„Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön!“ – Macht sich Faust zum Testpiloten Gottes?

Inhalt:

(1) Der Inhalt der Wette (Lesezeit 4 Minuten)
— (1.1) Zusammenfassung des Dialogs Fausts mit dem Teufel
— (1.2.)  Deutungsmöglichkeit: Faust als Testpilot Gottes
(
2) Mißverständnisse bezüglich des Augenblicks und das Rätsel um Mephistos Szenenepilog (Lesezeit 3 Minuten)
(3) Was hat Faust zu verlieren, wenn er die Wette verliert? Entmytologisierung der Begriffe:
—„Ewige Verdammnis“, „Seelenverlust“, „Sich dem Teufel übergeben“ (Lesezeit 3 Minuten)
(4) Diskussion anderer Deutungen (Lesezeit 10 Minuten). Darin:
— Kritik an J.Schmidt (4.1), Boyle (4.2.3),  Jaeger (4.2.4.), Eibl u.a. (4.2.5)

(1) Der Inhalt der Wette

(1.1) Welche Intentionen Faust mit der Wette verbindet, wird ihm erst nach und nach im Dialog mit Mephisto bewußt. Zusammenfassend könnte dieser Dialog so umschrieben (paraphrasiert) werden:

Faust: Ich wette, ich bin nicht bestechlich durch schöne Augenblicke.

Mephisto: Das will ich schriftlich.

Faust: Du kapierst es nicht. Ich kann dir das gerne schriftlich geben, aber für mich ist das lächerlich. Mir geht es hier nicht um einen Deal, mir geht es ums Ganze! Wenn ich es nicht schaffe, meine Würde zu wahren und mich meinem Selbstbild gemäß zu verhalten, kann mir sowieso alles egal sein. – Aber das können Teufel nicht verstehen, dazu sind sie zu beschränkt, ihr könnt bloß in Kategorien von Lust oder Frust denken. – Ich brauche dich nur, um zu beweisen, daß reife Menschen selbst bei den diabolischsten Versuchungen ihre Würde dem Glück vorziehen, weil es ihnen um Glück nicht geht. Es geht ihnen darum, herauszufinden, was wir Menschen vom Dasein zu halten haben!

Mephisto: Vergiß es! Das habe ich in vielen tausend Jahren nicht geschafft, herauszufinden, was vom Dasein zu halten ist. Wenn selbst ich an dieser Frage noch kaue, habt ihr Menschen da nicht die geringste Chance.

Faust: Das wollen wir doch mal sehen! Ich will das ultimative menschliche Leben erleben, wie es unter normalen Umständen keinem Menschen möglich ist! Ich will alles erleben, was Menschen überhaupt erleben können!

Mephisto: Träum weiter, dafür bräuchtest du mehrere Leben und mehrere Persönlichkeiten.

Faust: Mist, ich fürchte, da hast du recht. Aber egal: ob ich nun beweisen kann oder nicht, daß das Leben selbst mit dem Erleben aller Schätze des Menschengeists nur scheitern kann, und ob ich dabei dem Unendlichen näher komme oder nicht, Hauptsache ist: Ich werde zeigen, daß hochgesinnte Menschen sich von keinem Glück der Welt davon abhalten lassen, Antworten auf die Fragen zu finden, was vom Dasein zu halten ist und was die Würde unter den Bedingungen des menschlichen Daseins erfordert!“ – (Dialog-Ende)

Offenbar verbindet Faust mit der Wette ursprünglich zwei weitere Intentionen: Er will erreichen, ein abschließendes Urteil fällen zu können, was vom Leben zu halten ist (nämlich daß es nur scheitern kann), und er will dem Unendlichen näher kommen als jeder andere Mensch. Beide Intentionen disqualifiziert Mephisto als illusorisch. Trotz dieser Enttäuschung sagt Faust nicht: „so haben wir nicht gewettet!“. Die Wette hat nach wie vor für ihn Sinn. Welchen?

1.2 Die Wett-Absicht: Macht sich Faust zum Testpiloten Gottes?

Die Wett-Formel:
„Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, so sei es gleich um mich getan. …  Kannst du mich mit Genuß betrügen, das sei für mich der letzte Tag. – Werd ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön, dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehen. … Wie ich beharre, bin ich Knecht, ob dein, was frag ich, oder wessen.“

Kernaussage der Wette scheint zu sein: „Es wird dir nicht gelingen, mich zu betrügen“.
Vor der Wette hatte Faust bereits eine Betrugsquelle entlarvt: den Anklang froher Zeit, der ihm vorgaukelte, das Leben sei lebenswert, und Faust damit in die „Trauerhöhle“ bannte, die das Leben nach Fausts Auffassung ist.

Also scheint Faust etwas zu wetten, was im weitesten Sinne mit den Worten umschrieben werden kann: „Kannst du mir vorgaukeln, daß das Leben keine Trauerhöhle ist, kannst du mir vorgaukeln, daß es irgendetwas gibt, das mich mit dem Leben so versöhnt, daß ich, ohne Antworten auf meine Fragen ans Leben erhalten zu haben, mein Streben nach Antworten aufgebe, dann hast du gewonnen!“

In der Wette mit dem Teufel macht Faust sich zum Versuchskaninchen, um sich selbst etwas zu beweisen zur Vergewisserung unserer Würde: daß ein hochstrebender Mensch sich von keinem Glück der Welt bestechen läßt, die Beantwortung der Fragen, wie wir unsere Würde wahren können und was wir vom Dasein zu halten haben, als zweitrangig herunterzustufen. Faust will damit zeigen, daß wir Menschen keine Marionetten der Natur sind sondern mit unserem Dasein unseren eigenen Zweck verbinden.

Faust meint das sehr ernst: „Das Streben meiner ganzen Kraft ist gerade das was ich verspreche!“ – Er will sich selber den stärksten Kräften aussetzen, um – als Testpilot Gottes – zu erweisen, daß die menschliche Würde unbestechlich ist. Die Selbstverpflichtung ist so groß, daß Faust sich über Mephistos Forderung eines schriftlichen Vertrags lustig macht.

Die Wette verloren hat Faust bereits dann, wenn er sich vorstellen kann, daß irgendetwas es wert wäre, dem Streben nach Würde sowie der Beantwortung der Frage, was wir vom Leben zu halten haben, den ersten Rang streitig zu machen.

Es ist keine Sportwette, wie: „Ich werde diese Strecke unter 60 Sekunden laufen!“, sondern eine Sachwette im Sinne Kants: Kant sieht im Wetten ein Maß für die Stärke, in der eine Überzeugung überzeugt. Als Beispiel dafür bot er gleich selber eine Wette an: „So möchte ich wohl alles das Meinige darauf verwetten, daß es wenigstens in irgendeinem von den Planeten, die wir sehen, Einwohner gebe“. – Es geht also nicht um die Stärke von Fausts persönlicher Selbstbeherrschung sondern um die Macht menschlicher Würde: Faust spricht nicht nur von sich selber sondern von „eines Menschen Geist in seinem hohen Streben“. (Zur Frage, ob es Faust nur um sich oder um die Menschen allgemein geht unten in Pkt. 4.3 mehr.)

Die Wette ist allerdings auch eine vom Unbewußten raffiniert konstruierte Kompromißbildung: Faust lehnt das Streben nach Glücksgütern ab, doch hat sich durch die Wette ein Arrangement geschaffen, in dem er hemmungslos nach Glücksgütern aller Art streben darf – rein aus Forschungszwecken natürlich, um zu beweisen, dass keines der Glücksgüter es wert ist, sich damit aufzuhalten!

(2) Mißverständnisse bezüglich des Augenblicks

(2.1) Die Wette bedeutet nicht, daß Faust nicht genießen darf. Er darf sich bloß nicht durch den Genuß bestechen lassen, sein Bemühen um Antworten auf seine Fragen zu Gunsten des Genusses zu vernachlässigen. Er spricht nicht davon, daß er sich nie auf ein Faulbett legen wird, er spricht nur davon, daß er sich nicht beruhigt darauf legen wird.

Er hätte die Wette nicht verloren, wenn er sagen würde: Ach, laß uns noch ein wenig hier auf der Terrasse verweilen, es ist gerade so schön“. Sondern Faust wettet, daß er nie denken wird: „Das ist so schön, da verliert mein Streben nach einer Antwort auf die Frage, was wir vom Leben zu halten haben, völlig an Bedeutung! Und ich gebe diese Frage gerne auf, wenn dieser schöne Augenblick nie aufhört!“

Oder meint Faust doch: jegliches Verweilen sei ihm verboten, nicht nur Verweilen auf Kosten des Strebens? Wir können die Wette allgemeiner fassen: Läßt er sich durch Genuß vom Tun des Richtigen abhalten, hat er verloren – nicht dem Buchstaben sondern dem Sinn nach: Verloren hat er, versäumt er zuviel durch das Verweilen, weil er sich länger aufhält, als für die Erholung erforderlich und für sein „Projekt“ verantwortbar.

Was heißt überhaupt rastlos? Wieviel Lebensrhythmus, wieviel Wechsel von Anspannung und Entspannung, Anstrengung und Erholung darf sein? Faust darf nicht rasten in dem Sinne: daß er nirgendwo länger verweilt, als unbedingt nötig zum Erholen oder zum Kosten von Genüssen. So verweilt er ja in der Szene „Wald und Höhle“ zum Genuß im Gebirge, das ist also erlaubt. Er muß sogar so lange verweilen, wie ein Genuß braucht, um seine ganze bestechende Macht zu entfalten! Er darf sich dann aber nicht länger damit aufhalten und Forschungsszeit vergeuden.

(2.2) Das Rätsel um Mephistos Szenenepilog: „Er soll mir starren, zappeln, kleben und seiner Unersättlichkeit soll Speis und Trank vor gierigen Lippen schweben, er wird Erquickung sich umsonst erflehen“. – Spinnt Mephisto? So tut er doch alles dafür die Wette zu verlieren! – Das hat in der Philologie zu vielen Spekulationen Anlaß gegeben, z.B. daß der Teufel an die Wette nicht gebunden ist (eine Hilfhypothese).

Meine Deutung: Gewettet wurde nicht um:  „Werd ich zum Augenblicke sagen verweile doch du bist so schön,“ sondern um: „Kannst du mich mit Genuß betrügen“, das schließt ein: mit der Aussicht auf Genuß betrügen. – Mit seiner Behauptung, der Mensch sei in seinem hohen Streben so emanzipiert von seinen naturgegebenen Trieben, daß er auf die Freuden der Triebbefriedigung gut verzichten könne, könnte Fausts Wette auch lauten: „Ich bin durch Erquickung nicht bestechlich, ich werde niemals Erquickung erflehen!“

Wenn Faust um Erquickung fleht und winselt, erniedrigt er sich und verliert seine Würde. Bereits dann hätte er die Wette dem Sinn nach verloren, auch ohne den Augenblick zum Verweilen aufzufordern.

Mit dem Verweigern von Erquickung will Mephisto die Gier anstacheln, das Schmachten. Er setzt darauf, daß früher oder später Fausts Disziplin ermüdet und er nicht länger widerstehen kann, sich der Aussicht auf Erlösung würdevergessen hingeben zu wollen.

Auf eine Kurzformel gebracht wird hier soetwas gesagt wie: „Ich werde unter Folter nicht gestehen!“ – „Das wollen wir doch mal sehen!“

Aufgrund der jahrtausendelangen Erfahrung mit Menschen weiß Mephisto: Die Sache wird eine Dynamik bekommen, die Faust unterschätzt. Fausts Schmachten nach Erquickung wird in einem Maße zunehmen, das Faust sich nicht vorstellen kann. Und dieser Dynamik wird er unterliegen:

Wenn einer sein Leben nur auf tolle Erlebnisse ausrichtet, dann hat er nur noch Freude durch tolle Erlebnisse. Und weil es keine vollendet tollen Erlebnisse gibt, weil selbst die tollsten Erlebnisse noch mit einer Rest-Enttäuschung aufwarten, verbleibt eine Unzufriedenheit. Und  die kann nicht aufgewogen werden durch Freude an sinnvoller Tätigkeit oder an guten Beziehungen zu anderen Menschen, sondern jede Unzufriedenheit muß mit neuen Erlebnissen weggemacht werden, die zu neuen Unzufriedenheiten führen. – Erst, als Faust ins Gebirge abhaut weil er mit seiner Liebe überfordert ist, hat Faust Zeit, sich über die Dynamik, der er sich ausgesetzt hat, klar zu werden: „Im Genuß verschmacht ich nach Begierde“. (Mehr dazu in: [Wald und Höhle])

Doch auch Mephisto hat sich verrechnet: Am Schluß muß er an Fausts Leichnam zugeben daß Faust ihm „mächtig widerstand“.

 

(3) Was hat Faust zu verlieren, wenn er die Wette verliert?

Welchen Sinn können wir heute mit den religiösen Vorstellungen von Seelenverlust und ewiger Verdammnis verbinden?

Die ewige Verdammnis ist der ultimative Shit-Storm. Das bedeutet: Aus der Menschengemeinschaft ausgeschlossen und allein zurückgelassen zu werden, endgültig, für immer, als letztes Wort. Den Verdammten wird abgesprochen, ein Mensch zu sein, der bei anderen Wertschätzung, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft auslöst. Stattdessen lösen Verdammte  nur Gefühle von Abscheu, Verachtung, Empörung und Ablehnung aus, und zwar in alle Ewigkeit.

„In alle Ewigkeit“ bedeutet: Es ist grundsätzlich völlig indiskutabel, auch bloß darüber nachzudenken, ob Ausgeschlossenen je wieder die Chance von Begnadigung und Vergebung eingeräumt werden könnte. Sondern alle Seligen werden für immer ausschließlich und entschieden mit Abscheu auf jeden Gedanken an einen Verdammten reagieren. – „Aus dem Leben Gottes entfernt werden“ heißt es bei Augustinus, und bei Calvin: „von aller Gemeinschaft mit Gott abgeschnitten zu sein“ (historisches Wörterbuch der Philosophie).

(Der jüdisch-serbische Schriftsteller Alexander Tisma versucht ein solches Gefühl von Verdammtheit zu beschreiben in seinem Roman „Kapo“: Ein Jude kollaboriert im KZ aus Todesangst mit den SS-Schergen und hilft mit beim Massenmord, nutzt  seine Machtstellung aber auch aus, um weibliche Gefangene sexuell zu mißbrauchen. – Nach dem Krieg kann er sich an nichts mehr freuen, fürchtet ständig, auf der Straße wiedererkannt und unter dem Abscheu der Leute abgeführt zu werden. Durch den Gedanken „Wenn die wüßten, was ich gemacht habe“ erlebt er sich nicht mehr den andern Menschen zugehörig sondern wie in einer Art Zwischenwelt, als Häftling in einem Lager nur für ihn selber… )

Seelenverlust ist ein Sinnbild für das Gefühl, sich selbst untreu geworden zu sein, auf die eigenen Gefühle von Stimmigkeit und Unstimmigkeit nicht gehört und dadurch gegen das eigene Selbstbild und die eigenen Werte grundlegend verstoßen zu haben, ein „Abfall von sich selbst“, eine „Untreue gegen das eigene Wesensgesetz“4. Das bedeutet: Statt selbstbestimmt gewesen zu sein, wurden überwiegend Entscheidungen getroffen, zu denen man selber nicht stehen kann: gierige, bequeme oder feige Entscheidungen.

Seelenverlust bezeichnet die Verzweiflung eines Menschen, der sich vor seinem Tod zugeben muß, daß er sein Leben in der Hauptsache selbstbezogen und sinnlos verbracht hat, daß er aus den eigenen Fähigkeiten nichts gemacht, dem eigenen Leben keinen Sinn gegeben und stattdessen das Leben vergeudet oder Anderen geschadet hat durch Rücksichtslosigkeit, Ausbeutung oder gar Bösartigkeit. Seelenverlust ist das Gefühl, daß das eigene Leben für alle anderen Menschen bedeutungslos und verachtens- oder gar verabscheuungswert war.

Sich dem Teufel zu übergeben ist gleichsam ein Seelenselbstmord: sich selbst grundlegend zu entwerten, aufzugeben und sich der Verzweiflung zu überlassen – z.B. in dem man sich nur noch betrinkt. – Daß Faust bereit ist, sich dem Teufel zu übergeben, falls er seinem Selbstbild von Unbestechlichkeit nicht entspricht, ist ein Selbstbestrafungswunsch. „Dann will ich gern zugrunde gehen“ heißt soviel wie: dann habe ich nichts anderes verdient.

Faust hat ein überwertiges, unreifes Selbstkonzept, eine antiquierte Vorstellung vom „freien Willen“, von dem, was wir erreichen können, wenn wir uns bloß gehörig zusammenreißen. Er kann sich nicht verzeihen. Statt einer Fehleranalyse: „Wie konnte mir das passieren?“ gibt es ein moralisches Todesurteil. – Die Muttergottes wird ihm da später den Kopf waschen (im Epilog: „Das Ewig-Weibliche als Goethes Formel für soziale Intelligenz„).

 

(4) Diskussion anderer Deutungen

(4.1) Die Unklarheiten bezüglich der Wette

Warum setzt Faust seine Seele auf Spiel, um sich in das Sinnenleben zu stürzen, das er doch gerade verworfen hat? „Man schließt keinen Vertrag, um etwas zu erhalten, was nichts wert ist“ (Schmidt, 130ff). – Die meisten Germanisten-Erklärungen zu dieser Frage sind unbefriedigend. Schmidt beantwortet die Frage mit den verschiedenen Intentionen Fausts, die sich erkennen oder erschließen lassen. Schmidt meint: Faust will sich durch den Taumel betäuben, aber außerdem, ohne daß es ihm bewußt ist, auch der Sinnlichkeit frönen. Und  zusätzlich strebe er „im Genuß eine allhaltige Lebens- und Selbsterfahrung an, eine unendliche Expansion des Ich“ (136). (Was das wohl heißen soll: „unendliche Expansion des Ich“?)

Schmidt ist der erste Interpret, bei dem ich eine Bestätigung für meine Vermutung gelesen habe, daß Faust mehrere Intentionen unklar mit der Wette verbindet. Allerdings übersieht Schmidt Fausts Intention, das Scheitern des menschlichen Lebens zu beweisen: Wenn Faust „der Menschheit Krone“ erringen will und von vornherein glaubt, daß damit sein Leben genauso scheitere, wie das Leben aller anderen Menschen, dann glaubt er doch wohl: Selbst mit dem denkbar erfülltesten Leben würde ein hochstrebender Mensch das Gefühl des Scheiterns verbinden. Also scheint eine Intention Fausts zu sein, zu beweisen, daß das Leben bloß scheitern kann. (Welchen Gewinn Faust darin sieht, das bewiesen zu haben, darüber können wir nur spekulieren.)

Doch Schmidt faßt die Worte „am End auch ich zerscheitern“ lediglich so auf: Faust wolle „sein eigenes Selbst nur deshalb zu dem der Menschheit erweitern, weil er seiner Begrenztheit und Beschränktheit zu entkommen versucht. Und von vornherein durchschaut er auch dies als einen vergeblichen aber immerhin berauschenden Versuch. Denn ausdrücklich spricht er schon vom Scheitern“ (134).

Zunächst: Faust sagt etwa: „Ich will taumeln, alles erleben, was es gibt, und schließlich genauso scheitern wie alle andern auch.“ Wirkt das so, als ob er sagen wollte: „Ich will meiner Begrenztheit entkommen, ich weiß zwar, daß ich damit nur scheitern kann, aber immerhin ist der Versuch berauschend.“ – Damit seine Lesart stimmt muß Schmidt „Schmerzen“ umdeuten als „höchste Steigerung von Sensibilität“ (135), und überliest dabei: daß es um Wohl und Weh geht, also ausdrücklich um Leid, nicht um geschärftes Empfinden.

Ja, Faust will auch dem Unendlichen näher kommen, aber daß er damit scheitern muß, durchschaut er gerade nicht von vornhinein, sondern erst, als Mephisto grinst: „Du bleibst doch immer was du bist“. – Jedenfalls erwidert Faust darauf nicht: „Für wie blöd hälst du mich? Glaubst du etwa, ich weiß nicht selber, daß das alles vergebens ist“, sondern: „Ich fühls, vergebens hab ich…“. Vorher hatte er sich über Mephistos Realitätsprüfung empört: „Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist, der Menschheit Krone zu erringen“. – Die Abfolge des Gesprächs klingt nicht danach, daß Faust von Beginn an die Vergeblichkeit seines „Kronenprojekts“ durchschaut hätte. Also muß es bei dem Scheitern des Menschseins, das er in seinem Pessimismus vermutet (von Durchschauen kann hier eigentlich nicht die Rede sein) um das Scheitern einer anderen Intention gehen, als beim Scheitern seines Wunsches, dem Unendlichen durch „der Menschheit Krone“ näher zu sein. Dieses Scheitern durchschaut Faust nicht von Beginn an, sondern da wird er von Mephisto desillusioniert.

Der unbewußten Kompromißbildung, daß Faust rein aus Forschungszwecken sich jetzt hemmungslos dem Triebleben hingeben kann, gibt Schmidt dagegen zuviel Gewicht. Natürlich würde ein Freud-fixierter Psychoanalytiker behaupten: Die Wette steht bloß im Dienste der Triebe, die haben den ganzen Gedankenapparat der Wette inszeniert und wehren sich mit Rationalisierungen dagegen, daß die Triebe als der eigentliche Motor des Ganzen entdeckt und verboten werden könnten. – Eine solche Lesart wäre nicht bloß hypothetisch sondern vor allem: langweilig. Es ist doch viel interessanter, Goethes Text zu nutzen, um die konfliktreiche Dynamik zwischen Bewußtsein und Trieben vorstellbarer zu machen, statt bloß die einseitige hypothetische Vorstellung zu stärken, das Bewußtseins sei eine Marionette der Triebe, und habe keine Chance, bei dem, was die Triebe beschließen, in irgendeiner Form mitzubestimmen – es sei denn, man mache eine Psychoanalyse.

(4.2) Weitere Deutungsmöglichkeiten

(4.2.1) Zusammenfassung meiner Deutung: Faust wettet, daß Menschen – zumindest Menschen wie er („gute“ Menschen) – Tat und Erkenntnis dem Genuß immer vorziehen werden und nicht glücklich damit würden, den höchsten Glückszustand festzuhalten, selbst den vollendetsten nicht!

(4.2.2) Möglich ist auch folgende Auffassung: Egal wie wunderbar ein Augenblick sein wird, keiner ist völlig leidfrei, völlig frei von Beunruhigung, von Dissonanzen, Bekümmernis, Zweifel, Mitleid, Wissen und Trauer um das Leid der Welt, die Not anderer Menschen. Die Dissonanz im schönen Augenblick stachelt weiter zu Tat und Schaffen an. Wird Faust diese Dissonanz ignorieren, dann legt er sich beruhigt auf das Faulbett. – Und einen Augenblick ohne Dissonanz zu wünschen, wäre ebenfalls eine Ignoranz der Not in der Welt. Das wäre eine würdelose Einstellung.

Tatsächlich ist Faust nahe dran an so einer würdelosen Einstellung, als er seinem Sohn Euphorion verbieten will, sich in der Welt umzuschauen („immer weiter muß ich schauen“), damit er nicht entdeckt, was für ein Krieg um sie herum tobt. Und tatsächlich erntet er Euphorions Spott: „Träumt ihr den Friedenstag? Träume, wer träumen mag!“

(4.2.3) Der britische Germanist Nicholas Boyle, Autor einer Goethe-Biographie, die auch in Deutschland als Standartwerk gilt, hat einige Gedanken zur Wette (Boyle 2006), die meine Deutung in gewissem Sinne bekräftigen, geht mit ihnen aber in eine andere Richtung:

„Das einzige, das in Fausts Welt Wert hat, besitzt er schon – sich selbst. Es gibt nichts, das der Kraft gleichkommt … die er in sich selbst findet, der Kraft, den Wert aller andern Dinge zu verneinen. … Fausts Wette lautet: mag der Teufel sich noch so sehr anstrengen … um Erlebnisse irgendwelcher Art heranzuschaffen, Faust wird darin nichts entdecken, was ihm selber vergleichbar wäre… . Zu … jedem Erlebnisse … wird er sagen: … darin erkenne ich mich, den einzig Wertvollen, nicht wieder“ (S.38). (Was soll das heißen: Sich in einem Erlebnis wiedererkennen? Bei solchen Unklarheiten vermute ich immer, daß die Autoren ihre Intuitionen nicht durchdacht haben.)

… „Der Wert des Lebens ist das Leben selbst, so wettet er, und das Leben leben heißt, … es als den Stoff behandeln, in dem er die eigene Kraft und die eigene Freiheit fühlt, immer neues Leben zu leben“ (S.40). – Hier schwenkt Boyle in die Deutungen ein, daß es Faust letzlich doch um tolle Erlebnisse geht, statt darum, zu beweisen, daß Menschenwürde unbestechlich ist. – So kann Boyle die Wette mit der Logik des Kapitals gleichsetzen: Genug ist nie genug, es geht immer noch mehr.

Die Frage ist jedoch: Was in Goethes Text legt nahe, daß Faust derart nur um sich selber kreist? Daß es nur um seinen persönlichen Wert geht? Und nicht um Menschenwürde überhaupt? – „Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle, erstarren in dem irdischen Gewühle“ – da redet Faust nicht von sich sondern vom Los der Menschen überhaupt. – Und er will durch Taten beweisen, daß Manneswürde nicht der Götterhöhe weicht. Da geht es ihm auch nicht bloß um ihn selbst, sonst hätte er gesagt: meine Würde. (Hätte in diesem Augenblick jemand Faust gefragt: Und was ist mit Frauenwürde? Was hätte er wohl gesagt? Wahrscheinlich: „Das müssen die Frauen erweisen, ich kann nur für mein Geschlecht einen Beweis antreten.“)

Und wenn Faust später erklärt, sein Selbst zum Menschheitsselbst erweitern zu wollen, um zu beweisen, daß auch damit das Leben scheitert: Was hätte das für einen Sinn, wenn es ihm nur um sich selber ginge? Es wäre völlig irrelevant, was seine Erlebnisse mit dem Rest der Menschheit zu tun haben. Seine Verse wären unsinnig.

Boyle meint: „So ist Fausts Wette einfach die verärgerte Behauptung … daß die Welt nichts enthält, das ihn befriedigen könnte“ (S.41). Ich denke dagegen: Faust wettet, daß es nichts im Leben gibt, das den Widerspruch zwischen Würde und Wirklichkeit pazifieren würde.

(4.2.4) Der Germanist Michael Jaeger sieht in der Wette eine „Signatur der Moderne“: „Wie Faust, so fürchten auch die politischen und ökonomischen Revolutionäre das Verweilen. Niemals werden sie zum Augenblicke, zu einem Zustand, zu einem Produkt sagen: „du bist so schön“ und „ich bin mit dir zufrieden“, haben sie doch stets das verlockende Andere, das Noch-Nicht-Daseiende im Blick, was dann aber, sobald es da ist, auch gleich wieder verneint wird“ (Jaeger, 2021, S.75).

(4.2.4.1) Wie ist diese Lesart vereinbar mit Fausts Richtigstellung, nicht nur das Wohl sondern auch das Weh der Menschheit stellvertretend zu erleben: „Von Freud ist nicht die Rede. .. Mein Busen soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen“?

Wettet Faust, daß unsere Würde so ansprüchlich ist, daß es für uns keinen vollendeten Augenblick geben kann, oder wettet er, daß kein noch so vollendeter Augenblick uns mit der menschlichen Existenzform versöhnen kann? (Und daß Versöhnung daher wenn überhaupt nur durch Taten, nicht durch Glückserlebnisse möglich ist.)

Glaubt Faust, daß jeder Augenblick „so schrecklich defizitär“ sei, daß er sofort „verflucht“ werden muß – wie Jaeger vermutet (82)? – Glaubt Faust, daß er nur deshalb zu keinem Augenblick sagen wird: „Verweile doch du bist so schön“, weil es so einen schönen Augenblick für Menschen nicht geben kann? – Oder wagt er die Wette, weil er sich auch durch das Allerschönste nicht bestechen lassen will?

Jaeger scheint als maßgebliches Stichwort der Wette das Wort „Augenblick“ aufzufassen, statt das Wort „betrügen“: „Sobald er einen Augenblick innehält in der permanenten Bewegung, will er seine Freiheit und seine Existenz verlieren“ (Jaeger S. 74). Auch diese Formulierung ist fragwürdig: Wettet Faust, daß er die Wette verloren hat, sobald er innehält, oder wenn er wünscht, der Augenblick solle andauern?

Mit der Wettformel vom Verweilen des Augenblicks gibt Faust ein Kriterium für Betrug an. Ohne diese Formel könnte Mephisto sagen: „Was soll denn das heißen: Mit Genuß betrügen?“ – Das „Verweile Doch“ zu deuten ohne den Zusammenhang mit dem Betrug muß daher zu Mißverständnissen führen.

Jaegers Auffassung kommt außerdem in der Arkadienszene in Schwierigkeiten: Da ist Faust dann doch der wunderbare Augenblick Pflicht. Jaeger braucht dafür eine Hilfshypothese: Es gebe im Drama „Regionen“, in denen das „Gesetz der Wette“ nicht gelte (88). Denn sonst hätte Faust in Arkadien seine Wette verloren.

Ohne diese Hilfshypothese entsteht eine spannende Frage: Ja, wieso hat Faust in Arkadien die Wette eigentlich nicht verloren? – Eine mögliche Antwort wäre: Weil Faust die Wette gut kalkuliert hat: Faust ist sich sicher: das „Höchste Dasein“, nach dem er ahnungsvoll strebt, ist kein „Schöner Augenblick“, weil das „Höchste Dasein“ nichts mit Genuß zu tun hat sondern allein mit Tat. So kann Faust ohne die Wette zu verlieren feststellen: „Ok, das ist jetzt wirklich ein supertoller Augenblick, der wäre es an sich schon wert, meine Autonomie dafür aufzugeben! Aber ich gebe sie dafür nicht auf! Sie ist mir doch noch wertvoller als selbst dieser wundervollste Augenblick meines Lebens in den Armen der schönsten Frau der Welt! – Selig zu sein ist ja ganz schön, aber autonom zu sein ist und bleibt doch besser, viel besser, das merke ich gerade wieder ganz deutlich!“

Es ist zwar möglich, Fausts Worte in Arkadien so zu interpretieren, daß er den Augenblick zum verweilen auffordert: „Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, die Gegenwart allein ist unser Glück. … Es ist ein Traum, verschwunden Tag und Ort. … Dasein ist Pflicht und wärs ein Augenblick!“ – Man kann die Worte aber mit gleichem Recht auch anders interpretieren: So, daß darin kein Impuls zum Ausdruck kommt, seine Autonomie zu Gunsten dieses Augenblicks ernsthaft in Frage zu stellen.

Und rein logisch – ohne Hilfshypothese – muß er in diesem Augenblick verweilen, um ihn auf sich wirken zu lassen, er muß sich die mediterranen Genüsse auf der Zunge zergehen lassen, um zu wissen, ob er da wirklich nicht mehr weg will. – Das weiß doch jeder Weinkenner: Es ist keine Kunst, alle Weine als defizitär zu verwerfen, wenn wir bloß einen Schluck von jedem kurz in den Mund nehmen und gleich wieder ausspucken! – So ein Augenblicks-Probier-Verhalten bräuchte Mephisto nicht zu akzeptieren, zumal ihm Faust das Streben seiner ganzen Kraft versprochen hat, und keine Mogelei.

(Boyle kommt zu einer anderen Lösung als Jaeger: Faust läßt das Erlebnis in Arkadien gar nicht zur Entfaltung kommen, weil er sich an die Wette gebunden fühlt. Er verkürzt das Erlebnis auf einen Augenblick, den er dann abwerten kann (Boyle 2006 S.43). – Doch wie würde sich das mit Fausts Selbstverpflichtung vereinbaren: „das Streben meiner ganzen Kraft ist gerade das, was ich verspreche“?)

(4.2.4.2) Ich bezweifle, daß Faust wettet, kein realer Augenblick sei gut genug für ihn. Faust denkt nicht: „Wenn ich mich mit irgendwas zufrieden gebe, dann verrate ich mich selbst, denn für mich ist nur das Vollendete gut genug!“ Oder daß er den Schönen Augenblick abwertet mit dem Gedanken: „Du reichst mir nicht! Ich werde mich nicht mit dir begnügen! Ich sehe gar nicht ein, mich von dir davon abhalten zu lassen, noch was Tolleres zu erleben!“

Was Faust am Verweilen schlimm findet ist nicht, daß er was Besseres verpaßt, sondern daß er sich beim Verweilen zum Knecht macht. Es geht Faust nicht um Genuß sondern um Tätigkeit: Er klagt im Anfangsmonolog nicht darüber, nicht genießen zu können wie ein Gott, sondern, nicht so wirken zu können wie ein Gott. Seine Wette scheint sich also darauf zu beziehen, daß er niemals ein tätiges Leben gegen Genuß eintauschen würde.

(4.2.5) Eine Variante zu (4.2.4.1) ist die Lesart des Germanisten Eibl:  Faust zweifelt, dass es einen wahrhaft erfüllten Augenblick im menschlichen Leben geben könne. Daher glaubt er, dass er darauf gefahrlos wetten kann: „Einen wahrhaft erfüllten Augenblick herstellen kann nur ein Gott, kein Teufel. Deshalb kann Mephistopheles gar nicht gewinnen“.

Diese Lesart hat außer den bereits genannten Nachteilen einen weiteren: daß sie einen dummen Teufel voraussetzt. Freilich geht es ja bei dem Streben nach Vollkommenheit gerade um jenen „göttlichen“ Funken, den der Teufel nicht begreift und den der Teufel, laut Beschluß des Herrn im „Prolog im Himmel“, endlich mal begreifen lernen soll. Danach wäre das ganze Drama nur das Protokoll einer Nachhilfelektion für Mephisto. Auch eine interessante Lesart.

Schwerwiegender ist aber auch bei dieser Lesart, daß sie nicht erklären kann, wieso Faust später sagt: „von Freud ist nicht die Rede… mein Busen … soll keinen Schmerzen sich verschließen… und am End auch ich zerscheitern“.

Eine Bestätigung für meine Auffassung, daß „Betrug“ und nicht „Verweilen“ das Schlüsselwort der Wette ist, fand ich bei dem Germanisten Hohlfeld (1920). Er macht darauf aufmerksam, daß die Wette vor dem Wort vom Verweilen des Augenblicks per Handschlag abgemacht wurde, das Verweilen des Augenblicks also gar nicht Gegenstand der Wette ist.

Interessant finde ich seinen Hinweis, daß Faust drei Versuchungen benennt, denen er nicht verfallen will: Faulheit, Selbstgefälligkeit und Genuß. So habe ich das noch gar nicht gesehen!

Hohlfeld geht allerdings davon aus, daß diese drei Begriffe sich nur auf „niedrige“ Trieb- und Stolzbefriedigungen beziehen, daß also jedes Verweilen eines schönen Augenblicks „hohen“ Glücks – wie z.B. in Arkadien oder bei der Vision eines freien Volkes – nicht mit der Wette gemeint ist. – Diese Auffassung mutet mir zu simpel an. Und sie verträgt sich weder mit Fausts Fluchlitanei noch kann sie sinnvoll erklären, warum Faust ausführt, daß es ihm nicht um Freude gehe und selbst mit „der Menschheit Krone“ das Leben nur scheitern könne. Beides hätte Goethe sich sparen können, wenn es nur darum ginge, zu zeigen, daß Menschen in der Lage sind, höhere Freuden den niedrigen vorzuziehen. – Entscheidend ist jedoch, daß Hohlfelds Auffassung nicht vereinbar ist mit Fausts Erklärung: „Wie ich beharre bin ich Knecht“. Es scheint Faust um jegliches Beharren zu gehen, egal ob Beharren in der Höhe oder in der Tiefe.

Meiner Auffassung nahe, aber zu kurz gegriffen ist die folgende Paraphrase eines britischen Germanisten:

„Wenn du alle höheren Bestrebungen in mir unterdrücken kannst, so daß ich absolute Befriedigung in den Freuden und Genüssen finde, welche du mir anbietest, so daß ich aufhören werde, nach irgend etwas Anderm als dem Genuß des Augenblicks sehnlich und gierig zu verlangen, dann und nur dann erst bin ich dein!“ (aus: Kommentar zu Goethes Faust / Hjalmar Hjorth Boyesen, Leipzig 1929, S. 61f – Digitalisat)

Zunächst ist auffällig, daß Boyesen nicht ausführt, was diese „höheren Bestrebungen“ konkret sein sollen. Soll Faust daran denken, etwas Gutes für die Menschheit zu verwirklichen? Gegen Hunger und Krankheiten zu kämpfen, die Menschen zu bessern und zu bekehren usw.? Doch warum setzt er Mephistos Zauberkräfte dann nicht dafür ein? – Oder warum ist der Deal dann nicht der: Faust engagiert sich für das Gute in der Welt und während er das tut, muß der Teufel versuchen, ihn durch Versuchungen davon abzubringen.

Da von solchen Absichten nicht die Rede ist, scheint Faust also alle „höheren Bestrebungen“, alles Engagement für die Wissenschaft oder die Menschheit zurückstellen zu wollen, um zu beweisen, daß er selbst dann keiner Versuchung erliegt, wenn er in seinem restlichen Leben nichts anderes macht, als sich hauptberuflich teuflischen Tests zu unterziehen. Doch was wäre an diesem Beweis so wichtig, daß er alle seine hohen Bestrebungen für das Wohl der Menschheit bis auf Weiteres zurückstellt? – „Nein, ich kann mich nicht in Afrika gegen Aids engagieren, ich kann auch mein philosophisches Opus Magnum nicht mehr schreiben, für all das hab ich keine Zeit mehr, ich muß mich bis ans Lebensende ständig Versuchungen aussetzen, um zu testen, ob ich den Augenblick zum verweilen auffordere oder nicht!“  Wie schwachsinnig wär das denn?

Wie so oft bei abstraktem Denken entsteht bei Boyensens Ausführungen ein Aha-Erlebnis, das sich sofort verflüchtigt, wenn nach der Konkretisierung gefragt wird.

Wieso jemand, der unter Einsatz seines Lebens gegen die Pest gekämpft hat, die Möglichkeiten, die er durch Einsatz seiner Seele gewinnt, nicht für gute Zwecke einsetzt, ist erklärungsbedürftig. – Entweder, Faust ist derart schwermütig („depressiv“), daß ihm das Wohl und Wehe der Menschheit völlig am Arsch vorbeigeht, oder er sieht in der Wette selbst einen guten Zweck, ein für die Menschheit wichtiges Projekt, etwa wie die erste Expedition zum Südpol, für das es angemessen ist, alles andere stehen und liegen zu lassen.

Der Germanist Arens sieht es ähnlich wie ich, daß es nicht um den Buchstaben der Wettformel sondern um ihren Sinn geht: „Natürlich ist es nicht entscheidend, daß diese Worte … wirklich ausgesprochen werden. Es genügt, diesen Wunsch zu empfinden“. – Dennoch verkennt Arens die Wette grundlegend. Er hält sie für überflüssig: Ein starker Charakter würde einfach jeder Versuchung widerstehen, der bräuchte dazu keine Wette. – Arens denkt nicht an den Unterschied zwischen Sport- und Sachwette. Faust geht es ja nicht darum, sich und andern zu beweisen, daß er, Faust, ein Hochleistungssportler im Widerstehen von Versuchungen ist. Sondern ihm geht es darum, die Macht menschlicher Würde zu demonstrieren. Er will nicht zeigen, was für ein toller Hecht er ist, sondern was es heißt, ein Mensch zu sein.

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Literaturnachweise:

Arens, Hans,  Kommentar zu Goethes Faust I. Heidelberg 1982, S.183:

Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft B 853

Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. Joachim Ritter et al., Bd. 11, S. 600

Jochen Schmidt, Goethes Faust, München 1999, S. 130f

Alexander Rudolph Hohlfeld, Pakt und Wette in Goethes Faust, in: Aufsätze zu Goethes Faust I Hg. Werner Keller, Darmstadt 1991S. 397ff

Karl Eibl, Das monumentale Ich. Wege zu Goethes ›Faust‹, Frankfurt a.M. 2000, S.127f – Ein Aufsatz Eibls dazu ist hier lesbar.

Nicholas Boyle, Der religiöse und tragische Sinn von Fausts Wette, in: Hg. Jaeger et al. „Verweile doch“, Goethes Faust heute, Blätter des Deutschen Theaters 3, Berlin 2006

Michael Jaeger, Goethes „Faust“, das Drama der Moderne. München 2021 (C.H.Beck)
Ders. Fausts Revolution in: Hg. Jaeger et al. „Verweile doch“, Goethes Faust heute, Blätter des Deutschen Theaters 3, Berlin 2006, S. 108

 

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