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Zur Vorgeschichte des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien: Der Roman „Verlorene Schlacht“ von Milovan Djilas

Milovan Djilas (1911 – 1995) setzte sich als marxistischer Revolutionär in seiner Jugend für ein Jugoslawien ein, in dem Nationalitäten keine Rolle spielen. Dabei blieb ihm Haft und Folter nicht erspart. – Im 2. Weltkrieg war er Partisanenführer. – Nach dem Krieg wurde er einer der Ranghöchsten in der Führungsspitze der kommunistischen Partei. Doch er fand Vieles nicht in Ordnung. Seine Kritik an der Partei (er schrieb ein Buch „Die neue Klasse“) brachte ihm erneut viele Jahre Haft ein.

Mit „Verlorene Schlacht“ hat Djilas offenbar den Roman der Geschichte seiner Familie geschrieben, seiner Großelterngeneration. Es geht um die Kämpfe der Montenigriener und ihrer serbischen Nachbarn gegen die zum Islam konvertierten Serben im türkisch kolonisierten Teil Serbiens in der Zeit um 1880.

Kaum jemand scheint sich heute (2025) noch für die Wirren und Greuel des serbischen Bürgerkriegs vor 30 Jahren zu interessieren. Auch hier scheint die „Erinnerungskultur“ schwach. – Djilas Roman läßt die Vorgeschichte des größten Kriegsverbrechens in Europa nach dem 2. Weltkrieg aufleben.

Als ich den Roman aufschlug erinnerte ich mich mit Schaudern: Eine Altenpflegerin, mit der ich als Hilfskraft Anfang der 90ziger Jahre des letzten Jahrhunderts zusammenarbeitete, war Montenegrinerin. Sie war stolz darauf, daß ihr Freund überlegte, nach Serbien zurückzukehren um im Bürgerkrieg gegen die serbischen Moslems zu kämpfen. „Das sind alles Verräter“ schimpfte sie, „die haben mit den Türken gemeinsame Sache gemacht!“ – Mehr als 100 Jahre nach dem Geschehen, das Djilas in seinem Roman dokumentiert! – Ein paar Jahre später fand der Völkermord an über 8000 serbisch-muslimischen Männern in Srbrenica statt. –

Djilas Roman schildert eine Form der Zivilisation, die es an vielen Orten der Welt gab und immer noch gibt: Bauern in abgelegenen Gebirgsregionen, die niemanden interessieren. – Die Schilderungen erinnerten mich stellenweise an isländische Sagas. Eine Dokumentation, die ich auf Arte gesehen hatte, über das Leben von norwegischen Bauern vor dem 2.Weltkrieg, halfen mir, die Schilderungen Djilas noch lebendiger zu erleben.

Ehre, Stolz, Streben nach mehr wirtschaftlichem Erfolg, Solidarität mit der Sippe: rechtfertigt das Krieg, Leid und Tod? Die Sippe, die Djilas beschreibt ist gespalten: die einen wollen ein friedliches Auskommen unter dem Türkenjoch, so bescheiden wie auch immer, wenn es nur friedlich ist; andere erleben es als unerträgliche Kränkung, Leibeigene der Türken und der zum Islam konvertierten Serben zu sein, die mit den Türken gemeinsame Sache machen; wieder andere stören sich bloß daran, daß die Abgabenlast ihnen keine wirtschaftliche Entfaltung ermöglicht.

„Die Leute aus Plav [dem Gebiet der islamischen Serben] glaubten, daß die Montenegriner das Böse seien, das man ausrotten müsse, und die Montenegriner dachten dasselbe von ihnen“ (256f).

Djilas stellt diesen Konflikt dar, nimmt aber dazu nicht Stellung. Doch obwohl Djilas selber als Partisanführer gegen die Nazis gekämpft hat, und obwohl er die Hauptpersonen seines Romans zu Befürwortern der Revolte macht, wirkt Djilas Darstellung der Konfliktproblematik auf mich so (möglicherweise durch meine Voreingenommenheit), als ob er eher auf der Seite derjenigen steht, die trotz allem den Frieden wollen.

Überraschend ist, daß Djilas nach zweihundert Seiten die Perspektive wechselt und die Welt der islamischen Serben beschreibt, überraschend um so mehr, als er dabei höchst einfühlsam die Perspektive zweier pubertierender Mädchen aus der streng traditionellen islamisch geprägten Lebensform einnimmt und sich mit ihrer Perspektive aufs Leben und auf ihre Welt identifiziert zeigt.

Heute gilt das den literarischen Tugendwächtern als absolutes empörendes NoGo: Ein alter Weißer Mann schreibt aus der Perspektive zweier Mädchen aus einer traditionellen islamischen Kultur!

Doch die Tugendwächter haben nicht mal halb recht. Sie unterstellen immer, jemand, der soetwas macht, behaupte damit: „So denken und fühlen diese Menschen, ich habe mich damit ausgiebig beschäftigt, ich kann das jetzt beurteilen!“ – Aber die Perspektive einer anderen Kultur und eines anderen Geschlechts zu fingieren ist keine Behauptung! Es ist einerseits nicht mehr, als der Versuch, mit den Mitteln, die einem akutell zur Verfügung stehen, der fremden Kultur und dem anderen Geschlecht so gerecht wie provisorisch möglich zu werden. Andererseits ist es ein heuristischer Kunstgriff, um zu der eigenen Kultur eine Distanz zu bekommen. Dahinter steht nicht mehr und nicht weniger als die Frage: „Wie kann ich das, was mir selbstverständlich geworden ist, hinterfragen? Wie kann ich mir vorstellbar machen, daß andere Menschen genau das gleiche Gefühl von Selbstverständlichkeit ihrer Werte haben?“

Die Perspektive zweier heranwachsender junger Frauen ermöglicht Djilas, Stärken und Schwächen der islamischen Kultur vorstellbar zu machen. Und in ihrer naiven Romantisierung von Krieg und Heldentum zeigt Djilas ein nahezu anatomisches Verständnis der Bedingung der Möglichkeit von Kriegen: Die jungen Frauen wissen von den gegenseitigen Übergriffen, Vergewaltigungen und Massakern, die schon damals immer wieder die verfeindeten Volksgruppen gegenseitig aneinander verübten. Und das macht ihnen auch Angst. Doch es führt auch dazu, daß sie sich ihre zukünftigen Männer als Helden vorstellen und vom Krieg schwärmen. „Alle haßten und verfluchten den Krieg, aber in allen schwelte eine versteckte Sehnsucht nach ihm“ (212).

Das gibt Djilas Gelegenheit, am Ende des Romans durch die Schilderungen der Greuel und Absurditäten des Bürgerkriegs zu zeigen: Jeder, der Krieg gut findet ohne je Krieg erlebt zu haben, lebt hinter dem Mond.

Lit: Djilas, Milovan, Verlorene Schlacht, Molden Verlag Wien, München Zürich 1971 (nur noch antiquarisch erhältlich) 

Link zum Wikipedia-Eintrag zu Milvan Djilas

Link zur Erinnerung an das Massaker von Srebrinica

Zu einer anderen „Bürgerkriegsgeschichte“ unseres Autors Daniel Seefeld geht es hier

Über diese Website

Lesezeit: 7 Minuten

2024 reichte ich meine Website beim Grimme-Online-Award ein. Ich hoffte, es wenigstens auf die Nominierungsliste zu schaffen. – Der folgende Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des Bewerbungsanscheibens.

(1) Geschichte

(1.1) Die Interpretationen

Am Anfang stand ein Party-Gag, als ich auf einer Party spontan Verse aus „Faust“ rezitierte, die mir aus der Schule in Erinnerung geblieben waren. Der Gag wurde der volle Erfolg. – Nach Jahren wollte ich das noch großartiger wiederholen und steckte meine Nase nochmal in das abgegriffene Heftchen aus der Schulzeit, um nach weiteren Versen Ausschau zu halten, die vergägt werden konnten.

Das hätte ich besser gelassen, denn diesmal packte es mich. Obwohl mir die Person Goethe nie besonders sympathisch war, wollte ich von seinen Versen immer mehr auswendig wissen. – Das ist schon Klasse: In Winternächten am Ostseestrand einsame Wanderungen zu machen, und dabei hemmungslos „Faust“ zu rezitieren!

Jetzt wollte ich mehr, als nur einen Gag. Ich ließ mich von einem Profi, der unter Peter Stein gespielt hatte, coachen und führte in Freundes- und Bekanntenkreisen sowie auf Open-Stage-Veranstaltungen selbst erstellte Soloadaptionen von Teilen aus Faust I und II auf. (Mehr war geplant, aber dazu hatte ich zuwenig Ehrgeiz und zuviel zu tun.)

Die Website war ursprünglich als Interpretationsservice für meine Gäste gedacht. Sie ging 2008 ans Netz.

Meine Auftritte stellte ich 2014 aus Zeitgründen ein, aber an den Texten arbeitete ich weiter, ich fand es spannend, über dieses Schlüsselwerk unserer modernen Zivilisation lebendig und verständlich zu schreiben ohne inhaltlich trivial zu werden.

(1.2) Die Bürger-Medienrat-Initiative

Geschichten zu erzählen ist seit Menschengedenken eine Form, Probleme des menschlichen Lebens zu reflektieren und zu bewältigen. Das macht das Theater zur „moralischen Anstalt“ (Schiller), die den geistigen Reichtum der Kultur unter die Leute bringen soll. – Fernsehen ist Theater in moderner Form und für die meisten Menschen die einzige Form.

Ich fragte mich, warum ein Land, das den „Faust“ hat, keine bessere Fernsehspielkunst entwickelt, eine Kunst, die – wie z.B. in der Serie „The Wire“ – Unterhaltung mit Gehalt so gut zu verbinden versteht, daß es keinen drastischen Konflikt zwischen Quote und Qualität geben muß. – So kam es zu meiner Beschäftigung mit dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk.

Ich lernte mehr über Möglichkeiten und Grenzen institutionellen Handelns. Mir wurde klar, daß wir Bürger unsere Institutionen besser unterstützen müssen, statt uns von ihnen bedienen zu lassen und dann über sie zu meckern, wenn sie uns nicht das Gewünschte auftischen. Bestätigt fühlte ich mich durch einen Aufsatz von Elitz und Stammler vom Deutschlandfunk, die einen zivilgesellschaftlichen Diskurs über die Qualität öffentlich-rechtlicher Medien anregten. Das fand ich überzeugend und entwickelte meine Idee, wie wir Bürger das selbst in die Hand nehmen können, statt darauf zu warten, daß uns institutionelle Möglichkeiten dafür eingeräumt werden. – Darauf gab es bisher noch keine Resonanz. Immerhin erhielt ich auf meine „offenen Fragen“ Rückmeldungen von Intendantin Carola Wille, Justiziar Hermann Eicher und Ex-Programmchef Günther Struwe.

(Link zur Bürger-Medienrat-Initiative)

(1.3) Die Netzschrifteninitiative

Die dritte Entwicklungslinie der Website entstand durch Goethes Idee von „Parallelgeschichten“: Geschichten, die sich gegenseitig „bespiegeln“ und auf diese Weise interpretieren.
Ich bat daher auf meiner Website um Geschichten zu Themen aus dem „Faust“.

Aus diesen Geschichten entstand die Idee der „Netzschrifteninitiative“.

(Link zur  Netzschrifteninitiative)

 

(2) Mitarbeit

Von Beginn an war ich offen für Mitarbeit. Ich bin aber Einzelkämpfer geblieben, unfreiwilligerweise.

Rike, meine Lebensgefährtin, ist meine „Auditorin“. Ich muß ihr alles vorlesen, alles darf nur durch ihre Ohren ins Netz. Und sie ist eine waschechte Berliner Schnauze, die nimmt kein Blatt vor den Mund: „Völlig unklar!“ – „Das interessiert doch keinen!“ – „Viel zu lang, ich bin längst ausgestiegen!“ – „Dröge!“ – „Versteh ich nicht.“

Rike ist schlimmer als mancher Lektor! – Urteilen Sie selbst, wie meine Texte davon profitiert haben!

Fidelia Jung, der Web-Designerin meiner Web-Site verdanke ich ebenfalls viel.

 

(3) Begründung für die Einreichung meiner Website beim Grimme-Online-Award

(3.1) Die bedeutenden klassische Kunstwerke, die zum Faszinierensten gehören, das je von Menschen geschaffen wurde, sind ein zivilisatorisches Potential, das durch die Hypertrophie medialer Angebote mehr und mehr verdrängt und verkannt wird, und nur noch von Bildungseliten ermessen werden kann. Dabei haben diese Monumente der Menschheit eine große Bedeutung für der Erhaltung und Entwicklung unseres zivilisatorischen Niveaus.

Die bisherigen Wege, Kultur zu vermitteln, sind unzureichend: zu dröge oder zu trivial.

Meine Website regt ein Kulturnetz an, in dem viele daran mitarbeiten können, mit frei zugänglichen optimal geeigneten Beiträgen die Zugänge zu den Monumenten zu erleichtern und attraktiv zu machen, Zugänge, die für alle begehbar sind und irgendwann – wie Wikipedia – immer nur ein Klick entfernt. – Dazu ist z.B. erfordert, daß Kommentare keine Mühe bereiten sondern Vergnügen, aber so, daß Gehalt und Prägnanz nicht im geringsten darunter leiden. (Dazu mehr in der neuen Inititativenidee zur Entstaubung klassischer Kunstwerke.)

(3.2) Meine Website nutzt eine Möglichkeit des Internets, die unspektakulär ist und soweit ich sehe noch kaum im öffentlichen Bewußtsein: Das Netz hat Zeit. Das macht unabhängig von schnellem Erfolg. Es eröffnet die Möglichkeit, Ideen jenseits von Mode und Media zu entwickeln, und ohne Druck und Stress in die Öffentlichkeit zu bringen nach dem Schneeballprinzip und unter dem Motto der Leute, die die Sümpfe urbar machten: „Den ersten der Tod, den zweiten die Not, den dritten das Brot“.

Auf diese Weise könnte auf Dauer ein bekannter Ort im Netz entstehen mit attraktiven, frei zugänglichen Sammlungen von Essays und Erzählungen, die qualitativ hochwertig sind wie von den besten Verlagen, aber von Leuten geschrieben, die keine Profis sind.

(3.3) Darüberhinaus bietet die Website eine neue Idee von Bürgerbeteiligung, bei der alle mitmachen können, die mehr wollen, als bloß ihre Meinung bestätigt fühlen. Meine Texte, Rechercheergebnisse und „Offenen Fragen“ zu ARD und ZDF bieten einen ersten modellhaften Entwurf, wie so eine neuartige Form der Beteiligung aussehen könnte.

Der Ausgang meiner Bewerbung: 

Eigentlich war es klar, daß so eine Nischenthema-Website mit nur Text und ohne spektakuläre digitale Mittel keine Chance hatte, nominiert zu werden. 

Dennoch war meine Bemühung nicht umsonst: Ich kann nur dazu raten, sich zu bewerben. Es ist ein gutes Mittel, das eigene Projekt noch mal mit andern Augen zu reflektieren. Außerdem wirken die Leute vom Grimme Award sehr einladend. 

Hier der Link zum Grimme-Online Award: https://www.grimme-online-award.de

Einer der Preisträger von 2024 ist mir wichtig hier zu verlinken: https://atlas.lastseen.org/