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Inhalt:
(1) Was in der Szene geschieht
(2) Interpretation
(3) Hintergründe und weiterführende Deutungen
Quellen und Nachweise
Anhang: Aufführungspraktische Vorschläge
Die Mütterszene gilt als eine der rätselhaftesten der deutschen Literatur. Generationen von Philologen haben sich vergeblich die Zähne daran ausgebissen. Doch ihre Leistung war nicht umsonst, durch die Erfolglosigkeit kann eines als gesichert gelten: Die Rätsel sollen nicht gelöst sondern erlebt werden, sie sind märchenhaft: Sie bestehen alle aus altbekannten Märchenelementen: etwas Unscheinbares unterschätzen; Verlassenheit und Orientierungslosigkeit auf einer gefahrvollen Reise ins Ungewisse; ein Zauberding stibitzen; eine eindringliche Warnung von Kundigen in den Wind schlagen, weil die Versuchung so unwiderstehlich ist.
(1) Das Geschehen
Der Kaiser verlangt von Faust ein Hologramm von Helena und Paris, der schönsten Frau und des schönsten Mannes, die je gelebt haben, sie gelten als Inbegriff der Männer- und Frauenschönheit.
Mephistos Künste reichen dafür nicht („doch Teufelsliebchen – wenn auch nicht zu schelten, sie können nicht für Heroinen gelten“). Mephisto schickt Faust deshalb in eine Parallelwelt, dort soll es eine Art Archiv geben, in dem alles, was vergangen ist, in schemenhafter Form noch da ist; das kann er holen und bei Hofe mit ein bisschen Weihrauch zu Helena und Paris ausstaffieren.
Allerdings wird die Reise ein „Schreckensgang“: Faust wird eine Phase völliger Orientierungslosigkeit und Verlassenheit durchmachen müssen: kein Ort, keine Zeit, nichts Festes zum anlehnen, er hört nichtmal seine Schritte. Und danach muß er noch irgendein wolkenhaftes Getreibe durchqueren, das er sich mit Hilfe eines magischen Schlüssels vom Hals halten soll. (Kann mal jemand Stephen King anrufen, den Meister der Horror-Parallelwelt-Geschichten und ihn bitten, Goethes Leerstelle, die er uns ausdrücklich zum vervollständigen überlassen hat, auszufüllen?)
Wenn Faust bei den „Müttern“ anlangt, soll er denen einen glühenden Dreifuß stibitzen, der wird benötigt, um die Schemen aus der Parallelwelt in die unsere zu transferrieren. Offenbar können die Müttern den Dreifuß für ein paar Stunden so gut entbehren, daß sie gar nicht mitkriegen, wenn Faust sich den mal ausleiht.
(2) Interpretation
Welchen Sinn können wir mit Fausts Abstieg zu den Müttern verbinden?
(2.1) Zur Beantwortung dieser Frage ist es sinnvoll, uns zu vergegenwärtigen, was Faust hier leisten soll:
Mephisto benennt einen Unterschied zwischen „Teufelsliebchen“ und „Heroinen“. Wir können davon ausgehen: Es geht eigentlich nur um Helena, Paris ist nur Beiwerk. Und es geht nicht um ein Bild, in der sich die weiblichen erotischen Reize in idealer Form verkörpern – dafür wären Teufelsliebchen gut genug – sondern es geht um eine Frau, deren Schönheit nicht gesteigert werden kann, weil sie in jeder Beziehung außergewöhnlich ist, nicht nur, was ihre erotischen Reize betrifft oder ihr hübsches Gesicht, sondern ihre gesamte Ausstrahlung: eine Frau, die mit den Vollmächten ihrer Schönheit und Erotik souverän und gelassen umzugehen versteht, weil sie noch was anderes kann, als schön sein; eine Frau, für die die Chancen ihrer Schönheit nicht der einzige oder wichtigste Lebensinhalt bildet, so daß sie ihre Schönheit eigentlich gar nicht nötig hätte, ja, die vielleicht als Heranwachsende selber von ihrer Schönheit überrascht wurde, von dieser zusätzlichen Macht, mit der sie nie gerechnet hatte. Es geht nicht um das Bildnis einer schönen Frau sondern um ein Portrait einer in jeder Beziehung unübertreffbar souveränen Frau.
Wir neigen dazu, in der Schönheit, aufgrund des Gefühls edlen Wohlgefallens, das sie auslöst, ein Sinnbild der Würde zu sehen. So verlangte Goethe einmal, daß in den Skulpturen „die Würde des Menschen innerhalb der menschlichen Gestalt dargestellt werde“ (Zitiert nach Schmidt 247).
Kant sah die Würde des Menschen in seiner Fähigkeit zur Autonomie: nicht der Natur in uns zu gehorchen, den Trieben, sondern nur den Gesetzen, die wir uns mit unserer Vernunft selbst geben. (Diesen Hinweise verdanke ich auch Schmidt 247.)
So zeigt sich im 3. Akt, daß Helena selbst einem tödlichen Schicksal gelassen ins Auge sehen kann, daß sie eine nicht allein selbst verschuldete Identitätskrise überwindet, und daß sie als vorbildliche Vorgesetzte Mobbing unterbindet und hinter ihren Mitarbeiterinnen steht, selbst wenn sie Fehler gemacht haben. (Dazu unten mehr, in den „HIntergründen“, Punkt 3.2.)
Ein solches Portrait kann nur von einem außergewöhnlichen und lebenserfahrenen Künstler geschaffen werden. Und Faust ist kein Künstler. Deshalb braucht er den Teufel.
(2.2) Die philologischen Untersuchungen von Goethes Werk legen nahe, daß Goethe im Müttermythos im weitesten Sinne die Abenteuer des künstlerischen Schaffens, die er selber in Aufsätzen reflektierte, zu einem Märchen ausfabulierte: „Goethe hat die Mütterszene mit einer Symbolik ausgestattet, die sich in Einzelheiten vielleicht nicht immer sicher entziffern läßt, die aber offensichtlich den Prozeß dichterischen Schaffens meint“ (Staiger, 308).
Goethe charakterisierte das dichterische Schaffen so: aus „flüchtigen Schemen“ würden „gegenständliche Wesen“, indem die „in der Erinnerung, in der Einbildungskraft zurückgebliebenen Idole … sich entfalten, wachsen, sich ausdehnen und zusammenziehen“ (Zitat nach Enders 37).
Bei den Müttern und die sie umschwebenden Schemen könnte Goethe etwas im Sinn gehabt haben wie jenen Teil des kulturell verfügbaren Wissens, den Faust sich bereits angeeignet hat und der ihm intuitiv verfügbar ist.
Die Hirnforschung nennt die Quelle dieser Intuition: das prozedurale Gedächtnis (s.u., Nachweise). Dieses Gedächtnis ist uns nicht bewußt. Wir wissen nicht, was da alles drin ist. Wir können es nur bemerken, wenn wir tätig sind. Wer schonmal ein Stück auswendig auf dem Klavier gespielt hat, kennt das Phänomen: Plötzlich weiß man nicht mehr weiter, man hat nicht die geringste Ahnung, welcher Ton als nächstes kommt. Doch wenn man von vorn beginnt, spielen die Finger auf einmal geisterhaft weiter. – Das prozedurale Gedächtnis ist auch das, was in uns denkt, wenn wir die Gedanken nicht bewußt lenken: „Ihr verteilt es allgewaltige Mächte, zum Zelt des Tages, zum Gewölb der Nächte“. Die Mütter denken in uns.
Die Mütter wohnen ewig einsam: Sie sind für sich, sie haben keine Möglichkeit der Kommunikation mit uns. Die Inhalte des prozeduralen Gedächnisses sind unserem inneren Dialog nicht zugänglich. Wir können sie nicht ansprechen und sie lassen sich nicht bitten.
„Einsam und doch gesellig: Euer Haupt umschweben des Lebens Bilder, regsam, ohne Leben“: Das könnte die sinnlose, andrängende Stoffsammlung in unseren Köpfen meinen, die ins Tages- oder Traumbewusstsein gebracht wird und im künstlerischen Schaffen „angezapft“ werden kann: In inspirierten Situationen – die Hirnforscher würden sagen: ab einem bestimmten Niveau neuronaler Erregung – erfahren wir „mit Staunen, wie plötzlich eine Fülle der Gesichte in uns aufstrahlt, wie blitzartig sich sonst nie von uns geschaute Weiten und Tiefen der Natur und des Lebens sich vor unserm inneren Blick auftun“ (so der Philosophen Benno Erdmann, zitiert von Enders 51).
Weil wir von einem großen Teil unseres Wissens und Könnens nichts wissen, ist es nicht zu erbitten und nie erbeten worden. Der Ort, wo es gespeichert ist, ist nicht von uns „betretbar“, wir können nicht willkürlich darüber verfügen, und deshalb ist er auch noch nie betreten worden. Ohne Magie können wir nur versuchen, das Wissen da herauszulocken, indem wir tätig sind. Und je besser eine Tätigkeit trainiert ist, desto mehr von diesem Wissen fließt ein. Deshalb müssen Leute, die professionell künstlerisch tätig werden wollen, studieren.
Enders zitiert Goethe: Goethe gab an, er habe seinen Werther „ziemlich unbewußt, einem Nachtwandler ähnlich“ geschrieben, alles Große gedeihe allein durch nachtwandlerisches Schaffen (Enders 39f).
(2.3) Mit Magie geht es schneller, mit Magie wird das Wissen, das nicht unserer Willkür unterliegt, willkürlich verfügbar, auch für Dilettanten wie Faust. Aber dieser Eingriff ist gewaltsam und wir sind für das Betreten des Archivs nicht gemacht. Daher ist der Eingriff mit Abenteuer und Gefahr verbunden: „Greifst in ein fremdestes Bereich, machst frevelhaft am Ende neue Schulden“. Faust macht hier was, was so eigentlich nicht vorgesehen ist. Mephisto meint sogar, vielleicht käme Faust nicht mehr zurück.
Ich denke, es ist nicht sinnvoll, zu fragen, was genau Goethe damit meint, daß Faust, wenn er sein unwillkürliches Gedächtnis willkürlich anzapfen will, durch eine Phase von Öde und Einsamkeit durch muß. Darüber kann viel hin und her spekuliert werden. Sicher könnten wir uns vorstellen, daß in der Parallelwelt die Zeit anders verläuft und Faust viele Tage bei den Müttern verbracht hat, aber für uns nur ein paar Stunden vergangen sind. Doch entscheidend ist: Was Faust erleben wird, ist beängstigend und gefährlich, wie in jedem Schauermärchen. Und in der Tat: Es schaudert Faust. (Arens S.230: „Der Schauder ist ein psychophysisches Erlebnis vor etwas Unbekanntem, als überwältigende Geahntem“, ein Gefühl, „von einer geheimnisvollen Macht berührt zu sein“.)
Was läßt Faust erschauern? Das Nicht-Ich in uns. Die Mütter sind das, was in uns denkt ohne unser Zutun. Was uns Gedanken zuteilt oder sperrt. Genauso müßte wir eigentlich über Atem und Herzschlag schaudern, die auch ganz ohne unser Zutun funktionieren. Sie zeigen uns: Daß wir Leben, machen wir nicht selbst, wir sind Naturwesen, von unserer eigenen Natur weitgehend fremdbestimmt. Solange wir nichts unternehmen, leben wir einfach weiter, ob wir wollen oder nicht. Und es ist gar nicht so leicht, dagegen vorzugehen, daß wir leben, in der Regel ist das mit großem Schmerz und unüberwindlicher Angst verbunden, ob wir wollen oder nicht.
Aber Atem und Herzschlag sind uns so selbstverständlich, daß wir darüber nicht ins Nachdenken kommen. Doch zu erleben, wie auch Geist und Seele, der Inbegriff unseres Selbstbewußtseins und unserer Ich-Identität, unseres Allerpersönlichstes, wie auch das ins Unpersönliche, das in uns denkt, hineinreicht und daraus erwächst, das ist schon schauderhaft, wenn mans recht bedenkt. Allerdings ist dieses Bedenken hoch aufwändig, instabil und voraussetzungsvoll, dafür ist Meditation erforderlich, so wie die Eremiten sie üben, an denen später Fausts gerettete Seele in den Himmel geführt wird (Epilog).
Für uns ist nicht nachvollziehbar, was an der Öde und Einsamkeit, die Mephisto hier behauptet, schlimm sein soll, Faust ist doch bloß ein paar Stunden unterwegs! Mephisto tut ja gerade so, als handle es sich um eine wochenlange Reise. Unklar bleibt für uns auch was passiert, wenn Faust sich das Getreibe nicht vom Leibe hält oder die Mütter ihn entdecken, Mephisto verrät nur: „die Gefahr ist groß“.
„Nichts wirst du sehen in ewig leerer Ferne, den Schritt nicht hören, den du tust, nichts Festes finden, wo du ruhst“: Die künstlerisch Schaffenden sind in den Bereichen, wo sie nicht bloß nachahmen oder wiederholen sondern wo sie innovativ sind, immer allein, einsam: Denn innovativ ist nur das, was noch nicht gemacht wurde, es ist nur da zu haben, wo noch niemand war.
Sinnvoll wäre, hier an die Einsamkeit von autonomen Menschen zu denken. Sie sind einsam, weil sie sich aus dem Kreis des Bekannten hinaus bewegen. Goethe meinte, es gehöre „Einsamkeit dazu, in die Tiefe der Kunst zu dringen und die Tiefe der Kunst in seinem eigenen Herzen aufzuschließen“ (Zitat nach Osterkamp 20). Gemeint ist hier nicht soziale Einsamkeit sondern „die freiwillige Einsamkeit desjenigen, der sich den Zumutungen des Zeitgeists zu entziehen sucht“ (Osterkamp 23). Goethe verglich sich im hohen Alter sogar mit einem Eremiten (Osterkamp 29).
Eines der eindrucksvollsten Beispiele für Autonomie ist die Tat von Robert Elsner, der im Alleingang, ganz auf sich gestellt, über Monate hinweg eine Bombe in einen Pfeiler des Bürgerbraukellers einbaute um Hitler zu töten, und nur wegen des unglücklichen Zufalls, daß Hitler früher wegmußte, keinen Erfolg damit hatte (Link zum Wikipediaartikel).
(2.4) Der unsachgemäße Eingriff ins Unbewußte hat Folgen: Faust ist von der Erscheinung Helenas völlig überrascht und wird hingerissen, wie offenbar noch nie etwas ihn hingerissen hat: hingerissen bis zum Wahnsinn. Normal ist das nicht. Künstler können durchaus von ihrem Schaffen überrascht und hingerissen sein. Aber dazu ist in der Regel mehr Schaffen nötig, als ein spontaner Entwurf, der in ein paar Stunden fertig ist. Aber mit Schlüssel und Dreifuß geht’s halt schneller.
Es hat wenig Sinn, zu überlegen, ob und was Goethe mit dem Schlüssel symbolisiert haben mag. Dann entsteht bloß wieder eine haarspalterische Scholastik, die alle Schlüsselfunktionen unter einen Hut bringen will: Er wittert den Zugang, er wehrt das Andrängende ab, er zähmt den Dreifuß und bringt mit ihm zusammen die Figuren hervor. – Doch Zauberschlüssel können nunmal vielseitiger sein, als ein einziger Hut abdecken kann (s. Staiger-Zitat oben).
Der Schlüssel scheint eine ähnliche Funktion zu haben, wie eine bewußtseinserweiternde Droge: Mit ihm kann Faust in einen Bereich eindringen, in den er ohne Schlüssel so einfach nicht kommt. Und er kann damit eine Produktivität auslösen, die der Dreifuß ohne Schlüssel so nicht zulassen würde. – Allerdings paßt zu einer Drogenmetapher nicht, daß der Schlüssel das Getreibe verscheucht. Eine Droge würde im Gegenteil das Getreibe verstärken und gefährlicher machen. Aber wie gesagt: wir brauchen hier keine durchgehende Allegorisierung. Wir brauchen nur Struktur und Funktion der Schilderungen. Und da sehen wir:
Faust wird von Mephisto mit einem Mittel versorgt, daß Faust zu künstlerischem Schaffen befähigt, ohne daß er dafür die erforderlichen Voraussetzungen und die erforderliche Reife hat. Die Mächte, die hier im Spiel sind, kann Faust nicht einschätzen: „das kleine Ding“. – Er darf später die Mütter auch nicht fragen, was es mit all dem auf sich hat und welche Gefahren das Hantieren mit Schlüssel und Dreifuß birgt, denn die Mütter würden ihm ’nen Vogel zeigen und mit den gefährlichen Sachen gar nicht spielen lassen. Faust bleibt allein mit seinen Erfahrungen und Einschätzungen.
Die Gefährdung ist um so größter, als Faust hier mehr Abenteurer als Forscher ist: Er geht nicht mit der Vorsicht von Forschern an die Sache sondern mit einer instrumentellen Einstellungen: Faust erkundet die Sache nicht sondern gebraucht sie gleich. Und er ist trotz all seiner Erfahrung ein wenig zu selbstbewußt was seine Einschätzungen angeht, er traut sich zuviel zu: So wie er die Kraft des Schlüssels unterschätzt, weil er nur nach dem Anschein geht, so unterschätzt er alle im Spiel befindlichen Kräfte, er geht überall dem Anschein auf den Leim. Die Macht seiner unerfüllten Sehnsüchte verdreht ihm den Kopf und blockiert Reflexion und Willensbildung bezüglich Notwendigkeit, Ort und Maß von Vorsicht und Verzicht.
Wir müssen nicht unbedingt wissen, ob Goethe hier reale Vorgänge beschreiben wollte, denn es könnte sich auch um ein Gedankenexperiment Goethes halten mit dem Ergebnis: Selbst wenn wir einen magischen Zugang zu unseren Schöpferkräften hätten, würde es uns nichts nützen.
Es wäre natürlich auch vorstellbar, daß Goethe hier Selbstversuche mit bewußtseinserweiternden Drogen beschreibt (möglicherweise Cannabis), die alle in Enttäuschung ausliefen: Eine Enttäuschung, die ich als Suchttherapeut aus dem Munde einiger Künstler vernommen habe, die durch Alkohol, Kokain oder Cannabis faszinierende Visionen hatten und sie im Rausch künstlerisch zu realisieren meinten – doch als sie nüchtern waren sahen sie in dem Geschaffenen nichts als Triviales und Belangloses, das ihnen im Rausch als Offenbarung erschienen war. (Ein weiteres bekanntes Märchenmotiv: Jemand stibitzt einer geheimnisvollen Erscheinung einen Goldschatz, doch als er zu Hause ankommt, sinds Pferdeäpfel.) Goethes Botschaft ist offenbar: Vertraue keiner Abkürzung. Ins Gelingen können wir uns nicht hineinstehlen. Die Mütter grinsen bloß, wenn wir ihnen den Dreifuß stibitzen.
(2.5) „Wie war die Welt mir nichtig, unerschlossen“: Die Faszination die von Helena ausgeht beansprucht Faust ganz, alles andere wird unwichtig, er fühlt nur noch die wirkende Kraft des Eros, den Wunsch mit einer überdurchschnittlich schönen und souveränen Frau verbunden zu sein.
„Wer sie erkannt, der darf sie nicht entbehren!“ Faust erlebt, daß er die Macht hat, die Bilder hervorzurufen kann und ebenso erlebt er die Macht, die diese Bilder über ihn haben; und gleichzeitig verlangt ihn unwiderstehlich danach, mit der Helena, die da erscheint, verbunden zu sein, und dieses Verlangen verdreht ihm den Kopf: Er verwechselt die Macht des Wunsches und die Überzeugungskraft der Vorstellung mit der Wirklichkeit des Vorgestellten: „Ich brauch das so unbedingt und das steht mir sowas von zu, und wenn sich das auch noch derart überwältigend echt anfühlt, dann kann das gar nicht sein, daß das nicht geht!“
Die Explosion ist die schlagartige Desilluionierung und als solche verwandt mit der Markokosmos- und der Erdgeist-Szene. Faust will etwas so unbedingt, daß er verkennt, daß es grundsätzlich so unmittelbar nicht möglich ist.
Daß es sich in der Szene um die Probleme von Dilletanten handeln könnte, legen Ausführungen Goethes nahe:
„Ich habe die Vermutung, daß sie (die Griechen) nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin“. … Wenn das Ich ein fertiges Wissen übernähme, würde es nicht Grieche, sondern Philologe; es muß ganz von innen sich neu aufbauen, das Künstliche zerschlagen und das Natürliche neu beginnen. Will der Dichter etwas den Griechen Ebenbürtiges schaffen, so bedarf es nicht des Wissens um sie (das wäre Nachahmung), sondern eines eigenwüchsigen Schaffens aus den Gesetzen der Natur, beseelt von einem gestaltenden Eros.“ (Goethe-Zitat nach Trunz) (Allerdings: Philologen sind keine Dilletanten sondern Profis. Zu Dilletanten würden sie nur, wenn sie dichten würden.)
Verwandt mit der Szene ist auch die Diskussion der Philosophengespenster in der klassischen Walpurgisnacht: Ananxagoras findet einen Berg, der in einer Nacht durch eine Lavaeruption entstanden ist ganz toll. Thales meint dazu: „Nie war Natur und ihr lebendiges Fließen auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen. Sie bildet regelnd jegliche Gestalt und selbst im Großen ist es nicht Gewalt“. – Gut, aber das soll Thales mal jemandem erzählen, der vor allem die Geduld verflucht… (Den Hinweis auf diese Verse verdanke ich Osterkamp 394).
2.6 Für die Bildungsbürger war es natürlich viel zu trivial, daß Faust von einer schönen Frau hingerissen wird bis zum Wahnsinn. Sie mußten das überhöhen: Nein, es geht nicht um Frauenschönheit, auch nicht allgemeiner um die Macht des Eros, um Gottes willen, nein, sondern das ist bloß eine Allegorie, in Wirklichkeit geht es hier um Kunstschönheit oder um die Faszination, die von der Kultur der alten Griechen ausgeht, von der „antiken Vollkommenheit“ ihrer Kunst (Osterkamp 396).
Einer Skulptur statt einem schönen lebendigen Menschen Wahnsinn zu zollen fände ich pervers. Die verlogenen Ersatzhandlungen der Bildungsbürger haben zu nichts Gutem geführt.
Aber gut, wir müssen gar nicht wissen, zu was die Macht des Eros alles als Gleichnis taugt. Es reicht, uns hier beeindrucken zu lassen von der Vorstellung, daß es so begeisternde und faszinierende Erlebnisse und Lebenswerte gibt, daß sie alles andere was wir kennen, in den Schatten stellen, und die Macht haben, unsere Einstellungen zum Leben zu ändern.
Der Wächter Lynkeus, der im 3. Akt von der Erscheinung Helenas so hingerissen ist, daß er seine Pflichten vergißt, wird später zum Sprecher von Fausts Kriegern:
„Schon das ganze Herr ist zahm, alle Schwerter stumpf und lahm, vor der herrlichen Gestalt selbst die Sonne matt und kalt, vor dem Reichtum des Gesichts alles leer und alles nichts“ (Vs. 9350ff). (Den Hinweis auf diesen Zusammenhang verdankte ich ebenfalls Osterkamp 397).
Es könnte sich lohnen, den Eindruck der Beschwörungsszene zu nutzen, um uns zu fragen: Wie müßte und könnte das Leben der Menschen aussehen, damit wir keine Lust mehr haben, uns untereinander die Köpfe einzuschlagen, uns gegenseitig zu unterjochen oder Raubbau an der Natur zu betreiben.
3 Hintergründe und weiterführende Deutungen
(3.1) Wenn ich Emil Staigers Darstellung glauben darf, dann liegt dem Müttermythos offenbar Goethes Angst vor dem Tod zugrunde: „ Je weiter sich die Vergangenheit in seinem eigenen Leben dehnt desto dringender wird die Sorge, wie das Entschwundene gegenwärtig bleiben, oder der Gegenwart wieder zugeführt .. werden könne“ (Staiger 296).
„Was einmal war in allem Glanz und Schein, es regt sich dort, denn es will ewig sein“ – „Es“ will ewig sein? Nein, es will gar nichts, wir sind es die was wollen: Wir wollen, daß das, was wir in unserem Leben schaffen, ewig ist: „Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen“. Das ist unser Sinntrieb: Wir wollen uns nützlich machen für andere, nützlich machen bis zur Aufopferung. Und je länger die andern etwas von unserem Wirken haben, desto nützlicher. – Gelebt zu haben ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen, ist uns ein Horror.
Andererseits vermitteln uns die Spuren der Vergangenheit unsere eigene Unbedeutenheit im weltgeschichtlichen Ganzen: Selbst das größte Genie kann im Laufe der Jahrtausende als Person vergessen sein und sein Werk namenlos gelöst in die Potentiale der Menschheit. Möglicherweise erklärt das Goethes Schauder beim Anblick des nächtlichen Kolloseums (Staiger 303).
Der Knall, der die Vorstellung beendet, zeigt einmal mehr: Faust ist ein Knallkopf. Das Faustische setzt ungestüm alles auf eine Karte, statt Besonnenheit, Geduld und Plan B. Faust ist unfähig, in Generationen zu denken, nach dem Motto der Leute, die die Sümpfe urbar machten:
„Den Ersten der Tod, den Zweiten die Not, den Dritten das Brot.“
Stattdessen ist der unreflektierte moderne Mensch, der mit der Endlichkeit seiner Existenz keinen religiösen Sinn mehr verbinden kann, getrieben davon, alle Schätze des Menschenmöglichen selbst zu erleben.
Ob von Goethe so intendiert oder nicht: Das Wort „ewig“ knüpft indirekt an die seligen Knaben des Epilogs an: Faust wird von seinem Egotrip durch die neugierigen Bengels erlöst, die alles wissen wollen, was die Mütter in Fausts Kopf archiviert haben.
3.2 Daß Mephistos „Teufelsliebchen“ selbst bei den beschränkten Hofleuten, denen es bloß um Unterhaltung geht, als Helena durchfallen, ja wahrscheinlich Gelächter auslösen würden, zeigt ein Urproblem, das uns Menschen aufgegeben ist. In Gestalt der keifenden Phorkyas formuliert Mephisto das später so: „Alt ist das Wort, doch bleibet hoch und wahr der Sinn, daß Scham und Schönheit nie zusammen Hand in Hand den Weg verfolgen über der Erde grünen Pfad. Tief eingewurzelt wohnt in beiden alter Haß!“
Menschen, bei denen Scham und Schönheit verbunden sind, sind sich bewußt, daß die Schönheit nicht ihr Verdienst ist; die Schönheit führt bei ihnen weder zu falschem Stolz noch dazu, sich durch ihre Macht Vorteile zu erschleichen.
Seit Menschengedenken ist es bekannt und mittlerweile durch wiederholte Experimente vielfach belegt, daß schöne Menschen besser behandelt werden, völlig unabhängig davon, ob sie es verdient haben oder nicht: Richter und Richterinnen bekamen das gleiche Vergehen vorgelegt, aber die einen mit einem Foto, das einen schönen, die andern mit einem, das einen unvorteilhaft aussehenden Menschen zeigte. Signifikant häufiger bekamen die schönen Verbrecher und Verbrecherinnen die milderen Strafen.
„Schönheit bändigt jeden Zorn“ sagt der Wächter Lynkeus später, als er die Todesstrafe durch Helenas Richterspruch erwartet, weil er so hingerissen von ihrer Erscheinung war, daß er vergaß ihre Ankunft zu melden. (Helena ist aber nur darüber entsetzt, was ihre Schönheit schon wieder bei Männern angerichtet hat und gegnadigt ihn.)
Andererseits ist Schönheit auch für die Schönen eine bekannte Falle, wie die Blondinenwitze belegen: Wenn schöne Menschen es nicht besser wissen, nutzen sie ihre Schönheit, um damit Erfolge zu erzielen und haben dadurch keinen Antrieb, ihre anderen Potentiale zu üben und zu entfalten. Über Blondinenwitze sollten wir nicht lachen sondern weinen, zumal es kaum solche Blondinen gäbe, würden Mädchen sozialisatorisch nicht immer noch zu sehr auf die Weibchenrolle festgelegt.
Doch Schönheit als Falle gibt es nicht nur bei Frauen. Zweimal hatte ich mit besonders schönen Männern zu tun: Der eine Mann hatte Erfolg bei einer überdurchschnittlich tüchtigen Frau, die Karriere machte. Er hatte keinen Antrieb mehr für seine eigene Entwicklung und als die beiden sich trennten, wurde er zum Sozialhilfeempfänger. – Der andere hatte bis Anfang 40 das Leben eines Don Juan. Dann geriet er in eine Krise, weil ihm auf einmal die 20 Jahre, die ausschließlich mit erotischen Erlebnissen ausgefüllt waren, unerträglich sinnleer erschienen. Er beendete sein Studium, bekam eine Anstellung als Ingenieur und wurde glücklich.
Der nigerianische Schriftsteller Amos Tutuola schrieb eine kleine Kurzgeschichte über ein Duell von zwei unverschämten Schönen: Ein Schädel hört von einer stolzen Schönen, der kein Mann gut genug ist. Der Schädel wandert in ihr Dorf und unterwegs leiht er sich in jedem Dorf, durch das sein Weg führt, etwas, das ihn zu einem vollendeten Mann macht. So gelangt er in das Dorf der Schönen, sie heiratet ihn und geht mit ihm zurück in sein Dorf. Und unterwegs gibt der Schädel Dorf für Dorf das Geliehene zurück… – Verwandt damit ist die Geschichte „Schmetterlinge“ von Lars Lehmann auf unserer Website, eine „Parallelgeschichte“ zu Faust und Margarete.
3.3 Der Germanist Schmidt macht darauf aufmerksam, daß die Mütterszene auch als eine Formel für „Renaissance“ lesbar ist: Ergriffensein von den künstlerischen Potentialen einer anderen Kultur und schockiert werden wie schwer es ist, sie sich anzueigenen und sicher zu beherrschen (Schmidt 234).
Quellen, Nachweise
Zum prozeduralen Gedächtnis: Roth, Gerhard , Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt a.M. 2001 Suhrkamp: „Wir haben keine Ahnung warum wir etwas können oder warum wir etwas tun, weil uns … bereits der Lernvorgang nicht bewußt ist“ (154). – Bei Amnesie-Patienten bleibt das prozedurale Gedächtnis intakt: Es kann sein, daß die Betroffenen nicht mehr wissen, daß sie Klavierspielen können, aber setzten sie sich ans Klavier, spielt ihr prozedurales Gedächtnis eine Beethovensonate – Ergotherapeuten berichten, daß Korsakoffpatienten vergessen haben, welche neuen Arbeitstechniken sie den Tag zuvor gelernt haben. Aber wenn sie gebeten werden, diese Technik einfach mal auszuführen, bemerken die Patienten, daß sie es können.
Arens, Hans, Kommentar zu Goethes Faust I. Winter, Heidelberg 1982, S.237
Arens habe ich zu danken für die Aufmerksamkeit auf die Frevelhaftigkeit von Fausts Eindringen ins Reich der Mütter. Arens wundert sich, warum alle Interpreten der Mütter-Szene immer nur betonen, was für ein toller Held Faust ist, der sich zu den Müttern gewagt hat, aber offenbar alle eindeutigen Hinweise des Textes überlesen, daß es sich um eine frevelhafte Tat handelt.
Enders,Carl, Faust-Studien Bonn 1948
Enders verdanke ich auch den Hinweis darauf, daß es sinnvoll ist, bei dem Bild von Paris und Helena an ein Portrait zu denken, nicht nur an irgendeine „Projektion“ (Wassermannzitate 73f).
Osterkamp, Ernst , Sterne in stiller werdenden Nächten. Lektüren zu Goethes Spätwerk, Frankfurt a.M. 2023 (Vittorio Klostermann)
Osterkamp bestätigte und bereicherte meine Vermutung, daß es sich bei der Helena nicht einfach um eine besonders schöne Frau handeln sollte. Osterkamp hält Goethes Helena-Figur für eine der „faszinierensten“ Frauengestalt Goethes (395) und begründet das in einem wunderbar zu lesenden Text: „Vom mythischen Idol zum modernen Ich“.
Schmidt, Jochen, Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. 2. Auflage. C. H. Beck, München 2001
Staiger, Emil, Goethe 1814-1832, Zürich 19632, (Atlantis Verlag). Er ist mein Gewährsmann für die Bewertung der Mütterszene: „einer der schwierigste Texte der deutschen Literatur“ (300]
Trunz, Erich, Kommentar zu Goethes Faust, in: Goethe, Hamburger Ausgabe Bd. 3, 1949
Anhang: Aufführungspraktische Vorschläge zur Szene „Finstere Galerie“
(1) Die Verse 6177 – einschl. 6182 würde ich streichen.
(2) In Vers 6207 würde ich sagen: „Mit ein wenig Murmeln weiß ich ists getan“, das macht den Vers verständlicher.
(3) „um nicht ganz versäumt allein zu leben“ (Vers 6237) kann heute keiner mehr verstehen. „versäumt“ heißt hier soviel wie: vernachlässigt, unbeachtet. (Arens 222). – Ich würde von der ganzen Faust-Passage Vs 6228 – 6238 nur folgende Verse übernehmen: „Mußt ich nicht mit der Welt verkehren …“ bis „zur Einsamkeit, zur Wilderniss entweichen“, den Rest streichen. – Den Hinweis auf die Hexenküche finde ich eher verwirrend, ebenso sein Verhalten: Faust stellt den Sinn von Mephistos Frage in Frage und beantwortet sie dann doch. Diese kleine Komplikation kostet mehr als sie bringt.
(4) Vers 6250: „Neophyten“ würde ich durch „Jünger“ ersetzen. – Inhaltlich scheint gemeint, daß der Mystagoge, statt selbst zu gehen, die Jünger ins Leere sendet, um dort Kunst und Kraft zu vermehren. Die Betonung sollte also deutlich auf „mich“ sein, nicht auf „vermehren“.
(5) In Vers 6243 würde ich die zweite Hälfte ab „sähst wohl“ sowie die Folgeverse streichen und wieder einsetzen mit „Nichts wirst du sehen“…
(6) Streichen würde ich auch 6927 – 6302.