Hat Faust einen Burn-Out?

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„Burn-Out“ ist das landläufige Wort für eine anhaltende Erschöpfung, die klinisch unter den Fachbegiff „Depression“ subsumiert wird („Erschöpfungsdepression“), weil sie mit anhaltenden Störungen des Antriebs und Denkens verbunden ist.

In einem Werk des Kirchenvaters Cassian über das Klosterleben fanden Philologen eine in allen Einzelheiten auf Fausts große Klage passende Beschreibung eines „Erschlaffens“, lateinisch „acedia“, das heißt etwa: Antriebslosigkeit, Entmutigung, Lähmung, Schwermut. Die Übereinstimmung zwischen beiden Texten ist so frappierend, daß es wahrscheinlich ist, daß Goethe diese Beschreibung als Quelle genutzt hat.

Zitat Cassian (nach Arens): „Hat dieser Geist [gemeint ist der Geist der acedia] einmal von der unglücklichen Seele Besitz genommen, so erzeugt er in ihr Schauder über den Aufenthaltsort … und klagt, … daß er jedes geistigen Gewinns entbehre und an diesem Ort unfruchtbar sei“, auch habe noch keiner „aus seiner Unterweisung und Belehrung Nutzen gezogen“. – Arens faßt weitere Ausführungen Cassians zusammen: „Damit verbinden sich: Verachtung der Brüder, Klage über materielle Unbequemlichkeit, Fluchtgedanken und schließlich die Flucht.“

(Zum Vergleich: Faust klagt, daß er nichts Rechtes weiß, daß ihm all seine Bücher und Instrumente nichts gebracht haben, daß all seine Lehren nichts nützen, daß ihm Gut und Geld fehlen und daß er noch im Kerker seines Mauerlochs steckt. Außerdem hält er sich für gescheiter als seine Kollegen, und schließlich entschließt er sich zur Flucht: „Flieh, auf hinaus ins weite Land!“)

„Nach mittelalterlicher theologischer Lehre führt die Trägheit, die aus dem Hochmut … stammt, zur Traurigkeit und zur Verzweiflung, beides Geistesverfassungen, die das Streben nach Höherem unterbinden“ (Arens 96f). Hochmut bedeutet hier: hohe Ansprüche zu stellen ans Leben, an die eigene Wirksamkeit und Erkenntnis, Ansprüche, die unrealistisch sind und deshalb nur enttäuscht werden können. Es ist eine Unfähigkeit, sich mit dem den Begrenzungen zufrieden zu geben, die das Leben uns setzt

„Burn out“ wird als „Gratifikationskrise“ bezeichnet: Einem Ungleichgewicht von Verausgabung und Vereinnahmung. Menschen mit hohen Ansprüchen sind prädestiniert für diese Krise: Um ihre Ziele zu erreichen, ist hohes Engagement erfordert, aber die Ansprüche sind so hoch, daß sie nie erreicht werden, so daß die Betroffenen nie erleben, daß sich ihre Bemühungen lohnen. So kommt ihr Engagement einem Raubbau an ihrer Vitalität gleich, weil sie ihrer Vitalität mit der Aussicht auf das Erreichen ganz hoher Ziele immer neue Mittel abringen, ohne daß diese Investitionen die Erträge bringen, die die Ausgaben decken. „Unbedingte Tätigkeit macht zuletzt bankrott“, meinte Goethe dazu. – Der Germanist Schmidt weist weitläufig nach, wie diese Lebensweisheit durch die Jahrhunderte ihren Niederschlag im Begriff der „Melancholie“ fand und wie vor allem Gelehrte dazu prädestiniert gewesen sein sollen.

Das würde schon passen: Gott weiß, daß Faust in Gefahr ist, einen Burn-Out zu bekommen und sich umzubringen. Da kommt ihm der Nörgler Mephisto gerade recht, um ihn mittels einer Wette auf Faust anzusetzen, damit Faust mit der Verfügung über die Möglichkeiten des Teufels ganz neue Aussichten für sein Leben bekommt, die ihm neue Kraft und neuen Mut geben.

Der Germanist Schöne zweifelt allerdings, daß sich „erschlaffen“ auf acedia bezieht, er sieht es nur auf handfeste Tätigkeit bezogen, auf „Faulbett“ im unübertragenen Sinne: „Tatenlosigkeit auf dem weltlichen Faulbett“ (176f).

Was für Schönes Lesart spricht: Gott bringt Erschlaffen in Zusammenhang mit: die unbedingte Ruh lieben. Das klingt nicht nach der Antriebstörung durch Melancholie die Goethe am Schluß des Dramas vom Sorgendämon minutiös und besser als jedes Psychiatrielehrbuch auf den Punkt bringen läßt: „Soll er gehen, soll er kommen, der Entschluß ist ihm benommen“. Das klingt nicht nach einer Ruhe, die liebenswert ist.

Daher wurde von vielen Philologen gemußtmaßt, daß Gott mit der Aussage: „der Mensch kann allzuleicht erschlaffen“ nicht von Leuten wie Faust redet. Doch das ist eine Hilfshypothese, ein interpretatorisches Erschlaffen, um dem Grübeln Ruhe zu schaffen.

Wir können ein Erschlaffen aber auch in Fausts Absage an „Vernunft und Wissenschaft“ sehen, wie Mephisto das später richtig beschreibt. Und ohne den Teufel hätte Faust sich doch noch umgebracht oder sich dem Trunk ergeben und so oder so seine Lebenszeit und Potentiale vergeudet.

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