nicht übers Herz, wegen eines nur gemutmaßten Übels die unerwartete Leibesfrucht abzutreiben. Sie meinten, im Falle, daß es ein Junge würde, gäbe es genügend Wege, Machtkämpfe unter den Brüdern zu vermeiden. – Es wurde ein Junge.

Die Mutter starb bei der Geburt und als der Knabe 9 Jahre alt war, starb sein Vater. Gemäß seiner Weisung wurde das Kind zu den „weisen Leuten“ gegeben: Paare jedes Standes, die neben ihrem Beruf ein Leben der Erkenntnis und Vervollkommnung geführt hatten, konnten sich ab dem 60. Lebensjahr in Klöstern Wissenschaft und Weisheit widmen. Sie wurden schwerer Arbeit enthoben, übten Besinnung, Gelehrsamkeit und Liebeskunst, und waren tätig als Lehrer und Ratgeber. Dorthin kam der Knabe, wie viele andere verwaiste Kinder auch.

Mächtige Horden aus den Weiten der Steppen begannen, das Kaiserreich heimzusuchen. Eine Zeit kriegerischen Grauens brach an. Der junge König und sein Bruder, der Heerführer, fielen in der endlosen Reihe der Schlachten. Dem Reich gelang es, die Horden zu zersprengen, ihre Anführer zu fangen und als Geiseln festzusetzen und so den Frieden wieder herzustellen. Doch das Reich lag verheert. In vielen Landstrichen waren seit Jahren immer wieder die Felder verwüstet und die Ernten vernichtet oder geraubt worden. Der Hunger hatte mehr Menschen getötet als der Krieg. Die Überlebenden waren entkräftet, tödliche Krankheiten breiteten sich aus. Sie machten vor den Palästen nicht halt. Auch der neue König, der dritte der Brüder, fiel ihnen zum Opfer.

Kem, der jüngste der Brüder, hatte die Zeit des Grauens fern ab des Geschehens verbracht. – Er war 19, als ihm die Königswürde angetragen wurde. Doch er hätte sie gerne jemandem überwälzt. Kem wollte ein Weiser und großer Liebender werden, ein Gelehrter und Ratgeber, kein Verantwortungsträger. Doch der Glaube der Menschen war stark, der Glaube an Blut und Vorsehung, und die Menschen waren entmutigt und verängstigt, und das machte den Glauben noch stärker. Es hieß, Kems Mutter hätte in ihrem Alter kein Kind mehr empfangen können, wenn es nicht der Wille des Himmels gewesen wäre, das königliche Geschlecht über die Zeit des großen Sterbens hinüber zu retten, um den Neuanfang in seine Hände zu legen. – Die Überlebenden bedurften der Hoffnung und des Trostes und beides fanden sie in dem Glauben an die himmlische Sendung Kems.

Kem, in der Lehre der Weisen erzogen, glaubte nicht an diese Sendung. Er hatte gelernt, daß es eine Anmaßung sei, den Willen des Himmels in irgendetwas erkennen zu wollen. Die Weisen glaubten: Die Prüfung des Himmels liege darin, dem Menschen sein Schicksal auf Erden zu überlassen um es ohne Hilfen des Himmels meistern zu müssen.

Um den Menschen aber nicht die Hoffnung zu nehmen, um nicht die Gefahr heraufzubeschwören, daß sie in schlimmerem Glauben Heil suchen würden, folgte Kem dem Rat der Weisen und wurde König.

Zur Sicherung des Friedens hatte der Kaiser empfohlen, möglichst viele Ehen zu schließen zwischen Söhnen und Töchtern der Bedeutenden des Reiches und Söhnen und Töchtern aus den Häuptlingsfamilien der Horden. Kem war einer der wenigen, der sich an diese Empfehlung hielt. Die meisten brachten es nicht über sich, die Feindschaft abzulegen, außerdem galten ihnen die Hordenmenschen als hager, häßlich und primitiv.

Kem dagegen sah an den Fremden nicht das Fremde sondern das verwandte. Und das Selbstbewußtsein in den zierlichen, hochstrebenden Gestalten der jungen Hordenfrauen faszinierte und entzückte ihn.

Sein noch unerfahrener Sinn für Charakter wurde unterstützt von den Weisen, die in den Gesprächen mit den jungen Frauen beiläufig erkannten, wie stark Bestrebungen ausgeprägt waren über Macht und Status hinaus. So kam Kem von seinen Reisen zu den Horden mit Gaiva zurück, einer jungen Frau, wie er schöner und charakterstärker im Kaiserreich keine gefunden hätte. Er war da 20 und sie 18.

Obwohl Kem als weltfremd erzogener und unerfahrener junger Regent viel nachzuholen hatte und das Reich zerstritten war, sorgten die Weisen dafür, daß die jungen Liebenden viel Zeit miteinander verbringen konnten. Das waren ihre wunderbarsten Jahre.

Für das Volk war die neue Königin ein Schock. Doch weil die Menschen an die himmlische Bestimmung ihres Königs glaubten, waren sie bereit, die Heirat für richtig zu halten. – Der Kaiser aber sank durch seine Empfehlung noch weiter in der Gunst von Adel und Bürgern.

Dabei war es seiner Regierungs- und Kriegskunst zuzuschreiben, daß das kaiserliche Herr gut ausgestattet und ausgebildet gewesen war, und so gut geführt, daß selbst in den größten Wirren die zerschlagenen kaiserlichen Haufen wieder zusammen fanden und immer erfolgreich Widerstand geleistet hatten. Ohne die sinnreichen Einrichtungen des Kaisers wäre das Reich von den zahlenmäßig weit überlegenen Horden überrannt worden. Doch man verargte es dem Kaiser, daß er sich vom Kriegsgeschehen in eine weit abgelegene, reich ausgestattete Bergfestung zurückgezogen hatte, statt das Leid seines Volkes zu teilen.

Kem aber hielt zum Kaiser. Er sah es so, daß der Kaiser als das Haupt seines Volkes besonderen Schutz verdient gehabt habe. Und Kem hatte insofern Recht, als das Können des Kaisers, die Zweckmäßigkeit seiner Anordnungen, die nie ausgeblieben waren, das Reich zusammengehalten und gerettet hatten. – Doch die Menschen sahen nur, daß er sich abgesetzt und sie allein gelassen hatte. Und sie hatten insofern Recht, als manche Neuordnung von zerschlagenen Truppenteilen, mancher Feldzug und mancher Rückzug besser gelungen wäre, wäre der Weg zum Kaiser kürzer gewesen, hätte er riskiert, näher am Geschehen zu bleiben.

Der Autoritätsverlust des Kaisers wog um so stärker, als die Autonomie der Könige durch die Kaiserferne erstarkt war, die Könige waren zu oft auf ihre eigenen Entscheidungen angewiesen gewesen. So drohte das Reich jetzt zu zerfallen.

Der Kaiser rüstete gegen die Abtrünnigen. Doch selbst die getreuesten Könige waren kriegsmüde, ihre Völker murrten, und einige versagten dem Kaiser die Gefolgschaft. Sie sahen nicht ein, daß nur ein erneuter Krieg das Reich wieder einigen könne. Der Kaiser schaffte es nicht, ein Heer aufzustellen.

Außer Kem ordneten sich nur noch drei weitere Könige dem Kaiser unter. – Kem hatte kein Bestreben, sein eigener Herr zu sein. Er fand das frühere Kaiserreich zweckmäßig eingerichtet, und fragte, was die anderen Könige sich davon versprachen, sich anders einzurichten. – Er wurde verspottet als altkluger Besserwisser, als des Kaisers Musterknäbchen, als weltfremder Klosterzögling, als Karrierist, Feigling und wenig mannhaft.

Die abtrünnigen Könige gestalteten ihre Reiche nach eigenem Gutdünken. Aber es waren keine neuen Ordnungen, die dadurch entstanden, sondern ältere, vor-kaiserliche Ordnungen, Gesetze und Glaubensvorstellungen gelangten wieder auf den Thron: Abtreibung wurde verboten. Es hieß, das Kaisertum habe sich frevelhaft am ungeborenen Leben vergangen und das Volk werde jetzt befreit von der widernatürlichen Gängelung der Fruchtbarkeit des Leibes.

Als der Kaiser starb, stellte sein Sohn auch im Restreich Abtreibung unter Strafe. Er ließ verkündigen: Um das Großreich wiederherzustellen, sei es nötig, die Geburtenrate zu steigern, bevor man gegen den Kinderreichtum der Abtrünnigen keine Chance mehr habe. – Doch damit verstieß er nicht nur gegen das ausdrückliche politische Testament seines Vaters, sondern auch gegen den Willen der kaisertreuen Könige und des Volkes. Man war der Auffassung, es müsse auch andere Wege geben, sich zu behaupten, als Soldaten zu züchten.

Mit der Annullierung des Kaisertestaments durch den Thronfolger sahen sich die Bedeutenden des Restreichs nicht mehr der kaiserlichen Dynastie verpflichtet. Es kam zum Umsturz. Der mächtigste König übernahm die Kaiserkrone, und es wurde festgelegt, daß die Thronfolge künftig nicht mehr blutsverwandtschaftlich festgelegt sein, sondern von den höchsten Fürsten per Wahl entschieden werden sollte.

Kem war 42, als die erste Wahl auf ihn fiel, weil er sich bewährt hatte in der Lösung schwerer Konflikte, so daß die meisten Fürsten sich allseitigen Gewinn von seiner Wahl versprachen.

Kem wollte den alten Anspruch des Kaiserreiches nicht aufrechterhalten, sondern die Autonomie der Abtrünnigen anerkennen und das Restreich in einen Königsbund umbenennen. Er argumentierte, es könne dadurch nichts verloren gehen, weil die Rückkehr der Autonomen in den Bund in keiner Weise behindert würde, im Gegenteil, die Autonomen behielten ihre freie Entscheidung und könnten ihr Gesicht wahren. Doch die anderen Könige widersprachen ebenso heftig wie einmütig. Kem entschied sich, nachzugeben, der Frieden in den Herzen der Verbündeten schien ihm wichtiger als die Versöhnungsgeste für die Abtrünnigen.

Dem Restreich kam zugute, daß die abtrünnigen Königreiche zerstritten waren, untereinander um Gebiete kämpften, und, als die Bevölkerungszahl sich mehrte, die friedlich gewordenen Horden angingen, um sie zu unterwerfen, denn die Horden lebten großzügig und weit verstreut und die autonomen Könige hießen es eine Sünde, die Erde so ungenutzt zu lassen, und leiteten daraus ab, gegen die Horden alle Rechte zu haben.

10 Jahre nachdem Kem die Krone des Restreichs angenommen hatte, hatte der mächtigste der Autonomen, König Drass, sein Reich weit in die Steppen hinein vergrößert, die Horden teilweise ausgerottet, teilweise verjagt, teilweise als Knechte für seine Bürger und als Krieger verdingt. Er hatte zunächst in Personalunion, dann durch Vereinigung zwei weitere der fünf autonomen Königreiche unter seine Herrschaft gebracht und die übrigen Könige zu willfährigen Vasallen degradiert.

Das Restreich hatte sich in all diesen Jahren gut entwickelt. Der Wohlstand der Vorkriegszeit hatte sich wieder eingestellt. – In den neuen Königreichen dagegen war die Bevölkerungszahl explodiert. Es zeichnete sich ab, daß die neuen, den Horden abgerungenen Gebiete, bald zu klein sein würden. Immer mehr Familien lebten an der Grenze zum Hunger. Ohne die Einfuhr von Getreide aus dem Restreich hätte es Not gegeben. – König Drass sah die Zeit reif werden für einen lang gehegten Plan: Nach seinen Regeln das Kaiserreich wiederherzustellen und den Grundstein dafür zu legen, es mächtiger zu machen den je, durch Unterwerfung der Nachbarvölker.

„Wozu?“, hatte ihn Kem auf einem Treffen der Könige mal gefragt, darauf hatte Drass bloß gezischt: „Du Memme!“

Aber die einmal Kems Mund entsprungene Frage konnte Drass damit nicht aufhalten. Sie verschwand ins Volk und pflanzte sich fort, vielfach, aus jedem Mund, der sie aussprach. Die Münder konnte Drass töten, dem Wort kam er nicht bei, und das Wort fürchtete er mehr, als alle Schwerter des Kaisers.

Drass begann, Kem zu hassen, und der Haß wurde um so stärker, je öfter Drass merkte, daß selbst bei ihm das „wozu?“ seine anfängliche Nichtigkeit verlor, daß es ihn öfter heimsuchte, morgens, im Dämmer zwischen Schlaf und Wachheit. Das hatte dieses Omasöhnchen, dieses Klostergezücht also vermocht: ihm, König Drass, einen memmenhaften Keim einzupflanzen, der nicht auszutilgen war!

Drass ließ Witze über den „Restreichkaiser“, wie er ihn nannte, ausstreuen: Was habe der neue Kaiser mit einem Hurensohn gemeinsam? Den Verhütungsfehler.

Spottverse gingen um: „Der Mönch auf dem Thron ist einer Oma ihr Sohn“. „Wenn Kaiser Hordentöchter freien, dann kann nur Sünd und Schand gedeihen.“

Dazu peitschte Drass den Zorn seiner Untertanen an, in dem er die Weizenimporte so darstellte: Im Kaiserreich würde Unzucht getrieben und Massenmord an ungeborenem Leben verübt, und mit der auf diese Weise durch Laster, nicht durch Verdienst erreichten überschüssigen Frucht der Felder würde Wucher getrieben, indem die Not der Himmelstreuen ausgenutzt werde. Der Reichtum des Restreichs basiere auf der Plackerei der Menschen in den Neuen Königreichen. Himmelstreue, Gehorsam und Fleiß hier förderten Faulheit, Laster und Sünde dort.

Drass sammelte seine Truppen.

Nach tagelangen Besprechungen mit allen Mächtigen und Weisen beschlossen Kem und seine Könige, dem Heer der Autonomen keinen Widerstand zu leisten. Das Heer des Restreichs war zwar besser ausgebildet und bewaffnet, aber zahlenmäßig weit unterlegen, so daß ein langer verheerender Krieg zu erwarten war, mit ungewissem Ausgang.

Doch dann ließ Drass verkünden: Würde es Krieg geben und er den Sieg erringen, würden alle Ärzte und Hebammen, die Abtreibungen vorgenommen hätten, als Massenmörder gesteinigt. Und alles Eigentum von Familien, in denen Leibesfrucht gemordet worden wäre, würde der Krone anheim fallen, und als Leibesfruchtmörderin gelte jede Frau, die ab ihrer Verheiratung nicht alle zwei Jahre eine Geburt gehabt habe.

Dennoch versuchte Kem, den Verzicht auf Verteidigung durchzusetzen. Er fürchtete, daß nach den Nöten und Grausamkeiten eines verheerenden Krieges das Martyrium der Ärzte und Hebammen und die allgemeine Enteignung doch kommen würden. Und er erklärte, es könne ein besserer Weg gefunden werden, Ärzte und Hebammen zu schützen, und Enteignung sei ein kleineres Übel als Verheerung. Aber das Volk rebellierte gegen seine Entscheidung und verlangte, daß er das Heer mobilisiere oder abdanke.

Kem, unsicher, wie die Erwägungen mit den Mächtigen und Weisen ausgehen würden, hatte im Geheimen seine Truppen längst mobilisiert, und schlug für alle völlig überraschend los. In diesem Vorgehen hatte er die einzige Chance gesehen, einen Krieg zu führen, der nicht von vorn herein aussichtslos war. Er überrumpelte das Heer der Autonomen und schlug es in die Flucht. Mit einem Sieg nach dem andern trieben Kems Meisterkrieger Drass‘ Truppen vor sich her.

Gefragt, warum er sich darüber nicht freue, verwies Kem auf das Kommende: Drass hob immer neue Truppen aus, immer jüngere Männer bis hinunter zum 16. Lebensjahr, halbe Kinder, kaum ausgebildet und schlecht ausgerüstet, aber zu tausenden, abertausenden. Und zu tausenden, abertausenden fanden sie auch den Tod. Hohe Wälle von jungen Toten säumten Kems Weg.

Doch Sieg für Sieg blutete auch Kems Truppe immer mehr aus und keine Seite vermochte, eine Entscheidung herbeizuführen. Der Krieg dauerte länger und länger, Jahr für Jahr wurden die Felder verwüstet, immer mehr Menschen starben Hungers. Um den Krieg endlich zu beenden, überzeugte Kem den Klan seiner Frau, in den Krieg einzugreifen. Doch die Horden waren unter sich zerstritten, und Drass gelang es seinerseits, Horden für seine Zwecke zu gewinnen.

Das Kriegsende wurde durch das Nachbarreich herbeigeführt, das die Schwächung der Streitenden ausnutzte, und große Teile der verfeindeten Bruderreiche besetzte. Der Nachbar sicherte Kems Reich Autonomie und seiner Familie Schutz zu, wenn er sich ihm ergebe. Das Volk, kriegszermürbt und der Sorge vor Enteignung enthoben, sperrte sich nicht. So zog Kem seine Truppen ins Restreich zurück und ergab sich dem Nachbarn.

Doch dieser hatte im Geheimen mit Drass verhandelt: ihm versprochen, sich aus dessen Reich zurück zu ziehen wenn Drass ihm das Restreich überlasse.

Und er hatte versprochen, Kem und seine Familie auszuliefern.

Kem wurde von Drass vor einer Menge ausgesuchten Volkes verhöhnt und verurteilt als Besserwisser und Scheinheiliger, der in lächerlicher Selbstüberschätzung einen Angriffskrieg vorbereitet habe, und sich dann, als er sah, keinen Sieg erringen zu können, nicht ehrenhaft um Frieden bemüht, sondern mit dem Erzfeind verbündet habe, mit den Wilden, die das Kaiserreich einmal beinahe in den Untergang gestürzt hätten. Kem habe sich von Anfang an gesperrt gegen die Freiheit der Brüdervölker vom Kaiserjoch, er habe stattdessen die natürliche uralte Weisheit des Volkes weiter unterdrückt und länger als 20 Jahre den Massenmord an Ungeborenen gefördert. Er habe alle Rechte der Menschlichkeit verwirkt, das denkbar härteste Urteil sei noch zu gnädig für ihn.

Zunächst wurden Kem und Gaiva und ihren Söhnen und Schwiegertöchtern vor den Augen der Menge die Zungen herausgeschnitten, damit sie sich nichts mehr zurufen konnten.

Dann wurden die beiden Enkel, 18 und 14 Monate alt, an den Beinen genommen und mit den Köpfen gegen einen Stein geschlagen. Entgegen der ausdrücklichen Weisung des Königs legte der Henker soviel Kraft in den Schlag, daß die Kinder sofort tot waren.

Dann wurde Gaiva vor den Augen der Menge entwürdigt.

Dann wurden die Köpfe der Söhne und Schwiegertöchter in Säcke gehüllt, die am Hals zugebunden wurden. Man kündigte ihnen ihre Enthauptung an. So ließ man sie sitzen, vereinzelt, weit entfernt voneinander. Es kamen Trommler und Tänzer und unterhielten das Volk. Am Mittag wurde das Volk gespeist, danach ging das Fest weiter. Am späten Nachmittag wurden die jungen Männer und Frauen enthauptet.

Dann wurde Kem vor der jolenden Menge entmannt. Dann wurden ihm Haar und Bart ausgerissen und auf Stirn, Schädel und Wangen wurde ihm das Brandzeichen des Königs  gedrückt.

Dann wurde Gaiva vor Kems Augen gefoltert. Keinen Laut ließ sie vernehmen, bis die Schergen mit Feuer kamen. Es dauerte lange, bis Gaiva das Bewußtsein verlor und ihre Schreie erstarben.

Das Geräusch der aufschlagenden Kinderköpfe und Gaivas Schreie brannten sich in Kems Seele ein.

Die Schergen sagten zu Kem: Sie würden Gaiva wieder aufwecken, und entweder er erwürge sie dann eigenhändig, oder sie würden ihr weitere Verbrennungen zufügen, und zwar so, daß sie nicht daran stürbe, und dann würde sie in einen Schacht eingemauert, so eng wie ein Sarg, dort werde sie einen langen qualvollen einsamen Tod sterben. Wenn er sich aber entscheide, seine Frau zu erwürgen, müsse er es tun, ohne einen Laut von sich zu geben, und seine Hände dürften nur ihren Hals umfassen und seine Augen nicht blinzeln, sonst stürbe Gaiva den langen Tod.

Kem sah, wie sie Gaiva weckten und zu ihr sprachen. Dann führten sie ihn zu ihr. Kem mußte alle Kraft darauf verwenden, sich vor Augen zu führen, welch ein Tod Gaiva erwarte, wenn er sie nicht erlöse. Er erhoffte, in ihrem Blick noch ein Einverständnis zu finden, ein Zublinzeln, eine letzte Verbindung. Doch als er ihr den Hals zudrückte, starrte sie ihn an mit einem entsetzten, ebenso haßerfüllten wie verachtenden Ausdruck, als sei er ein Teufel.

Als Gaiva tot war, verkündete der Herold, man hätte Kem und Gaiva Gnade vor Recht ergehen lassen wollen, man hätte beide gesund pflegen und ihnen in einem Kloster die Chance zur Buße geben wollen. Aber Kem habe die Prüfung nicht bestanden. Man habe Kem gesagt, er würde genauso gepeinigt wie seine Frau, es sei denn, er würde seine Frau umbringen. Der feige Kem habe lieber seine Frau umgebracht, aus Angst vor Schmerzen. Man habe Gaiva, als sie erwachte, über die Prüfung Kems informiert. Mit seinem Verrat habe er Gaiva das Schlimmste angetan, um Gaiva Willen sei er keiner Gnade mehr würdig.

Sie hackten Kem Stück für Stück den rechten Arm ab und das linke Bein. Dann stachen sie ihm das rechte Auge aus und schnitten das linke Ohr heraus. Ein Auge und ein Ohr sollte er behalten, damit Spott und Schmähung ihm nicht entginge. Dann banden sie ihn an den Schandpfahl auf dem Markt. – Am Abend brachten sie ihn ins Verließ. Sie pflegten seine Wunden, damit er nicht stürbe. Vier Wochen lang gab es täglich einen Triumphzug, auf dem Kem in schmachvoller Haltung gebunden vorgeführt wurde. Allerdings verloren die meisten Menschen nach einigen Tagen die Lust daran.

Kem wußte in dieser Zeit nicht, ob er wache oder träume, ob er lebe oder schon tot sei.

Nach den Wochen der Schmähung blieb er im Kerker. Man sagte ihm, er würde am Leben erhalten, er müsse sich seinen Tod erst verdienen. Zu den vier größten Festtagen im Jahr würde er wieder vorgeführt: zur Sommer- und Winterwende, zur Feier seiner Niederlage und zum Geburtstag von Kaiser Drass.

Kem glaubte nicht, daß man ihn am Leben halten könne. Aber er täuschte sich.

Doch in dem Maße wie Schock und Schmerz nachließen, begann es, daß Gaivas Schreie ihn folterten, wie Stiche mit glühenden Dolchen. Dann kam das Geräusch der aufschlagenden Kinderköpfe dazu, dann Gaivas Blick, als sie glaubte, von dem Gefährten, mit dem sie verbunden war durch begeisterte Liebe und gemeistertes Leben, von diesem Gefährten aus Eigennutz und Feigheit verlassen, verraten und ermordet zu werden. Und es kam hinzu der Anblick der gefesselten, von einander, von den Eltern und von der Gemeinschaft der Menschen isolierten Söhne und Töchter, wie man sie auf ihre angekündigte Enthauptung warten ließ.

Als Kem merkte, daß er an den Wunden nicht sterben würde, glaubte er, an diesen Erinnerungen zu sterben, die sich ihm fast sinnlich aufdrängten. Als er daran nicht starb, verweigerte er Nahrung und Flüssigkeit. Doch sie flößten sie ihm ein und banden ihn auch im Verließ fest, damit er den Kopf nicht anschlagen konnte. Als er das nächste Mal an den Schandpfahl gebunden wurde, wurde er verhöhnt: er sei zu feige, sich umzubringen, und ziehe ein Leben in Schande, Entwürdigung und Elend dem Tod vor.

Nach einigen Jahren wurde Kem darüber unterrichtet, was aus seinem Reich geworden war. Alles, was er vom alten Kaiserreich zu bewahren versucht hatte, war verschwunden. Statt dessen gab es zwei konkurrierende Großmächte, die mit Terror und Spitzelei aus den Bürgern Sklaven gemacht hatten. Schriften, die vom alten Reich kündeten, waren bis in die fernsten Winkel der bekannten Welt aufgespürt und verbrannt worden. Und Geschichten davon durften bei Todesstrafe nicht erzählt werden.

Die Bilder der Erinnerung suchten Kem heim, Tag für Tag, und bereiteten ihm solche Qualen, daß er sich immer wieder wunderte, daran nicht zu sterben.

Sein Geist aber entfaltete ungefragt ein paralleles Leben: Alles, was er je verstanden und erkannt hatte, aus Lehre, Gespräch, Besinnung und Erfahrung, kam ihm zu Bewußtsein. Es fing an mit Gedanken, was er hätte besser machen können. Er lernte, sich zu verzeihen, in dem Maße, in dem er die Wahrscheinlichkeit seiner Fehler immer besser verstand. Aus diesen Gedanken erwuchsen Ideen, wie ein Reich besser eingerichtet werden könne, um sich gegen Bedränger zu wehren. Oder wie es sich geordnet ergeben und seine Weisheiten gegen alle Verfolgung bewahren könne, wie ein Samen, der sich verkapselt gegen den Frost. Und es entwickelten sich Vorstellungen, wie mit Bedrängern zu reden möglich sei und zu verhandeln. Kem erreichte eine Klarheit über das Mögliche, die ihn immer mehr in Erstaunen versetzte.

Doch er konnte nicht reden und nicht schreiben. Nur ein Holznapf und ein Holzlöffel waren die Ausstattung seiner Zelle. Damit konnte er nicht mal Zeichen im Stein hinterlassen. – Mit seiner Speise schrieb er die Worte auf den Boden: „Ich kann euch helfen“. Aber der Kerkerknecht lachte nur, er konnte nicht lesen.

Kem hoffte, der Knecht würde jemanden holen, der Lesen könne, und schrieb die Buchstaben immer wieder neu. Doch der Knecht holte keinen. – Kem biß einen Splitter aus dem Löffel, ritzte sich und schrieb mit Blut auf Stein. Der Knecht lachte wieder, untersuchte die Wunde, aus der Kem sein Blut nahm, und da er sie harmlos fand, ließ er Kem gewähren. Jedes Mal, wenn Kem die Wand voll geschrieben hatte, schabte der Knecht alles wieder weg.

Mehr und mehr gelang es Kem, alles, was sich begeben hatte, in immer weiteren Zusammenhängen zu sehen, die ihm ermöglichten, das Unerträgliche besser zu tragen – aber ohne es sich mit Fantasien über den Willen des Himmels erträglicher zu lügen, ohne sich damit zu trösten, daß das Leid schon seinen Sinn haben und im Jenseits belohnt werden würde.

Nein, Kem ertrug das Leid, indem er es in seiner Unerträglichkeit erhielt. So sehr es auch quälte: es war ihm heilige Pflicht geworden, das unfaßbare Leid nicht zu verharmlosen, ja, er hatte gebangt, daß die Gewohnheit ihn abstumpfe, und er hatte Techniken entwickelt, das Leid zu erhalten, damit es nichts von seiner Bedeutsamkeit verliere, damit keine Illusionen darüber möglich würden. – Nur wer sich keine Illusionen machte, war in der Lage, das Grauenhafte stärker anzufeinden als je, und alle Kraft darein zu legen, kompromißlos Vorkehrungen gegen die Heraufkunft des Grauens zu entwickeln.

Von seinen Erkenntnissen kündete Kem wieder und wieder in immer wohlüberlegteren Worten mit seinem Blut auf dem gehauenen Fels, doch der Knecht schabte die blutgeschriebene Kunde immer wieder weg.

Kem hoffte, daß irgendwann der Sinn der Gefängniswärter sich wandeln würde. Es war Kem unvorstellbar, daß die Worte, die aus den Qualen seiner Lieben erwuchsen, nicht in die Welt gelangten, Worte, die dazu beitragen konnten, so viel Leid zu verhindern! Es würde möglicherweise Jahrhunderte brauchen, bis andere Menschen auf ähnliche Ideen kommen würden.

Ja, aber früher oder später würden andere Menschen darauf kommen! – Diese Gewißheit war erleichternd. Wenn Kem niedergeschlagen war, und nahe daran, aufzugeben, richtete dieser Gedanke ihn auf: daß es nicht auf ihn ankomme, daß irgendwann alles, was der Knecht hier von der Wand tilgte, von zukünftigen Menschen erkannt und verbreitet sein würde. – Dann aber dachte Kem wieder daran, daß durch seine Worte vielen viel früher viel Leid erspart werden könnte, und die Vorstellung wurde ihm erneut unerträglich, daß Gaivas und der Kinder Martyrium sinnlos bleiben sollten.

Oft dachte Kem an seine Jugend mit Gaiva, wie sie in einsamen Palästen am Meer alle Wunder der Liebe erlebt hatten! Doch wie vergiftet war diese Erinnerung! Das Schönste seines Lebens gab es für Kem nicht mehr ohne Grauen und Schmerz. – Und schmerzhaft war auch die Sinnlosigkeit dieses Reichtums seines Herzens: Alle Menschen, denen er dankbar von den Wundern des Lebens gekündet hatte mit seinen Worten und durch seine Taten, alle waren tot, und jede weitere Kunde wurde unterbunden.

Eines Tages öffneten statt des Knechtes wilde Gestalten die Tür. Sie zerrten Kem ans Licht und stießen ihn vor dem Kerkertor in die Gasse.

Trotz der beißenden Kälte war es ihm Luxus, noch einmal das volle Tageslicht zu erblicken, noch einmal weiter als zwei Beine weit zu sehen und einen schnellen Tod zu haben. Doch hätte er gerne auf diesen Luxus verzichtet, denn der Tod machte alle Hoffnung zunichte, seine Ideen zu verbreiten. Nie war der Blick ins Auge des Todes bittrer gewesen: Jetzt war alles vorbei, selbst die winzigste Chance, dem Leid seiner Familie noch Sinn abzugewinnen. – Kem wunderte sich: Er hatte geglaubt, den Tod zu kennen. Doch nie hatte er eine solche Angst erlebt wie jetzt: die Angst zu sterben, ohne den auferlegten Aufgaben gerecht geworden zu sein. Er hatte das Gefühl, an dieser Angst zu ersticken.

Kem bemerkte nicht die mitleidigen Blicke und daß jemand zu laufen begann. Erst als sie ihn auf einen Wagen hoben, merkte er, daß man auf ihn aufmerksam geworden war, aber er wußte nicht, ob im Guten oder zu neuer Qual.

Er wurde in einen Viehstall gebracht. Als man sah, daß er bei Bewußtsein war, fragte man ihn, wer er sei und was ihn in den Kerker gebracht habe. Kem zeigte seinen zungenlosen Mund und machte Schreibbewegungen. Doch sie verstanden ihn nicht. Man sagte ihm, sie könnten ihn nähren, wenn er mit der einen Hand arbeiten könne. Es fand sich wirklich eine Arbeit für eine Hand, die seinen Wirten ermöglichte, ihn zu pflegen.

Kem erfuhr, daß die Horden wieder zu wandern begonnen hätten. Diesmal hätte sie nichts aufgehalten. Und es seien immer neue, immer andere Horden gekommen. Man habe erfahren, daß ein fernes großes Reich die Horden immer weiter vor sich her treibe. Das Kaiserreich und seine Nachbarreiche seien schnell zerfallen, denn sie hätten jahrelang im Krieg miteinander gelegen, die Heere seien ausgeblutet gewesen und ganze Regionen verhungert, die Reiche hätten den Horden nichts mehr entgegen zu setzen gehabt.

Kem erfuhr auch, daß man sich erzähle, Chaos und Not seien nur deshalb über die Reiche gekommen, weil der feige Möchte-Gern-Kaiser Kem in dümmlicher Vermessenheit einen Krieg angezettelt habe, und als er zur Verantwortung gezogen werden sollte, habe er, um seiner Strafe zu entgehen, seine Frau erwürgt, und damit gegen den Himmel gefrevelt und dessen Zorn heraufbeschworen auf das ganze Reich.

Nach Wochen des Bangens und der Hilflosigkeit, Kem war schon nahe daran, zu verzweifeln, gelang es ihm, sich verständlich zu machen. Ein Mönch kam mit Schreibzeug. Kem schrieb, daß er viel Hilfreiches wisse und aufschreiben könne. Die Mönche holten Kem ins Kloster.

Nie hatte Kem ein größeres Gefühl der Dankbarkeit für das Himmlische erlebt! Er sah seine Gewißheit nicht getäuscht: daß seine Botschaft zu wichtig sei und ihr Wert durch das Martyrium seiner Familie zu hoch, als daß seine Gedanken mit ihm umkämen. Was die größte Not nicht geschafft hatte, schaffte der Dank: ihn beten lehren. – Kem schrieb. Es störte ihn wenig, daß keiner der Mönche etwas davon las.

Weiterhin blieb sein Leben überschattet von den quälenden Erinnerungen. Doch die Qualen zu ermessen um davon zu künden, das war es, was er noch für seine Familie tun konnte.

Da erschien eine Horde Wilder. Sie verbrannten vor den Augen der Mönche die Bücher und Schriften des Klosters und setzten das Kloster in Brand. Kem sah seine Kunde ungelesen in Flammen aufgehen. Die Mönche wurden als Sklaven weggeführt und Kem sollte erschlagen werden. Kem sah erneut dem Tod ins Auge, bis der Abt sich für Kem einsetzte und sein Leben für das Kems anbot. Da wurde ihnen gestattet, Kem auf einem Ochsenkarren mit sich zu nehmen.

Kem faßte erneut Hoffnung und teilte dem Abt auf einem Fetzen Papier mit, im Geiste arbeite er weiter an seinem Werk, und er sei zuversichtlich, an einem anderen Ort erneut beginnen zu können. So zogen sie drei Tage umher. Am vierten Tag warfen die Wilden ihre Felle ab, Soldatenröcke kamen zum Vorschein. „Das Spiel ist vorbei“ sagte der Alte, den Kem für den Abt gehalten hatte. Er war ein hoher Offizier. Er informierte Kem, wie Drass verfügt habe, über seinen Tod hinaus Kem mit Enttäuschung zu quälen. – Sie warfen Kem in den Schnee und verschwanden. Wölfe heulten in der Nähe.

Kem mußte plötzlich lachen: Welchen Aufwand hatte Drass betrieben, um sich zu rächen! Wie gekränkt und verunsichert mußte er gewesen sein! – Doch Gaiva und die Kinder kamen Kem schnell wieder in den Sinn: Wenn der Himmel schon zuließ, daß Unschuldigen solches Leid zugefügt werde – wie konnte er zulassen, daß es sinnlos blieb?

Kem fühlte sich vom Himmel genarrt. Was wollte der Himmel mit ihm? Wollte er ihn Demut lehren? War Kem zu hochmütig gewesen mit den Vorstellungen seiner Jugend, ein großer Weiser zu werden, Vorstellungen, die ihn nie wirklich verlassen hatten? Wollte der Himmel Kem zeigen, wie wenig es auf ihn ankomme? Und läge darin nicht dennoch eine Gnade: daß der Himmel ihm die Vision einer reifen Menschheit ermöglicht hatte, eine Vision der Möglichkeiten, die einstmals der Rohheit entwachsen würden?

Wie gut, wie verführerisch gut wäre es, glauben zu können, daß das alles schon einen Sinn habe, daß nur die Menschen sich nicht anmaßen dürften, die Wege des Himmels zu verstehen!

Doch irgendwann hatte Kem im Kerker erkannt: Es ist nicht ausgeschlossen, daß es das Himmlische nur in unserer Vorstellung gibt und alles Leid sinnlos ist.

Doch diese Möglichkeit ist unsere größte Chance. Denn nur diese Möglichkeit zeigt das Leid in seiner wahren, seiner unerträglichen Bedeutung, nur diese Möglichkeit verhindert falschen Trost, nur diese Möglichkeit wird dazu führen, daß den Menschen irgendwann die Augen aufgehen und sie erkennen werden, was Krieg und Grausamkeit wirklich bedeuten, das ganze Ausmaß ihrer Grauenhaftigkeit und Narrheit: daß Menschen für unsinnige Ziele sich gegenseitig unfaßbares Leid zufügen, Leid ohne Sinn und Lohn, statt gemeinsam den Reichtum der Freuden zu genießen.

Erneut verlor Kem fast die Fassung, als ihm noch einmal aufging, daß sein Werk spurlos vergehen würde, sein Ringen um den Sinn der Leiden seiner Familie.

Doch er raffte sich auf, um nichts ungenutzt zu lassen, nicht das Geringste und Unwahrscheinlichste, er tastete nach Steinen unter dem Schnee, so groß, wie er heben konnte, und legte sie zu den Worten zusammen:

Glaubt nicht!

Ein Geräusch heftiger Bewegung ließ ihn aufschauen – er sah kraftvolle schöne Tiere.

 

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