Wald und Höhle: „So taumel ich von Begierde zu Genuß“

Inhalt:
1 Die Situation (Lesezeit 1 Minute)
2 Wie ist es möglich, im Genuß nach Begierde zu verschmachten?
— Zur Anatomie des Zusammenwirkens von Sinn und Trieb. (Lesezeit 3 Minuten)
3 Die Rolle Mephistos in der Szene (Lesezeit 1 Minute)
4 Was muß das muß? Nee: „Kein Mensch muß müssen“ (Lessing) (Lesezeit 2 Minuten)
5 Der Teufel als Psychotherapeut (Lesezeit 3 Minuten)

Anhänge:
Anhang 1 Versinterpretation: „und lindern der Betrachtung strenge Lust“ (Lesezeit: 2 Minuten)
Anhang 2 Diskussion (Lesezeit 2 Minuten)

 

1 Die Situation

Offenbar weil Faust klar wurde, was er Margarete antut („ihren Frieden mußt ich untergraben“), ist er ins Gebirge geflohen, um die Geschichte zu unterbrechen und zu überlegen, wie es weitergehen soll. Hier fällt ihm auf, daß Naturerleben viel erfüllender ist, als ihm beim Wetten präsent war. Er erlebt, an was er offenbar nicht mehr gedacht hatte: daß er „Kraft“ hat (gemeint ist möglicherweise eine besondere Erlebnisfähigkeit), die Natur zu „fühlen und zu genießen“ – ein Vermögen, daß er in seinem vom Teufel unterstützten Experiment kaum zum Zuge kommen läßt.

Faust hat eine Besinnungspause für eine erste Zwischenauswertung seines Experiments. Sein Ausspruch: „So taumel ich von Begierde zu Genuß und im Genuß verschmacht ich nach Begierde“ könnte eine Klage sein aber auch eine Feststellung: “So ist das also, interessant!“

 

2 Wie ist es möglich, im Genuß nach Begierde zu verschmachten? – Zur Anatomie des Zusammenwirkens von Trieb und Sinn 

Dem Wortsinn nach beziehen sich Begierde und Genuß aufeinander: Die Stillung der Begierde und der beseligte Zustand der Gestilltheit sind genußvoll. – Wenn Faust im Genuß nach Begierde schmachtet, scheint ein Phänomen gemeint zu sein, das Alkoholabhängige gut kennen, es gilt sogar als landläufiges Kriterium für Sucht: beim Hinunterkippen des ersten Biers schon an das nächste denken. Die Gier will Bier, das Bier macht Gier. (Ich denke fast alle Menschen kennen etwas in der Art. Ich erlebe sowas manchmal ansatzweise mit Süßigkeiten oder Fernsehen).

Es wird nicht eine Begierde, die erwacht ist, gestillt, damit sie weg ist; sondern es wird eine Begierde immer wieder neu erzeugt, weil die Stillung so schön ist. Der Genuß der Gestilltheit ist nicht mehr verbunden mit Entspannung, Nachfreude und Dank über das Stillungserlebnis, sondern mit Lust auf erneute Stillung.

Stillung und Genuß sind eigentlich Phasen in dem Spannungsbogen zwischen Leisten und Erholen, Anspannung und Entspannung. In der Gestilltheit gieren wir normalerweise nicht nach dem nächsten Genuß, sondern wir genießen die Entspannung, träumen ein wenig herum und freuen uns auf die nächsten Taten: auf die Weiterarbeit an einer kreativen Problemlösung, auf spannende Begegnungen mit andern Menschen usw.

Ein Leben, daß aus einer Aneinanderreihung von Genüssen besteht, so wie Faust das experimenteller Weise gerade macht, ist für uns instinktiv, d.h. auch ohne daß es uns bewußt ist, indiskutabel. Wir wollen uns unsere sinnvolle Lebensführung nicht durch Genüsse zerschießen lassen, wir scheuen instinktiv die Leere, zu der das führen würde. In einem halbwegs gelingenden Leben hält der Sinn den Trieb weitgehend mühelos und ohne daß wir uns bewußt dazu auffordern müßten, im Zaum.

Sie meinen, das klänge zu optimistisch? Das Phänomen ist gesichert, es zeigt sich z.B. in einem bekannten Problem bei noch nicht langjährig abstinenten Alkoholabhängigen: Sie freuen sich über ihre Abstinenz und können sie seit Monaten mühelos einhalten, weil sie gar kein Verlangen mehr erleben, höchstens mal den Gedanken: „Früher hätte ich jetzt getrunken“. Aber dieser Gedanke ist jetzt nicht mit Verlangen sondern mit Erleichterung verbunden, weil ihre Lebensqualität gestiegen ist, weil sie frei sind von den Schuld- und Schamgefühlen wegen des Trinkens und sie endlich wieder Zeit für was anderes haben als für den Konsum, seine Beschaffung und seine Folgen. Ihr Partner oder ihre Partnerin ist beruhigt und fährt ein Wochenende alleine weg. Die Betroffenen bringen ihre Angehörigen noch zum Bahnsteig und ahnen selbst beim Rückweg zum Parkplatz noch nichts Böses, im Gegenteil, sie freuen sich, mal ein ganzes Wochenende im Garten schaffen zu können, ohne daß wer meckert. Sie gehen am Kiosk sogar noch vorbei. Doch nach ein paar Schritten kehren sie plötzlich um und denken, ein, zwei Bier können nichts schaden. Und Sonntag abend liegen sie besoffen in der Garage, im Garten ist nichts gemacht, aber überall leere Bierflaschen.

Solange es jemand mitkriegte, war das Trinken so indiskutabel, daß erst gar kein Verlangen entstand; das Verlangen wußte, daß es nicht die geringste Chance hat. Doch als sei ein Schalter umgelegt: sobald keiner hinschaut, reicht der flüchtige Gedanke: „Jetzt könnt ich ja“, um es als eine blöde Idee erscheinen zu lassen, die Gunst der Stunde nicht zu nutzen… – Das Wissen darum, daß etwas indiskutabel ist, ist „tiefer“ als unser Bewußtsein davon. Es kann, ohne daß wir das mitkriegen, dazu führen, daß wir auf das Indiskutable gar nicht erst Lust kriegen. So hält der Sinn den Trieb im Zaum ohne unser bewußtes Zutun. – Aber wehe, es treten Bedingungen ein, unter denen das Indiskutable diskutabel scheint….

Eine attraktive sinnvolle Tätigkeit, wie z.B. Probleme lösen oder Pläne entwickeln, entfaltet ihre Attraktion schon allein, wenn wir an sie denken. Und die Vorstellung, etwas Brauchbares geschaffen zu haben, nützlich gewesen zu sein, geholfen zu haben, fühlt sich ebenfalls gut an.

Tat macht zufriedener als Genuß. Zugunsten von sinnvollen Tätigkeiten können wir auf Genuß gut verzichten. – Ins Extrem getrieben sehen wir diese Verzichtfähigkeit bei Nonnen, die sich für Kranke oder Arme engagieren. Wir können den Sinn gegen die Lust sehr stark machen: „Wer ein Wozu zum Leben hat erträgt fast jedes Wie“ (Nietzsche).  Sinn ermöglicht, Lustmangel zu ignorieren. (Allerdings: Wir brauchen ein gewisses Maß an Genuß, um tätig sein zu können. Sonst droht Schwermut mit Störungen des Antriebs und des Denkens („burn out“).

Fausts Experiment sieht vor, Sinn auszuklammern und sich treiben zu lassen: nur noch der größten Attraktion zu folgen, und nur so lange, wie er Bock hat. Auch von sinnvollen Tätigkeiten zählt nur noch der Erlebniswert, nicht mehr der Sinn.

Wenn die sinnvollen Tätigkeiten nicht mehr das Zugpferd des Lebens sind, und der Genuß, der sich aus den sinnvollen Lebensvollzügen von selbst ergibt, z.B. beim Essen oder in der Liebe, nicht mehr genügt, sondern wenn das Leben nur noch darin besteht, Genuß um seiner selbst willen zu suchen, dann entsteht eine Unfähigkeit zu entbehren, denn Entbehren hat keinen Sinn mehr, es wird nicht mehr „belohnt“ durch das Gefühl, anstelle weiteren Genusses jetzt Kraft und Zeit für sinn- und wertvolle Taten oder Erlebnisse zu haben.

Das ist die erste Erkenntnis, die Faust aus seinem Experiment zieht: Lust ohne Sinn macht haltlos. Sobald die erste Stillung eines Verlangens einsetzt, meldet sich schon das nächste Verlangen und macht der Gestilltheit ihr Recht streitig. Man kann dann nicht mehr sagen: „Wie blöd wäre es, das gerade wunderbar Erlebte sofort durch weitere Erlebnisse zu überdecken? Ich könnte den Genuß des Erlebnisses gar nicht richtig genießen, es hätte keine Chance sich im Raum meiner Seele zu entfalten, ich würde seinen Wert zersetzen und die Nachfreude vernichten!“

Wenn wir uns keine Zeit für unsere Erlebnisse nehmen, können wir ihnen die Informationen nicht abgewinnen, die sie enthalten über das, was für uns wert- und sinnvoll sein könnte. Es zählt dann nur noch der Genußwert der Erlebnisse. Und dann überlappen sich Stillung und Schmachten. Entfesselte Gier ist wie Salzwasser trinken.

Der Philosoph Karl Jaspers beschreibt diese Einstellung so: „Das Bewußtsein gibt sich an eine Sache hin und der Genuß ist bei der Hingabe, nicht bei der Sache. Es kann daher die Persönlichkeit innerlich unbeteiligt sein … es berührt sie im Genuß die Sache als solche gar nicht“. Der Genuß „ist nie bei der Sache sondern bloß beim Genuß. … Es gibt … keine wirkliche Vorliebe. Es muß nur immer mehr herbei, immer Neues, Stoff und wieder Stoff. Was menschenmöglich ist, was Menschen nur erleben können, das wird gesucht“ (Jaspers, Karl, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1905, S.93)

Zum Zeitpunkt seiner Zwischenbetrachtung glaubt Faust wahrscheinlich, sein Experiment unter Kontrolle halten zu können. Er rechnet nicht mit der Stärke der Kräfte, die er entfesselt hat: Bevor er seinen Befund ausgewertet und seine Schlüsse daraus gezogen hat, taucht Mephisto auf und stachelt die Begierde an, sich erneut in den Taumel zu stürzen, entgegen aller Einwände.

 

3 Die Rolle Mephistos

Mephisto scheint in dieser Szene verhindern zu wollen, daß Faust sich mit einem schönen Augenblick (der Naturkontemplation) zufriedengibt. Aber damit würde Mephisto seine Wette hintertreiben. Das wäre keine sinnvolle Deutung.

Daher kann Mephistos Anstacheln von Fausts Begierde nur bedeuten: Faust würde sich auch ohne Mephisto nicht zufriedengeben und weitertaumeln. Mephisto macht Fausts Taumeln bloß stärker, als es Faust lieb ist. Ohne Mephistos Verstärkung, wäre es Faust ein Leichtes, mit allem, was ein normales menschliches Leben zu bieten hat, unzufrieden zu bleiben.

Mephistos Aufgabe ist es, das Begehren so stark und dadurch die Befriedigung so überwältigend zu machen, daß Faust sich vergißt und den überwältigenden Augenblick, der ihn vom Schmachten erlöst, zum Verweilen auffordert.

 

4 Was muß, das muß? – Nee, „Kein Mensch muß müssen“! (Lessing)

„Was muß geschehen, mags gleich geschehen, soll ihr Geschick auf meins zusammenstürzen und sie mit mir zugrunde gehen!“ klagt Faust.

Dieses „muß“ ist zwingender als das „weil ich muß“ in der Straßenszene. Denn in der Straßenszene war die Zukunft noch offen: ob Margarete sich auf ihn einläßt und wenn ja, wie weit, und ob er dann wirklich so weit geht, wie er vorhat oder doch den Absprung findet, das war alles noch unvorhersehbar. Das Risiko war vage, weil weit in der Zukunft.

Doch jetzt ist die Sache klar: Margarete will. Faust hat den Absprung versucht, merkt aber plötzlich: es drängt ihn mit aller Macht zu Margarete zurück. Und Faust ist klar, er wird Margarete sitzen lassen, selbst wenn sie schwanger ist. Und was das für Margarete und das Kind bedeutet, ist ihm ebenfalls klar. (Uneheliche Kinder wurden damals massiv diskriminiert, so massiv, daß viele uneheliche Mütter, deren Liebhaber abgehauen war, ihr Baby ermordeten, um ihnen dieses Schicksal zu ersparen.

Bis Fausts Ausspruch: „Du Hölle mußtest dieses Opfer haben“ ist vorstellbar, daß Faust noch unentschieden ist. (Das „Opfer“ bezieht sich auf den untergrabenen Frieden von Margarete: Selbst wenn er die Geschichte jetzt abbrechen würde: Faust hat Margarete seine Liebe versichert, sie würde verletzt zurückbleiben, vielleicht mit gebrochenem Herzen.)

Machen wir den Test: Würde jetzt ein Engel kommen und den Film vorspulen, bis zu Margaretes unerträglichem Leid im Kerker. Würde Faust dann sagen: „Egal, dann ist das eben so, ich geh jetzt und mach das Mädchen kaputt, stürze sie in eine der schlimmsten Katastrophen, die Menschen erleben können: Schuld am Tod der Mutter und des Bruders zu sein, ihr eigenes Kind ermordet zu haben, aus der Gesellschaft ausgestoßen und mit noch nicht ganz 17 Jahren öffentlich umgebracht zu werden. – Ich weiß, daß das so kommen wird, aber es drängt mich so, ich kann nicht anders, ich muß das jetzt einfach!“

Es hätte nicht mal eines Engels bedurft. Ein guter Freund anstelle des Teufels hätte gereicht: “ ‚Ich muß das jetzt einfach‘, sach mal, wie krank ist das denn! Ist dir nicht klar, was du damit anrichten kannst? Paßt das wirklich zu dir, wegen so einem flüchtigen Spaß so ein furchtbares Risiko für Margarete heraufzubeschwören?“

Faust hätte sich das sogar selber sagen können. Aber stattdessen hat er sich den Teufel zum Ratgeber geholt.

 

5 Der Teufel als Psychotherapeut

Daß Faust selbst mit dem „Was muß geschehen, mags gleich geschehen“ noch nicht verläßlich entschieden ist, können wir aus der Reaktion des Teufels schließen:

„Ihr sollt in eures Liebchens Kammer, nicht etwa in den Tod! … Wo so ein Köpfchen keinen Ausweg sieht, stellt es sich gleich das Ende vor!“

Der Teufel weiß: Faust hat sich mal wieder in was reingesteigert. Aber der Weg zu Margarete ist noch weit, schon am nächsten Morgen kann Faust wieder alles anders sehen. – Fausts Verlangen nach dem Liebeserlebnis mit Margarete ist gerade so überwältigend, daß Faust das Gefühl hat, keine Chance dagegen zu haben und nur noch hilflos und schicksalsergeben miterleben zu können, was die Fernsteuerung mit ihm macht.

Verlangen verengt das Bewußtsein ähnlich wie eine suizidale Stimmung. Alles, was dagegen spricht, ist ausgeblendet, ist bestenfalls vage gewußt, aber hat nicht die geringste Chance, in seiner Bedeutsamkeit gespürt und verhaltenswirksam zu werden. Sich dem Verlangen zu überlassen fühlt sich überwältigend stimmig an, das Verlangen zu hinterfragen indiskutabel unstimmig. – Aber dieser Zustand ist nicht stabil. Es würde reichen, daß Faust in diesem Zustand im Halteverbot ständ und ein Polizist forderte ihn auf: „Fahrense mal Ihren Wagen da weg!“ – 5 Minuten Parkplatzsuche und Margarete wär gerettet.

Das weiß der Teufel. Und deshalb muß er erreichen, daß Fausts Entscheidung, die Beziehung zu Margarete auf Gedeih und Verderb weiterzuführen, unabhängiger wird von Fausts Neigung zur Verzweiflung. – Dafür nutzt Mephisto eine Lebensklugheit, die heutzutage als klassische kogitiv-verhaltenstherapeutische Intervention gilt: Er macht Faust darauf aufmerksam, daß Faust gerade „katastrophisiert“.

Wenn wir vereinfachend annehmen, daß Mephisto hier nur eine Instanz in Faust selber ist, geschieht hier Folgendes: Faust realisiert, daß er drauf und dran ist, ein Unrecht an Margarete zu begehen, ein Unrecht, das im schlimmsten Fall katastrophal enden kann. (Und tatsächlich tritt dieser schlimmste Fall später ein und zwar noch weit schlimmer, als Faust sich ausmalen konnte: eine ganze Familie ist hinterher ausgelöscht.)

Doch das Verlangen läßt Faust an seiner Bewertung der Situation zweifeln: Ist das denn wirklich alles sooo furchtbar schlimm? Mein Gott, das sind doch alles lösbare Probleme! Irgendeine Lösung wird sich schon finden! Ja sicher, toll ist das nicht, was er da mit Margarete macht, aber sie will es doch auch! Vielleicht hat sie soviel Spaß dabei, daß es sich trotz allem für sie gelohnt haben wird! Wie blöd wär das denn, sich hier von dem denkbar pessimistischsten Szenario davon abhalten zu lassen, eine so tolle Gelegenheit zu nutzen!

Faust bagatellisiert das Problem, glaubt aber, bloß realistisch zu sein. Seine Begierde verdreht ihm den Kopf.

Selbst bei hohen Risiken reicht uns die geringste Hoffnung, um zu glauben: „Ich werde zu denen gehören, bei denen es gut geht!“ Dafür sorgt die Erfahrung, daß noch nie etwas richtig Schlimmes passiert ist, und bisher immer alles, worauf es ankommt, hinlänglich gut ausgegangen ist. Das macht es schwer vorstellbar, daß was Schlimmes passiert. – (Ohne diese Hoffnung, wären Kriege wahrscheinlich nicht möglich.) – Traumatisierte Menschen sind da realistischer: Sie können sich vorstellen, was passieren kann, weil es ihnen passiert ist.

Im Gegensatz zu Mephisto würde ein echter Psychotherapeut in so einer Situation nicht Entkatastrophisieren sondern sagen: „Sie haben selbst erkannt, wie menschenverachtend das ist, was Sie da vorhaben, wie sehr Sie damit gegen Ihre eigenen Werte verstoßen und wie unverantwortlich riskant das für Margarete ist. Was fällt Ihnen daran so schwer, darauf zu verzichten?“

Diese Frage würde Fausts Forschungsprozeß wieder in Gang bringen: die Erforschung seiner Wünsche, Bestrebungen, Ängste, Gefühle, Vorstellungen, Werte und inneren Konflikte. Faust würde sein Experiment reflektieren: Funktioniert dieses Experiment noch, wenn er sein Taumeln begrenzt auf einen von Werten abgesteckten Korridor, der z.B. das Instrumentalisieren von Menschen, wie Faust es mit Margarete macht, ausschließt – statt drauflos zu experimentieren mit dem Risiko, hinterher den Schaden nicht mehr begrenzt zu kriegen? Kann er sein Experiment modifizieren oder muß er es aufgeben?

Doch Faust hat in seinem Studierzimmer den Sinn zugunsten der Tat verworfen. Besinnung ist nicht seine Sache. Daher können sich diese Fragen nicht stellen, und Mephisto hat eine Chance Fausts Bedenken klein zu reden und ihn in seinem fragwürdigen Vorhaben zu bestärken.
Doch was noch untherapeutischer ist: Für den Fall, daß Faust nicht bereit ist, seine Bedenken zu ignorieren und die berechtigte Angst zu überwinden, verbindet Mephisto seine unredliche Realitätsprüfung manipulativ mit einer Abwertung: „du Tor“.

Weiterlesen bei Wikipedia: Katastrophisieren

Anmerkungen

1 Daß Mephisto Fausts schönen Augenblick in der Naturkontemplation verhindern will, scheint der Germanist Jochen Schmidt so zu verstehen, in: Faust, Grundlagen, Werk, Wirkung, München 1999 S.169f. – Dagegen spricht zwar, daß Faust schon vor dem Auftreten Mephistos sagt: „O daß dem Menschen nichts Vollkommnes wird, empfind ich nun“. Doch Schmidt hebt das „nun“ hervor, offenbar weil er annimmt, daß es soetwas bedeutet wie: „nun, wo ich spüre, daß Mephisto im Begriff ist, zu erscheinen“. Doch das wäre eine Hilfshypothese.

2 Den Hinweis aus das Schicksal unehelicher Kinder verdanke ich dem Kommentar von Hans Arens, kann die Stelle aber nicht wieder finden. (Arens Hans, Kommentar zu Goethes Faust 1, Heidelberg 1982).

 

Anhang 1 Versinterpretation

„Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
besänftigend herüber; schweben mir
von Felsenwänden, aus dem stillen Busch,
der Vorwelt silberne Gestalten auf,
und lindern der Betrachtung strenge Lust.“

„Der Vorwelt silberne Gestalten“: Das kann man nicht verstehen. Das zeigt eine Übersicht des Germanisten Arens über die unterschiedlichsten Spekulationen seiner Zunft (s. Anmerkungen).

Erschwerend für das unmittelbare Verständnis ist die Umstellung aus versrhythmischen Gründen: Gemeint sind offenbar nicht silberne Gestalten, sondern daß sie silbern aufsteigen. Daß es sich um aufsteigenden Nebel handelt, muß auch erst erschlossen werden. – In dem aufsteigenden Nebel erblickt Faust offenbar Figuren, die ihn an historische Gestalten erinnern, vielleicht – so wird spekuliert – an Marmorstatuen von Göttern und Helden.

Sie lindern der Betrachtung strenge Lust. – Lust ist – vor allem heutzutage – eigentlich das Gegenteil von streng, daher ist auch das nicht unmittelbar zu verstehen. – Zu Goethes Zeiten galt aber jede faszinierende Tätigkeit als „lustvoll“, auch wenn sie anstrengend war. Heute würden wir hier von „flow“ sprechen. – Gemeint ist offenbar: Die Naturbetrachtung war faszinierend, aber mit starker Konzentration verbunden, also anstrengend, also lustvoll und streng. – Und jetzt überläßt sich Faust ohne große Konzentration seinen Phantasien bei der Betrachtung aufsteigender Nebelgebilde. – Modern gesprochen: Er hängt ab vor der Glotze.

Mephisto hatte eben doch recht: Es kommt die Zeit heran, wo wir was Gutes in Ruhe schmausen mögen: Der Lebensrhythmus gliedert sich in Flugstrecken und Rastplätze, da ist nichts zu machen. – Wir sehen hier, daß Faust das auch gar nicht bestritten hat. Faulbett ist schon okay, er will sich bloß nicht beruhigt darauf legen!

In einer Aufführung würde ich diese Verse streichen. Ohne Vorbereitung sind sie nicht zu verstehen, irritieren bloß, werden zum Füllstoff und lenken vom Wesentlichen ab. Und sie sind auch für nichts erforderlich. Es handelt sich nur um eine kleine Differenzierung und Konkretisierung. – Wie streng die Lust der Vorverse ist und ob da schon genug Erholung drin ist oder nicht, ist für das Verständnis der Vorgänge nicht relevant.

Anmerkungen:
– Die Übersicht ist zu finden in:  Arens Hans, Kommentar zu Goethes Faust 1, Heidelberg 1982, S.308f
– „Flugstrecken und Rastplätze“ ist ein Bild von William James, eines Pioniers der modernen Psychologie

 

Anhang 2: Diskussion

(Auseinandersetzung mit der Deutung des Germanisten Jochen Schmidt, in: Faust, Grundlagen, Werk, Wirkung, München 1999 S.169f)

Es besteht die Gefahr, statt den Text zu interpretieren, eine Faust-Psychologie zu entwickeln. Diese Psychologie erklärt dann den Text. Der Nachteil: Wen interessiert, wie irgendein Faust tickt? Jede Faust-Psychologie macht das Drama irrelevant. Es bringt nicht viel, sich mit der Psychologie von Sonderlingen zu befassen.

(1) Schmidt diagnostiziert bei Faust Dissoziation und Schizophrenie. Auch wenn er das rhetorisch zu relativieren versucht, indem er schreibt „bis zur Dissoziation“, sowie „eine an Schizophrenie grenzende psychische Gespaltenheit“: Beide „Diagnosen“ sind doppelt unsinnig, fachlich, weil Faust weit entfernt ist von den genannten psychischen Erkrankungen, sachlich weil sich Fausts Erleben so sehr nicht entfernt von dem Erleben aller Menschen. – Es handelt sich bei den Phänomenen, die Schmidt im Blick hat, um den ganz alltäglichen Mechanismus der „reziproken Hemmung“, wie wir es vom Phänomen der Konzentration kennen: Jedes aktivierte Nervennetzwerk blockiert die anderen Netzwerke. Das kann soweit gehen, daß wir alles ausblenden, was mit unserer Konzentration nichts zu tun hat: Legendär und oft reproduziert sind die Experimente, in denen ein als Mensch verkleideter Affe über ein Handballspielfeld geht und von den meisten Spielern nicht wahrgenommen wird. Sie glauben es hinterher nicht, bis sie die Videoaufnahmen sehen.

(2) Schmidt meint, Faust sei nicht beziehungsfähig. Das läßt sich sicher so in den Text hineininterpretieren. Wir können es aber auch anders interpretieren (und mit größerer Texttreue), dann ist es interessanter: Faust ist beziehungsfähig, aber er nutzt seine Beziehungsfähigkeit nicht, sein Experiment sieht das nicht vor. Das zeigt das ganze Ausmaß der Undurchdachtheit seines Experiments: Die Freude und Zufriedenheit, die gelingende Beziehungen ins Leben bringen, kann Faust mit seinem Experiment nicht erfahren. Er kann also gar nicht des Menschen Krone erringen, er kann gar nicht alles Erleben, was Menschen erleben können.

(3) Schmidt liest eine Gemeinsamkeit in Fausts Frustrationen hinein: einen „Exzentrischen Erlebensrhythmus….“: Nach einer euphorischen Hochphase (Makrokosmoszeichen, Erdgeistbeschwörung) komme jedesmal ein jäher Absturz in die Ernüchterung.

Doch ergeben sich die „Abstürze“ aus dem Geschehen, nicht aus Fausts Wesen: Die Blase der Alchemie muß durch Fausts unbestechlichen Realitätssinn platzen und der Erdgeist ist eine Nummer zu groß für ihn. Faust bekommt es mit Ideologien zu tun, die ihm nicht gewachsen sind und mit Erlebnissen, denen er nicht gewachsen ist. – Fausts „Wesen“ ist nur insofern dafür verantwortlich, weil Faust sich traut, anspruchsvolle Ziele anzustreben, statt wie „Realisten“ etwas, das aussieht wie eine Chance, gar nicht erst daraufhin zu überprüfen, ob es tatsächlich eine Chance ist, sondern gleich zu sagen: „Das funktioniert doch bestimmt nicht, das brauche ich gar nicht erst zu versuchen!“

(Würden Realisten in der Wüste kurz vor dem Verdursten einen Eisstand sehen, würden sie sagen: „Ach das ist doch bloß eine Fata-Morgana!“ – Faust würde sagen: „Ob Fata-Morgana oder nicht, ich kauf mir jetzt ein Eis!“ (Ich danke dem Cartonisten dieses Cartoons, das ich vor über 50 Jahren als Kind in einer popeligen Fernseh-Zeitung entdeckte.)

Das Verebben der Euphorie der Naturkontemplation in Wald und Höhle ist der einzige Absturz, der in Faust selber begründet liegt. Insofern ist Schmidt auf der falschen Fährte, wenn er den Taumel von Begierde und Genuß auf eine Linie mit Fausts anderen Enttäuschungen bringen will.

Weiterlesen: Urlaubsparadies und Todeszelle, eine der schockierensten Passagen der deutschen Literatur

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