Brief an Stephen King

Sehr geehrter Herr King,

hätten Sie Interesse, mit einer Kurzgeschichte einen Beitrag zu leisten zur Aufklärung einer der rätselhaftesten Stellen der Deutschen Literatur, deren genaue Deutung die Experten mittlerweile aufgegeben haben?

Es geht um den Müttermythos im zweiten Teil von Goethes Faust: Um für den Kaiserhof ein lebensechtes Bild von Helena, der schönsten Frau, die je gelebt hat, hervorzubringen, muß Faust in eine Parallelwelt eindringen, in die noch nie jemand eingedrungen ist. (Mephisto spricht von einem Weg in „Unbetretene, nicht zu betretende“). In dieser Welt gibt es Göttinnen, die „Mütter“ genannt, die Bilder von allem, was je gewesen ist, bewahren, und nach eigenem Gutdünken ins Traum- oder Wachbewußtsein der Menschen verteilen.

Daß es hier um ein Metapher für Kreativität geht, soviel ist allen klar. – Daß Sie, Mr. King, genauso wie Goethe das Wirken dieser „Mütter“ gut kennen, ist auch klar, denn Sie schrieben daß Geschichten etwas sind, was man nicht selber schafft, sondern daß sie längst vorhanden sind, und man sie nur ausgräbt. – Das deckt sich mit Goethes Angabe, alles Große gedeihe allein durch nachtwandlerisches Schaffen.

Als Künstler haben Sie eine gut trainierte Verbindung mit dem Archiv der „Mütter“, Sie müssen in diese Welt nicht eindringen. – Faust ist kein Künstler. Deshalb muß Faust sich mit Hilfe des Teufels einen Zugang zu diesem Archiv verschaffen und mit einem gezielten Eingriff etwas herausholen – im Gegensatz zu Künstlern, von denen selbst die genialsten zwar ihrer Inspiration entgegenarbeiten können, aber immer abwarten müssen, was die „Mütter“ ihnen gewähren. Mephisto nennt deshalb Fausts Eingriff in das Archiv „frevelhaft“. (Aber als Teufel freut es ihn natürlich, Faust zu Frevel anzustiften.)

Unklar bleibt, wie wir uns die Einzelheiten vorstellen sollen, die Mephisto über das Eindringen in diese Parallelwelt beschreibt:

(1) Es heißt, Faust müsse eine unvorstellbare Einsamkeit und Öde durchqueren, weit schlimmer als den Ozean zu durchschwimmen: „nichts wirst du sehen in ewig leerer Ferne, den Schritt nicht hören, den du tust, nichts Festes finden wo du ruhst“.

(2) Mephisto gibt Faust einen Schlüssel, mit dem soll er sich ein andrängendes Getreibe vom Leibe halten – offenbar treiben sich die Bilder des Archivs da geisterhaft herum, „regsam, ohne Leben“.

(3) Die Mütter sind nur im Schein eines glühenden Dreifuß zu sehen. Faust soll beherzt den Dreifuß mit dem Schlüssel berühren und ihn den Müttern für ein paar Stunden entführen. Mephisto warnt, hier sei die Gefahr am größten, doch welche konkrete Gefahr verrät Mephisto nicht. Deshalb glauben einige Experten, Mephisto wolle Faust bloß bange machen. Aber das ist eine faule Hilfshypothese.

Das Eindringen in die Welt der Mütter ist in jedem Fall so gefährlich, daß Mephisto nicht weiß, ob Faust zurückkommt.

Mit einer Geschichte von jemandem, der unautorisiert in die Welt der „Mütter“ eindringt, könnten Sie, als Meister der Parallelweltgeschichten, uns Deutschen im Verständnis unseres größten Gedichts vielleicht helfen!

Ich würde mich darüber riesig freuen!

Mit besten Grüßen

Winfried Lintzen

PS 1: Ich werde diesen Brief auf meiner Website goethesfaust.com veröffentlichen, um zu zeigen, daß die Werke von Goethe und King nicht auf verschiedenen Planeten zu Hause sind, sondern zwei Orte in der gleichen Landschaft, verbunden durch den Fluß der Phantasie. Wir brauchen kein Raumschiff um von King zu Goethe zu kommen, ein Kanu reicht.

PS 2: Von dem, was ich von Ihnen gelesen habe, halte ich „The Dome“ für Ihr bestes Werk. Es ist beklemmend wie Kafkas „Der Verschollene“. – In „The Buick“ sehe ich andere kafkaeske Züge: Es könnte gelesen werden als kafkaeske Parabel auf die Vergeblichkeit, die Rätsel unserer Welt auszuforschen. – Sie finden auf einem ganz eigenen Weg zu Kafka-Ähnlichem Erzählen, es erinnert mich an die strukturelle Verwandtschaft von Walking-Baß im Jazz mit dem barocken Generalbaß. – Für ihr zweitbestes Werk halte ich: „In einer kleinen Stadt“. Ich würde einiges darauf verwetten: Bei Mephisto und Leland Gaunt handelt es sich um ein und denselben Dämon….

PS 3: Last not least: Herzliche Grüße auch von meiner Webdesignerin Fidi Jung, die diesen Brief für mich übersetzt hat.

Link zur Szeneninterpretation auf dieser Website

Link zum den Notizen Eckermanns über Goethes Äußerungen zu den Müttern (im Projekt Gutenberg)

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