Die Straße (Uckermärkische Fantasie)

(Lesezeit: 7 Minuten)

Nach dem Mittagessen brach ich auf zu einer kaum befahrenen kleinen Straße, die weite Blicke über die Landschaft versprach. Bis zum nächsten Dorf waren es etwa 5 Kilometer. – Es war ein sonniger aber nicht heißer Sommertag und eine Herde sanfter Wolken schenkte von Zeit zu Zeit etwas Schatten.

Kurz hinter dem Dorf kam mir ein Trekker entgegen. Der Landarbeiter hielt an, und von seinem hohen Sitz herunter fragte er: „Wie weit wollen Sie denn gehen?“

„Bis zum nächsten Dorf „, antwortete ich, „ich liebe einsame Landstraßen, mit Blick in die Weite!“

Der Arbeiter nickte: „Die Straße sollten Sie aber besser nicht gehen, die geht hier keiner, hier wird immer nur gefahren“, sagte er.

„Ach, das ist interessant“, erwiderte ich, „gibt es hier irgendwelche Gefahren?“

„Weiß ich nicht“, der Arbeiter wirkte plötzlich kurz angebunden, „kann ich Ihnen nicht sagen, ich weiß nur, hier geht keiner, hier sind mal Leute weggekommen, seitdem geht hier keiner mehr, fahren geht, selbst mit Fahrrad, dabei passiert nichts, aber gehen tut hier keiner mehr, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Leute weggekommen? Wann? Öfter?“, fragte ich dümmlich.

„Paar Jahre ist das jetzt her, das letzte Mal, seitdem geht hier keiner mehr.“

„Na, ich geh erstmal ein Stück“, meinte ich, und der Arbeiter nickte und fuhr weiter.

Die reifen Kornfelder, die Wiesen, auf denen Kühe im Schatten vereinzelter Baumgruppen grasten, die Tümpel und wilden Sümpfe in den Niederungen: die weite Landschaft tat mir gut! – Die Erde und die Tiere mögen uns Menschen, sie lassen sich von uns pflegen und sind freigiebig mit ihrer Fruchtbarkeit. – Wohin mein Blick auch fiel: überall zeigte sich unser sinnvolles Walten und Gestalten. Und die gelassenen Schwünge der Hügel ließen die Macht erahnen, die uns auf ihrer Haut gewähren läßt.

Mit jedem Schritt mußte ich mehr über den Bauern schmunzeln: Entweder die Dörfler waren abergläubisch oder sie wollten die Touristen foppen! – Ich hatte jahrelang in einem Dorf gelebt, ich wußte, daß die Landleute nicht gerne zu Fuß gehen. Für meine zweistündigen Abendspaziergänge wurde ich belacht: daß jemand freiwillig zwei Stunden zu Fuß geht, konnten sie nicht nachvollziehen. Die Allee hinter dem Dorf bis zur ersten Biegung mit dem Hund mal hin und hergehen, ja, aber freiwillig 10 Kilometer, jeden Abend?

Ich finde den gleichen Weg zurück nie langweilig, meist hat man noch einmal ganz andere Ausblicke. Diesmal war ich besonders angetan vom Rückweg: aus der umgekehrten Perspektive sah die Landschaft so aus, als wäre ich hier noch nie gewesen!

Etwa eine halbe Stunde nach meiner Umkehr stutzte ich jedoch: Ich hatte bisher noch nichts von dem wiedererkannt, an dem ich auf dem Hinweg vorbeigekommen war! Ich maß dem wenig Bedeutung bei, vielleicht irrte ich mich. Doch mein Bewußtsein war geschärft, und eine viertel Stunde später fragte ich mich ernstlich, ob ich aus Versehen irgendwo auf eine Abzweigung geraten war, ohne es zu merken, ob ich mich verlaufen hatte.

Doch das war ein freudiger Gedanke: Es würde abenteuerlich und überraschend werden! Zudem war ich gut mit einer Wasserflasche ausgestattet, aus der ich noch kaum getrunken hatte. – Meine Familie war von mir solches spontanes Ausbrechen aus den Tagesplanungen im Urlaub gewöhnt, sie würden mir nicht böse sein. Zwar konnte sie meine Rückkehr nur abwarten, weil die ganze Gegend hier ein Funkloch war, aber auf soetwas waren sie eingestellt, Urlaub hieß für uns: Emanzipation von Plänen und Gewohnheiten, Zulassen spontaner Impulse, sich verleiten lassen, gehenlassen.

Etwas irritiert war ich allerdings, als sich mir auf einem Hügel eine Aussicht bot, die nicht mit dem, was ich aus der Karte erinnerte, übereinstimmte: Ich sah, soweit ich sah, nur Landschaft, und zwar in alle Richtungen – kein einziges Dorf, auch nicht in der Ferne, kein vereinzeltes Haus, keinen Kirchturm! – Allerdings konnte ich den Blick nicht mit der Karte abgleichen, ich hatte sie zu Hause gelassen, ich wollte ja bloß die Straße hin und zurück wandern.

In der Ferne entdeckte ich einen anmutigen kleinen See mit hohen Bäumen umgeben. Da ich mich sowieso auf das Abenteuer eingelassen hatte, folgte ich dem einladenden Ausblick.

Das Wasser des Sees war glasklar. Es gab einen vermoderten Holzsteg und daneben ein halb zerfallenes Boot. Ein schlecht vergrabener Plastikabfall, auf dem noch ein aktueller Sonderangebotsaufkleber klebte, verriet, daß kürzlich noch jemand hier gewesen sein mußte. Aber jetzt war ich allein. – Der See war so einladend! Ich tummelte mich lange in dem überraschend kalten Wasser, legte mich danach in die Sonne zum Aufwärmen und dämmerte ein wenig.

Als ich wieder wach wurde, fühlte ich mich erfrischt. – Mein Landschaftserleben war gesättigt und ich beschloß, jetzt nur noch konsequent den Weg nach Hause zu suchen. – Ich ging den Weg zurück, den ich gekommen war, irgendwann müßte ich ja an den Abzweig kommen.

Erneut erkannte ich die Landschaft auf dem Rückweg nicht wieder, doch führte die Straße wieder über den Hügel, auf dem ich den See entdeckt hatte. – Aber diesmal sah ich keinen See!

Ich ertappte mich dabei, zu erwägen, querfeldein Richtung Dorf gehen zu wollen. Normalerweise latsche ich den Bauern nicht über die Felder. An meiner Bereitschaft, das jetzt aber zu tun, konnte ich ablesen, daß ich trotz der Freude über die Landschaft genervt war. Die Straße kam mir jetzt vor wie eine klebrige Zunge.

Aber meine Wasserflasche war noch fast voll und von den harten Vollkornbrotkanten und drei Äpfeln, die ich für alle Fälle mitgenommen hatte, hatte ich noch nichts angeknabbert, was sprach also dagegen, mich weiter auf das Abenteuer einzulassen! Ich war gespannt, wo die Straße mich hintrug und freute mich schon darauf, zu Hause auf der Karte meinen Weg nach zu verfolgen.

Doch meine Beunruhigung nahm zu. Irgendetwas fühlte sich unrichtig an und alle bisherigen Erklärungsversuche überzeugten mich nicht wirklich. Ich rief mich zur Vernunft: Möglicherweise war ich unaufmerksam gewesen, möglicherweise hatte ich nicht richtig geschaut oder mir war irgendetwas entgangen! In jedem Fall: es gab definitiv kein Problem, das mich in irgendeiner Weise beunruhigen mußte! Die Uckermark ist keine Wüste! Vielleicht gibt es mal im Umkreis von 20 Kilometern kein einziges Dorf – obwohl: wenn das im Umkreis unseres Ferienortes der Fall gewesen wäre, wäre mir das beim Studium der Karte aufgefallen.

Aber selbst wenn ich mich verirrt hatte: ich konnte sicher sein, in ein bis zwei Stunden auf eine bewohnte menschliche Behausung zu treffen! Zumal ich ja an Kuhwiesen vorbeikam und an abgestellten landwirtschaftlichen Maschinen, die offensichtlich noch in Betrieb waren! Und die Kühe waren zutraulich wie überall, und ließen sich dankbar ein paar saftige wilde Meerrettichblätter von jenseits ihrer Koppel zustecken.

Ich ging also weiter, immer wieder erfreut von Ausblicken in die anmutige Landschaft. – Als die Abendstimmung begann, einen neuen Zauber über die Hügel zu legen, wurde mir doch etwas mulmig: So dünn besiedelt kann die Uckermark dann doch nicht sein, daß Leute einen halben Tag wandern können, ohne auf ein Dorf zu treffen!

Ich kam vorbei an einer alten zerfallenen Bahnstation, auf denen die verwilderten Graffitis der Dorfjugend blühten. Doch von einer bewohnten menschlichen Behausung war weit und breit nichts zu sehen.

Von den Schildern, die den Bahnübergang anzeigten, war eines abgefallen, das andere verbeult und verblichen, hielt aber noch die Stellung. – Ich überlegte, ob ich nicht lieber über die zugewachsenen Schienen gehen sollte, doch nach einigen Schritten wurde das Gestrüpp zwischen den Gleisen dornig.

Immerhin konnte ich durch das Abendrot leicht die Himmelsrichtungen bestimmen: Mein Dorf mußte im Westen liegen, soviel war sicher – oder war ich bereits zu weit westlich und müßte zurück nach Osten? – Aber das war eigentlich egal, Hauptsache, ich würde auf ein Dorf treffen, irgendeines, bevor ich erschöpft war und Durst litt. – Das Abendrot entschied, dem Weg Richtung Westen zu folgen – und es wurde das schönste Abendrot, was ich je erlebt habe!

Jetzt bin ich erschöpft. Durst oder Hunger leide ich aber noch nicht, obwohl meine Vorräte schon lange aufgezehrt sind. Es ist noch nicht ganz dunkel. Auf dem letzten Hügel vor der Dämmerung konnte ich immer noch keine menschliche Ansiedlung sehen. Ich traf nur auf eine Telefonleitung, deren alte, hölzerne Telegraphenmasten vom Feld auf die Straße einschwenkten, mich ein paar hundert Meter begleiteten, dann über die Straße nach rechts wieder in die Felder liefen. – Ich fütterte auch noch einmal Kühe. – Und hier links ist ein altes kleines ausgedientes Umspannungshäuschen für eine Stromleitung, die es längst nicht mehr gibt. Es scheint das Menschliche zu behaupten gegen das Dunkel der Nacht, das mich fast eingeholt hat.

Ich werde weitergehen. Ich kann mir jederzeit ein Schlafplätzchen suchen, das habe ich auf meinen Sommernachtwanderungen als junger Mann auch öfter gemacht. Spätestens morgen werde ich auf jeden Fall auf ein Dorf treffen.

Ich muß zugeben: Nach dem Abklingen des Abendrots sind meine Schritte trotz einsetzender Erschöpfung immer schneller geworden. – Ich muß zugeben: durch die Erklärungen, die ich mir gebe, wird die Beunruhigung nicht in dem Maße geringer, wie sie mit der Dunkelheit zunimmt. – Ich muß zugeben: der Drang, dem aufziehenden Dunkel zu entfliehen wird immer stärker – um mich hinzusetzen und das hier in der letzten Helle aufzuschreiben, mußte ich mich mit aller Macht zwingen.

Auch wenn es hoffnungslos ist: Ich gehe weiter in Richtung des schwindenden Lichts – denn mit jedem Schritt verzögert sich das Brechen des Damms, hinter dem sich die Panik staut

(Anm. des Herausgebers: Diese Aufzeichnungen wurden am Rand einer einsamen Straße in der Uckermark gefunden. Sie konnten von den Angehörigen eines vermißt Gemeldeten als dessen Notizen identifiziert werden.)

 

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