Euphorion

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Inhalt: 

(1) Verkehrte Welt: Kinder, die für die Eltern da sind
(2) Die übliche bildungsbürgerliche Deutung
(3) Begründung meiner Deutung
      (3.1) Goethes Verfahren und Euphorions Verwandtschaft mit Homunkulus
      (3.2) Wofür die Philologie keinen Sinn hatte: Goethes deutliche Kritik unreifen Elternverhaltens
      (3.3) Formale Bedenken gegen die philologische Standarddeutung

(1) Verkehrte Welt: Kinder, die für die Eltern da sind

Die Szene zeigt was angerichtet wird durch unreifes Elternverhalten: durch Eltern, die ihrem Kind keinen Raum für freie Entfaltung bieten und kein eigenes Leben lassen können, weil sie ihr Kind (miß)-brauchen für ihren Traum von der heilen Familie, für ein „köstlich Drei“: Der „teure“ Sohn soll brav sein und gefälligst daran denken, daß er den Eltern „gehört“, denn wenn er aus Übermut verunfallt, richtet das nicht den Sohn sondern die Eltern zugrunde!

Euphorion versucht „den Eltern zuliebe“, sich zu bremsen und sich auf den goldenen Käfig einzulassen. Als er aber merkt, daß auch alle Mädchen der Dienerinnenschar von ihm entzückt und begeistert sind, und voller Bereitschaft, sich ihm hinzugeben, als er merkt, daß er nur „heile Welt“ erlebt, ist genervt und gelangweilt: Er hält diese „Leichtigkeit des Seins“ nicht aus. Und insofern hat er Recht: Wie seine Mutter hat auch er ein Identitätsproblem, denn Identität entsteht nur aus den Rückmeldungen von Menschen und Welt auf das eigene Wirken. Von den Eltern am Entdecken der Welt gehindert, von den Mädchen umschwärmt, befindet er sich in einem Gefängnis, in dem sich alle Türen von selbst vor ihm auftun, bloß nicht die Ausgangstür.

In seiner Hilflosigkeit scheint es für ihn nur einen Ausweg zu geben, seine Kraft und Eigenständigkeit zu erleben: das einzige Mädchen, das sich ihm verweigert, zu vergewaltigen („Das Leichterrungene das widert mir. Nur das Erzwungene ergetzt mich schier!“ Mehr dazu unter Punkt 3.2). Als er das nicht schafft, zieht er aus Frust in einen heiligen Krieg, zumal er angewidert ist von einem Arkadien, das sich mittels einer Wehrmacht von den Nöten der Welt isoliert.

Möglicherweise wollte Goethe dieses Versagen als Vater verarbeiten und drückt hier den Wunsch aus, sein Sohn hätte es geschafft, sich aus dem Klammergriff des Vaters zu lösen. „Es ist das erste Mal … daß ich zum Gefühl der Selbständigkeit gekommen“, schreibt der 40-jährige August Goethe auf einer Reise, die seine erste und letzte sein sollte (Damm 354). Übergriffig war es von seinem Vater z.B. durch seine Beziehungen zu Regierungsstellen August die Teilnahme an den Befreiungskriegen gegen Napoleon zu verwehren.

August Goethe stirbt 1830 in Italien mit 40 Jahren, vermutlich in Zusammenhang mit körperlichen Folgeschäden im Rahmen einer stark ausgeprägten Alkoholabhängigkeit: Laut Obduktionsbefund war die Leber 5-fach vergrößtert (360).

Obwohl die Euphorion-Episode 1826 entsteht, scheint sie eine Parallele zu sein, als ob Goethe es geahnt hätte: Der Sohn büchst aus dem beengten Weimar aus und kommt dabei um. – Doch der Tod Augusts erfolgt nicht durch Übermut, den er nach lebenslanger Einengung nicht mehr gebändigt kriegt, sondern durch die Spätfolgen jahrelangen Konsums von Alkohol, auf den er zu Betäubung des unerträglichen Ausmaßes ungelebten Lebens angewiesen war.

Auch hier kann uns Rilke helfen: Den Abschluß seines Romans „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ bildet eine geniale Variation der Geschichte vom verlorenen Sohn: Die einengende Liebe der Eltern hat ihn in die Welt getrieben. Er kommt zurück und fällt vor dem Vater auf die Knie. Der Vater ist gerührt von der flehendlichen Reue des Sohnes – und merkt nicht, daß sein Sohn um etwas ganz anderes fleht: er fleht, nicht länger geliebt zu werden. Und als der Sohn merkt, daß die ganze Familie sein Flehen mißversteht, spürt er einen weiteren Schub seiner Autonomieentwicklung:: „Es muß für ihn unbeschreiblich befreiend gewesen sein, daß alle ihn mißverstanden“. Wir müssen nicht unser ganzes Sinnen und Trachten darauf ausrichten, von den anderen verstanden zu werden, wir sind auch fähig, die wichtigen Bindungen zu nahestehenden Menschen aufrechtzuerhalten, wenn sie uns nicht mehr verstehen können, weil sie ihre Vorstellungswelt nicht erweitern können.; es ist möglich (aber auch gefährlich) mit einem wesentlichen Teil der eigenen Welt alleine zu bleiben, ganz alleine, in der Hoffnung, daß es irgendwo oder irgendwann eine Gemeinschaft gibt, die uns folgen kann.

 

(2) Die übliche bildungsbürgerliche Deutung

Interessanterweise ist in der philologischen Fachliteratur von dem, was im Text steht, nie die Rede. Da wird immer bloß wiedergekäut: Euphorion sei eine Allegorie auf Lord Byron und Goethes kritische Auseinandersetzung mit der Romantik auf dem Hintergrund seiner klassizistischen Einstellung.

Stellvertretend für den Philologenkonsens meint Lohmeier: In der Helenahandlung gehe es demgemäß auch nicht um ein Liebespaar, sondern er sei eine Allegorie auf die „geglückte Vereinigung von abendländischer Gefühlskraft und antikem Formvermögen“ (Lohmeier 350f).

Euphorion ist in dieser Lesart dann die Allegorie auf „das sich Los-Machen des Geistes aus dem Übergewicht der Form … das sich Freisetzen des Gefühls … [der] Anspruch des ungebändigten Gefühlstriebs auf eigene Artikulation“. Und die Eltern, die zur „Bändigung“ raten, sind eine Allegorie auf das „Streben nach Maß im Willen zur Form“. – Ähnlich sieht es Schmidt (Schmidt 255).

Schmidt fügt allerdings einen sinnvollen Aspekt hinzu: Daß es in der Euphorionhandlung ein weiteres Mal um das Thema Dilletantismus geht: Euphorion ist hier ganz der Papa, wie bei dessen Erdgeist- und Helena-Beschwörungs-Erlebnis. Schmidt konstatiert einen :“Kontrast zwischen realer Begabung und bloßen Ansprüchen“: Ein Genius ohne der Flügel, der dennoch fliegen möchte (259). Der Chor bestätigt das später: „Wolltest Herrlichstes gewinnen aber es gelang dir nicht“.

Lediglich Arens bricht aus dem Philologenchor aus: „Es zeigt sich eine konkrete und vernünftige Handlung, die an keiner Stelle einer kultur- , kunst- oder geschichtsphilosophischen … Deutung bedarf, um wirklich verständlich zu sein“ (Arens 739).

Über Lohmeiers Interpretationen schreibt er: „In summa kann man sagen, daß diese „Anleitung zum Lesen des Textes“ die gerade den 3. Akt mit Symbolik und historischen Fakten stopft, ihn weithin ungenießbar macht [und auch die Anleitung selbst wird dadurch ungenießbar W.L.] Der Text verträgt das nicht, er ist reich facettiert und läßt an manches denken, er bildet es aber nicht ab und bedeutet es nicht“ (740).

Arens bezweifelt, daß es „den Wert des Kunstwerks auch nur um einen Deut erhöhen würde“, wenn Goethe tatsächlich hier literaturhistorisches allegorisch chiffriert hätte (739f).

 

(3) Begründung meiner Deutung

(3.1) Goethes Verfahren und Euphorions Verwandtschaft mit Homunkulus

Goethes überlieferte Äußerungen legen nahe, daß er den Helenaakt und die Euphorionepisode durchaus auch im weitesten Sinne gleichnishaft verstand bezüglich der Attraktion, die von der Antike ausging und in der Renaissance zu einer Verbindung neuzeitlicher und antiker Kultur führte, einer Verbindung, die in einem „Klassizismus“ kulminierte, aus dem die Romantik sich befreite.

Goethe schrieb, er müsse als ethisch-ästhetischer Mathematiker auf die letzten Formeln hindringen durch die die Welt ihm faßlich und erträglich werde (Schöne 61). Schöne versteht diese „ethisch-ästhetischen Formeln“ als „komplexen ‚Zeichen‘, die sich auf etwas richten, das im Text als solches nicht präsent ist, wohl aber von ihm angezeigt wird“, die „verwaschenen Termini ‚Symbol‘ oder ‚Allegorie‘ seien „untauglich“ begrifflich zu bestimmen, womit man es hier zu tun habe (60f).

Möglicherweise hat Goethe beim Nachdenken über die Romantik spontan ein Bild gesehen: „das ist ja wie ein Kind, das sich aus einer übermächtigen Elternautorität befreien muß!“ – Solche Überlegungen zur Genese des Kunstwerks bleiben natürlich Spekulationen, könnten aber hilfreich dabei sein, herauszufinden, was das Wahrscheinlichere ist.

Doch erstmal sollte man die Logik einer Formel entziffern bevor man sie auf was anwendet.

Den „Formeln“, die etwas Besonderes in etwas Allgemeines transformieren, entspricht eine Arbeitsweise, die Goethe sich entwickelt hat: „Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren“ (Hamburger Ausgabe, Goethes Briefe, Bd. 4, S. 250).

Schöne erläutert dieses Verfahren: die „ineinander abspiegelnde Gebilde“ würden sich „wechselweise bestimmen, erhellen, einander Bedeutungen zuspielen“ (50).

In diesem Sinne rechtfertigt Homunkulus meine Deutung. Er ist jünger als Euphorion und könnte ein Kommentar zu Euphorion sein:

„Natürlichem genügt das Weltall kaum, das Künstliche verlangt geschlossenen Raum“. Homunkulus fühlt sich „künstlich“, d.h. er hat noch keinen eigenständigen Kontakt zu Welt, er kann sich nicht selber am Leben erhalten, er ist noch angewiesen auf Stütze: auf das stützende Glas: „Bisher gibt ihm das Glas allein Gewicht, drum wär er gern zunächst verkörperlicht“.

Das Reagenzglas als Eierschale, aus der Homunkel raus will, um „im besten Sinne zu entstehen“, weil er „nur halb zur Welt“ gekommen ist: „voll Ungeduld mein Glas entzwei zu schlagen“ .

Ähnlich Euphorion: „Was soll die Enge mir, bin ich doch jung und frisch“, „immer höher muß ich steigen, immer weiter muß ich schauen“

(3.2) Wofür die Philologie keinen Sinn hatte: Goethes deutliche Kritik unreifen Elternverhaltens

Soweit ich sehe wird von der Philologie übersehen: Euphorions Grenzüberschreitungen haben unterschiedliche Beweggründe: Er will erforschen, er will seine Kraft spüren, er will Sorge und Not teilen.

Er will Leid und Not teilen, d.h. er ist kein Psychopath sondern er ist mindestens normal empathisch. Und er weiß aus eigener Erfahrung was es heißt, wenn andere seine Locken nicht lassen, die doch sein sind. Wieso will er trotzdem ein Mädchen vergewaltigen oder zumindest körperlich übergriffig sexuell bedrängen? Dieser Widerspruch ist zu erklären.

Bestenfalls ist sein widersprüchliches Verhalten sprunghaft und unbedacht. – Aber wir können sinnvoll mehr darin sehen:

Wann findet sein Übergriff statt? Nachdem er sich den Eltern zuliebe zusammengenommen hat. – Was hat er bis dahin erfahren? Alle finden ihn toll. Er kriegt alles was er will. Er weiß gar nicht, womit er das verdient hat, er weiß nicht was er kann, was für besondere Stärken er hat. Sein Dasein ist unerträglich leicht. Er will seine Kraft spüren, aber er will noch mehr: seine Autonomie, seinen Willen spüren, indem er sich über moralische Grenzen hinwegsetzt. Es ist schon sinnvoll, seinen sexuellen Übergriff als überschießende Reaktion auf den Klammergriff der Eltern zu verstehen: Die Eltern haben seine Autonomieentfaltung blockiert, diese Einengung hat sein Autonomiebestreben unter Druck gesetzt, er hat ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich zu spüren: „Tue Kraft und Willen kund“.

Mit mehr Verständigung, Anleitung und vor allem: mehr elterlicher Abstinenz, wäre das nicht passiert. Elterliche Abstinenz bedeutet: Die Freude der Eltern an ihrem Kind geht nicht auf Kosten des Kindes. Die Eltern verbinden mit ihrer Elternschaft keinen persönlichen Mehrwert, z.B. Anerkennung durch ihre Kinder oder durch andere Leute. – Wer mit Kinder zu tun haben will, sollte bereit sein, seine Vorstellungen von den Kindern in Frage stellen zu lassen.

Goethe wollte vermutlich ein ganz toller Vater sein im Hinblick darauf, was er glaubte, wie Kinder sich entwickeln und bilden müssen. Und mit seiner überragenden Intelligenz konnte sich Goethe diese seine Vorstellungen so bestechend überzeugend machen, daß er jede Intuition für ihre Beschränktheit verlor. Er konnte deshalb nicht mehr zureichend unterscheiden zwischen korrektiven Signalen eines Kindes und kindischem Eigensinn; für ihn gab im Verhalten seines Sohnes vermutlich zuwenig Anzeichen, daß er seine väterlichen Vorstellungen vielleicht mal auf Beschränktheit und Selbstbezüglichkeit untersuchen sollte.

Die Euphorionszene deutet darauf hin, daß Goethe aufgrund seiner eigenen schlechten Erfahrungen mit seinem Vaterverhalten im Sinne einer Fehleranalyse eine Intuition entwickeln konnte für einen nicht kindgerechten starren Erziehungsstil, der Verständigung und Anleitung weitgehend ersetzt durch Autorität und moralische Manipulation: „Willst du deine Eltern wirklich so traurig machen?“

Mehr Verständigung bedeutet: mit dem Kind zusammen seine Antriebe sichten und wertzuschätzen. Mehr Anleitung bedeutet: Ihm Möglichkeiten zeigen und schaffen, wie es mit seinen Antrieben innerhalb der notwendigen Grenzen zu seinem Recht kommen kann. – Aber was geschieht hier?

Euphorions Getriebenheit wird nicht gewertschätzt und es wird nicht darüber gesprochen, was der Kleine alles will und was ihm an dem, was er will, so wichtig ist, daß er eine so hohe Bereitschaft hat, Grenzen zu überschreiten; es wird nicht mit ihm zusammen erwogen, was trotz elterlicher Bedenken mal versucht werden kann; und er erfährt keine Solidarität bezüglich der Notwendigkeit einer Begrenzung, nach dem Motto: „Ja, ich weiß, das ist Scheiße, du hattest ja Recht, wir konnten viel weiter gehen, als ich dachte, aber hier ist jetzt Schluß, diese Entscheidung mußt du mir überlassen, da wird nicht mehr diskutiert. Wenn hinterher was passiert, würdest du mir Vorwürfe machen und sagen: „Ihr seid doch die Großen, ihr habt doch den Durchblick, ihr wußtet doch, was passieren kann, warum habt ihr mich das trotzdem machen lassen?“

Faust und Helena haben keinen Arsch in der Hose: Statt bereit zu sein, den Unmut des Kindes auszuhalten ohne miese Laune und Liebesentzug, versuchen sie ihr Kind zu steuern mit Abwertung: „überlebendige heftige Triebe“, mit Angstmache: „Sturz und Unfall“ und mit Moralisierung, indem sie sinngemäß jammern: „Was tust du uns armen Eltern an!“

Nun könnte man Euphorions Verhalten auch einfach durch jugendlich-ungestüme Unbedachtheit erklären, ja. Aber das wäre auch nur eine Vermutung. Und wenn ich mich zwischen zwei Vermutungen entscheiden muß, wähle ich die, die gehaltvoller ist.

(3.3) Formale Bedenken gegen die philologische Standarddeutung

Die Euphorionhandlung ist psychologisch derart stimmig, daß es unwahrscheinlich ist, daß Goethe sie nicht unabhängig von aller Formelbildung, unabhängig von Lord Byron, Klassizismus und Romantik, ausgearbeitet oder „nachtwandlerisch“ ausgesponnen hat.

Möglicherweise waren seine Intuitionen bezüglich Generationenabfolge in der Kunst und in der Familie gleichursprünglich: Sich von was Übermächtigem befreien um auf eigenen Füßen zu stehen, um selber Erfahrungen zu machen, um auf der Grundlage, die die Eltern erarbeitet haben, weiter zu kommen, um die Möglichkeiten zu realisieren, die die Eltern nicht sehen konnten, weil sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln noch nicht realisierbar waren. Aber dabei in Fallen tappen, weil die jungen Leute noch nicht über die Erfahrung der Eltern verfügen.

Aber die künstlerischen Intuitionen haben ihre Eigendynamik, und die Bilder, Gleichnisse, Modelle, die uns in den Sinn kommen, um sie zur Klärung abstrakter Sachverhalte zu nutzen, entfalten ihre eigene Logik. „Ethisch-Ästhetische Formeln“ sind nie so exakt wie mathematische und sollen es auch nicht sein: „Je inkommensurabler um so besser“ soll Goethe gesagt haben.

Die Allegoristen übergehen Goethes deutliche Markierungen, weil sie ihnen nicht in ihren allegorischen Kram passen. Lohmeyer spricht nur von: die Eltern raten zur Bändigung (Lohmeier 352), sie warnen (358), sie versuchen seine Triebe zu binden und seinen Geist zu einer Formung „zu bewegen“ (358).

Aber Goethe hat doch ganz deutlich markiert, daß hier Eltern für ihre Elternschaft nicht die nötige charakterliche Reife haben: „Sind wir denn gar nichts dir?“, heißt soviel wie: Hast Du Mama und Papa denn gar nicht lieb, daß du so ungezogen bist?

Na, für was ist diese elterliche Unreife eine Allegorie? Vielleicht dafür, daß Rezensenten nicht die erforderliche Reife haben, um mit der neuartigen Dichtung der nachwachsenden Dichtergeneration bei aller berechtigten Kritik so sachlich und wertschätzend umzugehen, daß die jungen Leute nicht unnötig provozieren müssen?

Die Darstellung elterlicher Unreife wirft auch ein Licht auf das, was Goethe nach mündlicher Überlieferung über den 3. Akt gesagt haben soll: Faust und Helena, das Klassische, seien das gesunde, Euphorion, das Romantische, das Normale. – Das könnte sicher ein Aspekt der Interpretation sein. Aber so deutlich, wie Goethe das unreife Elternverhalten dargestellt hat, kann man nun wirklich nicht sagen, daß das Faust und Helena hier für das Gesunde stehen sollen.

„Es irrt der Mensch so lang er strebt“, sagt Gott im Hinblick auf Faust. Also wird es wohl Goethes Intention gewesen sein,  zu zeigen, daß es hier um einen weiteren Irrtum Fausts geht. Die Philologie geht immer davon aus, daß hier bloß Euphorion irrt. Das aber ist für den Plot des Dramas völlig unwesentlich.

Was mich so sauer macht ist: Daß die bildungsbürgerliche Philologie mit ihrem kleinkarierten Bildungsdünkel alles, aber auch wirklich alles dafür getan hat, die großen Kunstwerke als mühselig und langweilig zu markieren. Wer geht denn ins Theater, um sich ein Stück anzusehen, das eine literaturwissenschaftliche Diskussion, die vor 200 Jahren mal aktuell war, in chiffrierter Form darbietet? Oder für das man sich vorher Wissen über Plotin und Plutarch anlesen muß? – (Dazu mehr unter: Initiative zur Entstaubung klassischer Kunstwerke)

Weiterlesen:
Faust in Arkadien, die Utopie als Crashtest

Euphorion (Anmerkung zur Steininszenierung). – Euphorions Wandlung, interpretierende Geschichte 

Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel)

Wikipedia-Eintrag zu Euphorion

 

Literatur:

Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust II. Heidelberg 1989.
Damm, Sigrid, Goethes letzte Reise 334ff – Suhrkamp 2010
Lohmeyer, Dorothea, Faust und die Welt 350f – München 1977 (dtv)
Schmidt,Jochen, Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. 2. Auflage. C. H. Beck, München 2001
Schöne, Albrecht, Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte und Kommentare, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1994