Entwirrung: Bruno Latours „terrestrisches Manifest“

eine Rezension 

Die Verlagsinformation über Latours Schrift gibt es hier:

Bruno Latour (geb. 1949) ist einer der bedeutensten zeitgenössischen französischen Philosophen.

 

(1) Gehalt und Inspiration

(1.1) Das Problem

Latour versucht, ein neues Ordnungschema zu entwickeln für die „Dialektisierung“ des Gegensatzes von „Globalität“ und „Lokalität“: Verbindung und Austausch auf der einen Seite, sowie Rückzug und Abgrenzung auf der anderen.

Es ist schon verwirrend: Während USA und Großbritannien die Globalisierung auf Hochtouren weiter betreiben, beginnen sie, sich abzuschotten und auf sich selbst zurückzuziehen (Lokalisierung). Wohingegen bestimmte Formen von Lokalisierung in Form von Dezentralisierung, Regionalisierung und Autarkisierung geboten sind, um den Globus zu retten (z.B. energieautarke Häuser, die Familien von den „Global-Playern“ der Energiewirtschaft unabhängig machen1.) Doch viele für das „Lokale“ Engagierte (z.B. PEGIDA) sind unsolidarisch und selbstbezogen und was mit dem Rest der Welt passiert, ist ihnen scheißegal.

Die Globalisierung andererseeits geht mit „Modernisierung“ einher: mit der Entstehung von Einstellungen, die die Ausbildung moderner universalisierter ethischer Denkweisen begünstigen und vormoderne Formen partikularistischer Ethiken auflösen, Ethiken, die zwischen Binnen- und Außenmoral unterscheiden, zwischen Regeln die für die eigene Gruppe und das eigene Geschlecht gelten und Regel, die für die andern gelten. – Ist es nicht gut, wenn der moderne Kapitalismus in einem afrikanischen Land Traditionen zersetzt, in denen 12-jährigen Mädchen mit schmutzigen Glasscherben die Klitoris weggeschnitten wird?

Latour unterscheidet Plus- und Minusglobalisierung: „Plus“ heißt: „Gesichtspunkte vermehren“: „daß man eine größere Mannigfaltigkeit erfaßt, eine größere Zahl von Wesen, Kulturen, Phänomenen, Organismen und Menschen“ (21) – Minus-Globalisierung heißt: „eine einzige Sicht gegenüber allem und überall“, durchgesetzt „von einer kleinen Gruppe von Personen“, „die von Grund auf provinziell ist“, „eine winzige Zahl von Interessen repräsentiert“, zugleich aber den Anspruch auf Fortschrittlichkeit stellt.

Analog unterscheidet Latour ein Plus- und Minus-Lokales. Er gibt kein Beispiel dafür, aber vermutlich hat er etwas wie dies im Sinn: Die bayrische Heimatpartei (CSU) ist die politische Kraft, die die Betonierung und Vernutzung der Landschaften am rücksichtslosesten fördert. Und sie mißbraucht traditionelle religiöse Symbole für parteipolitische Zwecke. Das ist das Dilemma der Konservativen: Wo der Zweck die Mittel heiligt, schwindet das Heilige.

Quer zu „global“ und „lokal“ setzt Latour „extraterrestrisch“ und „terrestrisch“. „Extraterrestrisch“ meint: Nicht im Einklang mit dem Universum der wirkenden Kräfte, sondern: ausbeuterisch, plündernd, verbrannte Erde zurücklassend (44). – „Terrestrisch“ bedeutet dagegen eine Kombination von: verallgemeinerbar, nachhaltig, solidarisch, ökologisch.

Zur Förderung des Terrestrischen ist die Überwindung eines politischen „Repräsentationsdefizits“ notwendig. – Das ist einer der interessantesten Gedanken Latours: Wie können wir es schaffen, hinreichend umfassend den von der Naturwissenschaft ignorierten Wesen, Zusammenhängen, Umständen und Bedürfnissen des Lebens auf unserem Planeten, mit denen wir in einem biologischen Netzwerk verbunden sind, eine Stimme zu verleihen, damit es in der Politik berücksichtigt wird (und, wie Latour es poetisch ausdrücken würde: uns berücksichtigen kann).

Latour bleibt hier im Allgemeinen, jedenfalls habe ich von seinem Text nicht mehr verstanden als die Aufforderung, uns für die Belange der anderen Lebewesen zu sensibilisieren, wenn wir nicht in der Antropozentrischen Illusion gefangen bleiben wollen (z.B. S. 100ff).

Hier lohnt es sich weiterzudenken: Das „Repräsentationsdefizit“ ist ein Korrektivdefizit: Viele wichtige Wahrnehmungen, Ideen, Gedanken und Sorgen der Bürger gehen auf dem Weg ins Parlament verloren oder verlieren an Gewicht. Wollen wir Bürger wirklich abwarten, bis sich die Parlamentarier und Politiker des „Terrestrischen“ annehmen? Wie können wir selber aktiv werden, ohne auf Institutionen zu warten? Warum warten wir darauf, daß Nichtregierungsorganisationen das für uns erledigen? Mit den modernen Demokratien haben wir uns weit mehr geschaffen, als Parteien und Parlamente. Den Möglichkeiten des Bürgerengagements sind keine Grenzen gesetzt2.

Wichtiger noch: Im Hinblick auf die Volksaufklärer meint Latour: Es sei nutzlos, „sich darüber zu empören, dass Leute an alternative Fakten glauben, wenn sie faktisch in alternativen Welten leben. Die Frage ist nicht, wie die Unzulänglichkeiten des Denkens ausgeräumt werden können, sondern, wie es möglich wird … denselben Herausforderungen zu trotzen. Wir stoßen hier auf den gewohnten Fehler der Epistemologie nämlich daß etwas intellektuellen Defiziten zugeschrieben wird, was in Wahrheit einem Defizit an gemeinsamer Praxis geschuldet ist“ (35).

Latour hat dabei vermutlich konkrete Ideen „gemeinsamer Praxis“ im Sinn und vertraut darauf, daß man seine Schriften kennt. Aus dem Text geht dazu nichts weiter hervor, auch hier kann man sich nur inspirieren lassen: Es käme darauf an, daß wir uns über unsere verschiedenen Ansichten hinweg als Mitbürger verstehen und respektieren und gemeinsame, verbindende Aufgaben definieren, für die wir kooperieren können, so, als ob plötzlich Außerirdische uns bedrohen würden. Latours Begriff des „Extraterrestrischen“ bekäme so einen ganz anderen Sinn…

Eine inspirierende Denkaufgabe: wie kann man die Gefahr durch das „Extraterrestrische“, durch die Tendenzen zur Zersetzung der Demokratie, Degeneration der Medien, Ohnmacht des Politischen, Entfesselung der Profitwirtschaft mit dem Raubbau an unserer gemeinsamen Zukunft, wie kann man dieses komplexe Syndrom übersetzen in alltagstaugliche, Gemeinsamkeit stiftende und erfordernde Projekte, die uns alle als Menschen angehen unabhängig von Herkunft und Hautfarbe – wie können wir über Gräben und Grenzen hinweg Ebenen von Kooperation finden, auf der wir ein Bündnis schmieden können für die Zukunft unserer Kinder, die Zukunft des Planeten…

Zumindest eines könnte vorab sinnvoll und wichtig sein: im Mitbürger, der aktuell gegnerisch erscheint – sei es der Neureiche oder der „Reichsbürger“, die fundamentalistische Feministin oder der Marrokanermatscho – den potentiellen Verbündeten zu sehen. – Kooperieren statt Missionieren! – (Doch diese Formel unterläuft Latours Anliegen subversiv: Er will gerade einen neuen Orientierungsrahmen entwickeln, mit dem er „Freund und Feind“ erkennen kann, mögliche Verräter und mögliche Verbündete (43).

 

(1.2) Wissenschaft und Rationalität

Während die Wissenschaft sich einerseits als Maßstab für Realismus aufspielt, für Rationalität und Objektivität im Gegensatz zu irrationalen und subjektiven Vorstellungen und Vorgehensweisen, neigt sie in Wirklichkeit zu Illusionen über das Ausmaß, in dem sie die Komplexität des Zusammenhangs und Zusammenspiels der Gesamtheit der irdischen Lebensformen verkannt hat und nicht gewachsen ist. Latour nennt sie zurecht „provinziell“: ein Produkt eines ehemals lokalen sozialen Netzwerks, das global hypertrophierte.

Die Wissenschaft nutzt ihr Nicht-Wissen tendenziös: Alles ist erlaubt, solange nicht bewiesen ist, daß es ernsthaft schadet. Politische Positionen, die vor Klimaveränderungen, Bodenvernutzung, Artensterben usw. warnen, werden dann als voreingenommene, irrationale Ökoideologien diskreditiert, die behaupten, was nicht bewiesen ist.

Aber man muß Latour entgegenhalten: das diskreditiert nicht die Wissenschaft selbst! Es zeigt nur, daß uns die Wissenschaft nicht dabei helfen kann, unserem Handeln die Grenzen aufzuzeigen. Wir dürfen nicht auf die Wissenschaft warten. Und wir brauchen es auch nicht: Es reicht doch, immer wieder und immer eindringlicher die Frage zu stellen: Warum müssen wir wissen, wie weit wir zuweit gehen können? Was ist das denn für eine pathologische Disziplinlosigkeit, wenn man immer erst auf den allerletzten Drücker in der Lage ist, ein schädliches Verhalten zu korrigieren? Wie irrational ist es, auf unnötige Vorteile nicht verzichten zu wollen, bloß weil man noch nicht weiß, wie schädlich sie schaden?

Das, was ich von Latours Anliegen verstanden habe, kann ich mit eigenen Worten so umschreiben: Der technische Fortschritt ist schneller als die kulturelle Willensbildung, als die Reflexion unserer Bedürfnisse und Wünsche im Lichte aller menschlichen und planetaren Möglichkeiten, die die Menschheit bereits kennt oder entwickelt hat. Kulturelle Willensbildung würde zu einer weit selektiveren und gezielteren Technisierung führen, zu einem wahrhaften „Schreiten“, gemessen an dem unser „Fortschritt“ ein unentwegtes Stolpern ist.

Wir sind närrisch, wir handeln besinnunglos: Aus infantiler Freude über die Entdeckung unserer Flinkheit preschen wir vor, ohne die Schatzkarte studiert zu haben und ohne zu wissen wo die Krokodile lauern. Das zeigt die Beschränktheit der Protagonisten des Fortschritts. Die Leute von sillicon valley sind Hinterwäldler.

 

(2) Kritik

(2.1) Latour entfaltet in den ersten Abschnitten eine veritable Verschwörungstheorie. Er kommt darauf in seinem Text aber nicht mehr zurück, damit zeigt er selbst, wie überflüssig sie ist. Wir können ohne Verschwörungstheorien auskommen, ohne Spekulationen über Intention und Moral. Beides führt nur zu Zirkeln: Wer unterstellt, wird sich für leichtgläubig halten, wenn er an der Unterstellung zweifelt, und sich so selber im Unterstellen bestätigen. Und wer sich für einen Guten hält, wird sein Selbstbild schützen müssen gegen sein Böses, das sein Selbstbild in Frage stellt. Und er wird glauben, daß es gar nicht anders sein kann, als daß er im Wesentlichen Recht hat, weil er doch ein Guter ist, d.h. zu gut, um etwas Wesentliches unterlassen zu haben bezüglich der Erkenntnis von Gut und Böse.

Viele Probleme sind Probleme unreflektierter Interessen, die moralfrei angegangen werden können mit der Frage: „Was ist denn jetzt daran so wichtig, daß ihr dafür soviele Ungerechtigkeiten, Schäden und unabsehbare Risiken in Kauf nehmen wollt? In Eurem privaten Leben würdet ihr niemals derart irrationale Entscheidungen treffen geschweige denn mit so irrationalen Leuten zu tun haben wollen!“

(2.2) Was bringt die Begrifflichkeit „terrestrisch-extraterrestrisch“? Latours Vorschlag ist inspirirend wegen seines Fehlschlags. Es ist doch die Frage, ob eine so einfache Koordinaten-Heuristik weiterführen kann, ob sie wirklich was Neues bringt, ob sie Zusammenhänge stiftet und Strukturen sichtbar macht.

Es müßte eine komplexere, mehrdimensionale Matrix entwickelt werden anhand der Begriffe: Austausch, Kompromißbereitschaft, Solidarität, Kooperation, Toleranz, Respekt, Selbstreflexion, Erkenntnis und Entwicklung. Dabei müßte unterschieden werden zwischen strukturellen Widerständen, wie wirtschaftlichen Zwängen, und individuellen Widerständen wie persönliches Profitstreben. Und es muß unterschieden werden, ob Widerstände unwillkürlich sind – z.B. aus Gründen von Religion und Tradition – oder wirtschaftlichen und machtpolitischen Eigeninteressen geschuldet. Als islamische Lehrerin auf ein Kopftuch verzichten zu müssen, bedarf einer anderen Art von Verzicht, als aus ökologischen Gründen auf ein gutes Geschäft verzichten zu sollen.

(2.3) Nicht nachvollziehbar ist für mich, wieso Latour nicht im geringsten auf die Vorarbeiten zur Entwicklung des Rationalitätsbegriffs von Habermas in dessen „Theorie des kommunikativen Handelns“ eingeht, auf dessen Erwägung eines „selektiven Musters von Rationalisierung“3. Damit hätte er seine (und Habermas´) Gedanken klären, reflektieren und weiter entwickeln können. So wirkt seine Rationalitätskritik und sein Postulat von Alternativen pauschal und unkonkret – und münden möglicherweise in den alten Streit um eine „alternative“ Vernunft, der nicht zu gewinnen ist4.

Mit Habermas Orientierungsschema könnten wir Latours Begriff des „Terrestrischen“ rekonstruieren: Das Rationale ist das Kritisierbare. Und neben der technischen Rationalität gibt es die soziale und expressive: Wir können auch über unsere Beziehungen und über unsere Gefühle und Wünsche auf eine kritisierbare Art und Weise reden – in Form von Diskursen der Gerechtigkeit, Schönheit und Authentizität. – Da, wo die technische Rationalität versagt – bei der Erfassung der Komplexität biologischer und sozialer Netzwerke und Interdependenzen – kann sie flankiert werden von Diskursen über die Berechtigung materieller Ansprüche, Zukunftssorgen, Gerechtigkeitsvorstellungen und Bedürfnisinterpretationen. Hierbei sind alle Abstufungen von Kritik, Toleranz, Wertschätzung und Respekt gegenüber traditionellen Weltbildern und Werten möglich.

Nicht ein Zuviel sondern ein Zuwenig an Rationalität ist das Problem: die instrumentelle Rationalität hat kein Korrektiv in kulturell ebenso „geläufigen“ und implementierten Formen von sozialer und expressiver Rationalität.

 

(3) Lesbarkeit

Ich fand den Text sperrig zu lesen und gemessen am Verstehensaufwand unergiebig. Was macht den Text sperrig? Er ist durchsetzt mit unklaren Bezügen: das Produktionssystem beruhe auf einer Trennung der menschlichen Akteure von ihren Ressourcen (97) – meint das die Privatisierung der Produktionsmittel? – Ständig wird die Lektüre aufgehalten, weil man erstmal überlegen muß, was er meint, worauf er sich bezieht. Er benennt nicht, er deutet nur an, was er im Sinn hat.

Weitere Beispiele:

„Zu den Migranten von außerhalb … kommen jetzt jene inneren Migranten, die an Ort und Stelle verbleiben und dramatisch erleben müssen, wie ihr Land sie verläßt“ (14). Da denke ich als Leser bloß: „Hä?“ – Oft finden sich solche unvermittelten Wechsel von wörtlichem zu metaphorischem Sprachgebrauch, bei denen man lange rätseln muß, für was die Metapher steht. (Hier offenbar z.B. die PEGIDA-Leute, die in „innere“ Emigration gehen und sich von der Regierung verlassen fühlen.)

Ebenso verhält es sich, wenn er schreibt:, die Politik sei „buchstäblich gegenstandslos“, „da sie die Welt, in der sie zu leben behauptet, zurückweist“ (49). Politik hat immer einen Gegenstand. Aber gut: wenn die Politik die Welt zurückweist – ihren Gegenstand –, ist sie in gewissem Sinne gegenstandslos. – Aber es ist eigenartig, die relative ökologische Ignoranz der Politik damit zu umschreiben, die Politik weise die Welt zurück. Welchen Sinn, welchen Gewinn verbindet Latour mit dieser eigenartigen Ausdrucksweise?

„Dieses Terrestrische entwirft buchstäblich eine andere Welt, die sich von der „Natur“ ebenso unterscheidet wie von dem, was „menschliche Welt“ oder „Gesellschaft“ heißt. Die drei sind in Teilen politische Wesen, die aber nicht auf gleiche Weise den Boden besetzen, „Landnahme“ betreiben“ (95). – Was soll man mit so einem Satz anfangen? Was soll das heißen, Gesellschaft sei ein politisches Wesen, aber nur zum Teil? Was in diesem Zusammenhang „Landnahme“ heißen soll, kann man nur erahnen. Der Sinn seiner „Boden“-Metaphorik, die Buch und Titel durchzieht, hat sich mir generell nicht erschlossen.

Vermutlich würde das Unverständnis sofort verschwinden, wenn Latour ein paar Hinweise geben würde, wie diese andere Welt aussieht. So kann man nur spekulieren, was er im Sinn haben mag – So geht es fort: „Verständlich wird auch, dass zur Entdeckung dieser neuen Welt eine andere psychische Ausstattung erforderlich ist…“ – Ohne Hinweis, was diese andere Ausstattung ausmacht, ist der Satz trivial. Im Prinzip sagen beide Sätze nicht mehr als: „eine andere Einstellung sieht die Dinge anders und erfordert eine andere Einstellung“.

Das Erzeugungssystem setzt „Agentien, Akteure, lebende Wesen in Verbindung“ (97). Welche Verbindungen meint er? – Und dieses System ist daran interessiert Erdgeschöpfe zu erzeugen. Mhm. Das ist ein Satz, bei dem es schon allein schwer ist, eine sinnvolle Verständnisfrage zu stellen.

So geht es weiter: Dem System „liegt die Idee zugrunde, Bindungen zu kultivieren, was umso schwieriger zu bewerkstelligen ist, als die Lebewesen keine Grenzen aufweisen und sich fortwährend überlagern und ineinander verschränken“. – Was ist der Zusammenhang zwischen Erzeugen und Bindungen kultivieren? Und was soll das heißen, daß Lebewesen keine Grenzen aufweisen? Und wieso wird deshalb Bindung schwierig?

„Dabei stößt man überall auf Fragen der Erzeugung, im Rahmen von Gender, Rasse, Erziehung ebenso wie in dem von Ernährung, Beruf, technischer Innovation, Religion oder Freizeitverhalten“ (110f) – Was gibt es bei Erziehung oder Freizeit für Erzeugungsfragen? Ich verstehe das nicht. Wenn ich für „Erzeugung“ einsetze: „Bindungen kultivieren“ (was merkwürdig genug wäre), wird der Satz trivial, er muß also irgendwie mehr meinen – bloß was?

Auf diese Art und Weise blieb für mich vieles so vage und allgemein, daß ich immer nur hineinlesen konnte, was ich schon kannte. Ein direkter Erkenntnisgewinn war für mich mit der Lektüre kaum verbunden.

Den größten Gewinn zog ich aus den Begriffen Plus/Minus-Globalisierung und die Entgegensetzung von Global und Lokal sowie der Idee, für ihre Dialektisierung ein Ordnungsschema zu entwickeln.. – Unabhängig davon war die Lektüre inspirierend und bekräftigend. – Möglicherweise ist der Text verstehbarer für Leser, die schon ein paar Bücher von Latour gelesen haben. Der Text scheint mir wie eine Improvisation für seine Gemeinde, seine Eingeweihten. Das wäre durchaus legitim: kein Vordenker muß sein eigener Multiplikator sein.

 

Anmerkungen und Nachweise

Die Verlagsinformation über Latours Schrift gibt es hier: http://www.suhrkamp.de/buecher/das_terrestrische_manifest-bruno_latour_7362.html

1 In diesem Zusammenhang zeigt sich, daß Wirtschaft und Politik zwar den Anspruch auf Fortschrittlichkeit stellen, es ihnen dabei aber in schildbürgerhaftem Ausmaß nicht um Rationalität und Effektivität geht sondern allein um Profit: Solarthermie würde die Energiekosten der Haushalte reduzieren, die Klimaziele stark befördern und Deutschland politisch von Putin unabhängiger machen – aber – im Gegensatz zu Photovoltaik, Energiesparlampen, Häuserdämmung und Windkraft – kann die Großindustrie damit nichts verdienen, man braucht dafür nur den Installateurbetrieb von um die Ecke. Deshalb kommt diese Energieform in der Öffentlichkeit so gut wie nicht vor.

Das Unwissen treibt absurde Blüten: Ein Fachredakteur des „Spiegel“ schrieb 2009, Solarthermie sei unbedeutend, weil: man wolle es ja auch Nachts warm haben. – In Welzers „Futur Zwei“ von 2016 findet man unter dem Stichwort „Energiewende“ keinen einzigen Hinweis – das ist „Futur Null“.

Lit: Leukefeld, Timo et al. „Modern heizen mit Solarthermie“, Erlangen 2014. www.timo-leukefeld.de – Welzer, Harald et al. Futur zwei, Zukunftsalmanach 2017/18, Frankfurt a.M. 2016 – sowie meinen Beitrag „Schildbürgerpreis für den „Spiegel“

2 Näheres dazu in meinem Beitrag: „Erste Ideen für Bürgerräte“ auf philosophischeberatung.berlin

3 Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981, Bd. 1, S. 324f

4 Apel, Karl-Otto, Fallibilismus, Konsensustheorie der Wahrheit und Letztbegründung. In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg), S. 116-212, Frankfurt a.M. 1987

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