Mozart und Goethe gegen Klimawandel?

Eine Idee zur Argumentation des Sozialpsychologen Harald Welzer – Lesezeit 3 Minuten

Das Mißverständnis über klassische Kunstwerke, sie seien ganz schwer, spielt dem Aufmerksamkeitsmarkt in die Hände; und er verfestigt es noch durch die von ihm trainierte Kurzatmigkeit der Rezeptionsfähigkeiten.

Das, was es statt der großen Kunst gibt, hat fast ausschließlich zu tun mit Ressourcenverbrauch und immer mehr Resourcenverbrauch, und noch weit schlimmer: mit Ausbeutung von Menschen bis hin zu Rohstoffkriegen: Ob Reisen, ob netzbasiertes endloses Schauen oder Beschallen, oder die energie- und rohstoffintensiven Status- und Zugehörigkeitssymbole wie Schmicke, Smartphones, Klamotten, Autos. (Mehr dazu bei Welzer S.79.)

Kann die Förderung der Rezeption klassischer Kunstwerke einen Beitrag leisten zur Entwicklung alternativer Formen kultureller Praxis die unsere Lebensweise nachhaltiger machen?
Das klingt nur deshalb realitätsfern, weil wir uns alles Ungewohnte nur schwer vorstellen können. Wir werden durch die Kultur, in die wir hineinwachsen, geprägt, ohne daß uns das bewußt wird. Unsere Vorstellungen vom Menschsein, von der Welt, unsere Werte, Wünsche, Interessen und Lebensgewohnheiten: alles fühlt sich völlig selbstverständlich an, so, als könne es nichts anderes geben, das sich genauso gut und richtig anfühlen würde. Es ist sogar derart selbstverständlich, daß uns unmittelbar gar nicht klar ist, was daran alles sinnvoll hinterfragbar wäre. Bei uns wächst jedes Kind in eine Welt „voller Autos und Bildschirme“ hinein (Welzer, 14ff).

Diese eingelebte Praxis bestimmt mehr über unser Leben, als uns bewußt ist und unser Selbstbild gerne hätte: Wir reagieren in unseren Lebensvollzügen quasi reflexhaft mit Gefühlen, Wünschen und Verhalten. Bewußt stoppen können wir das meist nicht, weil uns gar nicht bewußt ist, das da etwas reflexhaft abläuft und auch andere Reaktionen sinnvoll wären. „Das allerwenigste von dem, was wir tun, verdankt sich bewußter Entscheidung, das allermeiste ist voreingestellt durch die materiellen und kulturellen Gegebenheiten, die die Welt bilden, in der man existiert“ (Welzer 81).

Wegen dieser Macht des Eingelebten hält Welzer es für vergeblich, eine Veränderung der kulturellen Praxis durch Problembewußtsein anzustreben: Das Unbehagen, das entstehe, wenn man gegen sein Problembewußtsein verstoße, sei leicht zu bewältigen: „Gründe gibt es immer und sie kosten nichts“ (79f). „Einsicht dringt meist nicht bis zum Verhalten vor, weil Verhalten nicht aus Einsicht entsteht (82).

Wir müssen davon ausgehen, daß wir die Veränderung unserer weltzernutzenden Lebensweise durch „Bewußtseinsbildung“ allein nicht hinkriegen, „sondern nur durch eine sich verändernde Praxis“ (86), d.h. wenn wir attraktive Formen alternativer kultureller Praxis entwickeln, die unmittelbar anschlußfähig sind an das Gewohnte und es ergänzen und erweitern. So könnte eine Veränderung unserer Lebensweise möglich werden, die nicht auf moralische Disziplin angewiesen ist.

Attraktivität hat viele Parameter. Das sei schlaglichtartig am Unterschied der Romane von Stephen King und Josef Conrad veranschaulicht: King lese ich öfter und ich habe mehr Vorfreude darauf, aber hinterher meist unangenehme Leeregefühle. Conrad ist anstrengender aber bereichernder: die Nachwirkung ist stärker und hört nie auf. „Lord Jim“ oder „Herz der Finsternis“ gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Doch es hat alles seine Zeit: nach einem anstrengenden Arbeitstag ist das Trivialere das Bessere, am Wochenende das Anspruchsvollere. – Nicht jeder Spaziergang kann eine Gebirgswanderung sein. Aber wie arm wäre ein Leben, das nie aus seinem Kiez herauskommt! Doch genau so verhält es sich mit dem geistigen Leben der meisten Menschen.

Die Attraktivität klassischer Kunstwerke liegt darin, grandiose Unterhaltung mit Erlebnisreichtum und Bedeutung zu verbinden. – Ich möchte nicht mehr ohne Beethoven und Bach leben, das wäre wie den Rest des Lebens nur noch schmacklosen Haferbrei essen zu dürfen. Doch außerhalb des Bildungsbürgertums ist das Bewußtsein für den Reichtum, den klassische Kunstwerke in unser Leben bringen, so gut wie nicht vorhanden. Die meisten sagen: „Beethoven? Interessiert mich nicht“. Sie sind wie Leute, die noch nie im Gebirge waren, aber zu wissen glauben, wie wenig faszinierend sie himmelhohe Felswände finden werden.

So ein Desinteresse an faszinierenden Landschaften ist durch die Naturdokus im Fernsehen selten geworden. – Für die klassischen Kunstwerke gibt es jedoch keine vergleichbaren Interessenwecker. – Mit Naturdokus kann man nicht viel falsch machen, weil wir von Natur aus einen Sinn für Landschaften haben. Die Kunst, Kunst zu vermitteln, muß dagegen erst noch entwickelt werden. Was es bisher gibt, ist dilettantisch. Da wird nicht Beethovens Musik interessant gemacht, sondern seine Person. Oder es werden nicht die Werke eines Malers besprochen sondern über seine heimliche Geliebte spekuliert. Nichts darf sein, was es ist, es muß immer mit Unterhaltung verbunden werden.

Das gilt längst auch für die Kunstwerke selbst: Aus Bildern von van Gogh werden Shows gemacht; die Johannespassion wird getanzt. Das ist wie eine degenerierte Ernährungskultur, in der die Leute nichts mehr runterkriegen, was nicht üppig mit Zucker und Fett versetzt ist. – Und es gilt selbst für Natur: In die Alpen reist man nicht wegen der Aussicht sondern wegen der Pisten. – Ein Waldstück mit alten Buchen in einem Berliner Naherholungsgebiet, ein kleiner Märchenwald, wurde zum Kletterpark vernutzt. Meine Partnerin, die dort seit 20 Jahren lebte, hat fast geheult.

Kurzweil statt Bedeutung, Sensation statt Erlebnis, Spiel statt Faszination. Außerhalb ihrer Berufstätigkeit werden immer mehr Menschen infantilisiert (von Max Weber voraussehen: „Genußmenschen ohne Geist“). Die Erlebnisfähigkeit nimmt ab. – Und allem Vergnügen ist gemeinsam, daß es CO2-intensiv ist, für die persönliche Weiterentwicklung wenig bringt und Investoren großen Reibach damit machen.

Wir brauchen eine Kunstfertigkeit, auf packende Weise vorstellbar zu machen, welche spezielle Faszination von großen Kunstwerken ausgeht, und wie ihr Bedeutungsgehalt unser Leben und unsere Selbsterkenntnis bereichert – und daß sie Gehalt mit bester Unterhaltung verbinden: Beethoven und Bach sind Rhythmus pur und Goethes Faust überall da, wo es nicht Tragödie ist, Kabarett vom Feinsten.

Es geht darum: der Attraktion von besinnungsunterbindender Reizüberflutung eine Menge Wind aus den Segeln zu nehmen durch die Attraktion besinnungsanregender Erlebnisse und Erlebnisweisen; die Vergnügungsseligkeit zu ergänzen durch Erlebnisfähigkeit. Es wäre bereits etwas gewonnen, den Leuten eine Ahnung davon zu vermitteln, wie schade es wäre, im Leben vor lauter Vergnügen zu wenig erlebt zu haben. Das könnte ein Beitrag sein, die kulturelle Gegenbewegung zu den gängigen besinnungslosen und weltvernutzenden Lebensvollzügen zu stärken.

Lit: Welzer, Harald, Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens, Frankfurt a.M. 2021

Weiterlesen: Initiative zu Entstaubung klassischer Kunstwerke

Link zum Wikipediaartikel über Harald Welzer

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