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Inhalt:
(1) Die Widersprüche
(2) „Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist“: Versinterpretation
(3) Warum hat Goethe die ältere Konzeption nicht gestrichen?
(4) Zusammenfassung
(1) Die Widersprüche
(1) Faust wettet, daß er keinen noch so schönen Augenblick jemals zum Verweilen auffordern wird, aber Mephisto hat vor, ihm Erquickung zu verweigern, d.h. alles dafür tun, daß ein vollendeter Augenblick gar nicht erst entstehen kann. So würde Mephisto sich selbst torpedieren.
(2) Er torpediert seine Wette auch, wenn er Faust desillusioniert bezüglich der Menschheit Krone, statt Fausts Selbstwertillusion zu nutzen, um ihn schmeichelnd immer mehr zu belügen, bis er selbstgefällig wird.
(3) Faust stellt richtig, daß es ihm nicht um Freude geht, und Mephisto will ihn kurz darauf mit Lebensfreude ködern.
(4) Faust klagt, daß er am Ende dem Unendlichen nicht näher ist. Doch das müßte ihm doch egal sein, wenn es ihm um einen erfüllten Augenblick gar nicht geht, wenn von Freude nicht die Rede sein soll, wenn er keinen Schmerzen künftig sich verschließen will, wenn ihm Gelingen und Verdruß gleichgültig sein sollen!
(5) Es widerspricht sich, sich dem Taumel zu weihen aber eine Krone erringen zu wollen.
Gemeinsam ist diesen Widersprüchen, daß sie alle an der Nahtstelle der sogenannten „großen Lücke“ auftreten: Die Ergänzungen, die Goethe seinem Fragment hinzufügte, widersprechen dem, was im Fragment steht. Aber Goethe ließ das bereits Geschriebene unverändert stehen.
Der Germanist Wolfgang Binder hält die Widersprüche für Indizien, daß die Verse, die Goethe im Fragment ausführte, nicht gleichzeitig mit denen, die er später hinzufügte, entstanden sein können (Binder S.9). – Doch wir wissen nicht, was Goethe zum Zeitpunkt der Abfassung des Fragments schon alles vorgeschwebte. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß er im Fragment wegließ, was ihm noch unklar war, daß aber seine Intention bereits weiter ging, als allein aus dem Fragment ableitbar ist. Es wäre daher nicht unhaltbar, die Wettszene so zu interpretieren, als läge ihr eine bruchlose Intention zu Grunde.
Wir wissen auch nicht, ob Goethe die Widersprüche egal waren, oder ob er damit sogar eine Intention verband, ob er sie z.B. überhaupt als Widersprüche des Textes auffaßte, oder ob er Widersprüche zeigen wollte, wie sie typisch sind für Menschen.
Zur Klärung, was von den Widersprüchen zu halten ist und was das für die Wette bedeutet, schauen wir uns – der Strategie Binders folgend aber ohne seine Schlüsse zu übernehmen – die Verse des Fragments an und interpretieren sie unabhängig von den später vorgeschalteten Versen:
(2) „Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist“ – Versinterpretation
Nach dem enttäuschenden Erdgeisterlebnis hofft Faust, mit dem Erringen von „der Menschheit Krone“, dem Unendlichen näher zu kommen. (Die Erweiterung zum Menschheitsselbst scheint sinnverwandt mit dem Erringen der Menschheitskrone und dem Herbeiraffen aller Schätze des Menschengeists.) – Was Faust vorschwebt bleibt unklar. Denn was soll das heißen, sich zum Menschheitsselbst zu erweitern? Und was ist damit gemeint, daß die Menschen alle scheitern? Womit scheitern sie? – Fausts scheint zu glauben: „Wenn ich alle Schätze des Menschengeists herbeigerafft habe bin ich dem Unendlichen näher, und zwar selbst dann, wenn ich genauso scheitere wie alle andern Menschen!“
Unvorbereitet Zuschauende könnten das „Scheitern“ als trotzige Heldenpose verstehen, die den Selbstwert erhöht: „Selbst das bringt mich nicht aus der Fassung“, die aber eigentlich – wie aller Pessismismus – bloß vor Enttäuschung schützen soll.
Und Fausts Wunsch nach der Menschheit Krone könnte als Selbstwerterhöhungsbedürfnis verstanden werden, das sich offenbar aus dem Erdgeisterlebnis speist: Wenn schon kein Gott, dann wenigstens ein Übermensch, aber auf jeden Fall mehr als nur ein normaler Mensch (Binder S.42; 56ff). Bekräftigt wird diese Deutung wenn Mephisto Faust belehrt, er bleibe trotz der Menschheit Krone doch immer, was er sei, und Faust dadurch niedergeschlagen erkennt, trotz Krone tatsächlich kein Haarbreit höher zu sein.
Doch wenn wir genauer nachdenken: Was könnte Faust meinen mit dem Wunsch, sich zum Menschheitsselbst zu erweitern?
Faust will vom Menschsein nichts verpassen. Er will alles an Expertise über das Menschsein erlangen, was möglich ist. Es soll ihm keiner vorwerfen, er urteile über die menschliche Existenz, ohne sie genügend zu kennen. Er will wissen, wie sich das anfühlt, ein Beethoven, ein Picasso, ein Goethe, ein Kant, ein Napoleon zu sein, er will wissen, wie es sich anfühlt, die größten Abenteuer bestanden zu haben, die schlimmsten Schmerzen, Gefahren, Entbehrungen und Enttäuschungen gemeistert zu haben, wie es sich anfühlt, dem Tod ins Auge geschaut zu haben (und zwar unausweichlich, nicht freiwillig), wie es sich anfühlt, die atemberaubensten Verzückungen der Liebe und der Gottesnähe erlebt zu haben.
(Doch will er wirklich auch wissen, wie es sich anfühlt, plötzlich aus einem gelingenden Leben herausgerissen, als Hexe verdächtigt, tagelang gefoltert und dann auf dem Marktplatz lebendig verbrannt zu werden? Vermutlich meint er: Er will erleben, wie es ist, die äußerste Verzweiflung überwunden zu haben; aber er will bestimmt nicht erleben, wie es ist, so verzweifelt zu sein, daß er den Verstand verliert, wie Margarete im Kerker. – Nur überwundene, bewältigte Verzweiflung ist ein Schatz, Verzweiflung, die überwältigt, die zugrunderichtet, die die Seele zerstört, ist kein Schatz, die will Faust wohl kaum erleben.)
Daß selbst das grandioseste und gemeistertste Leben bloß scheitern könne, soll wohl soviel heißen wie: „Alle Vorstellungen, die wir uns von unserem Leben machen, alle Hoffnungen, einstmals mit dem Leben das Gefühl verbinden zu können, es sei gelungen, werden von der Wirklichkeit höhnisch widerlegt. Machen wir uns doch nichts vor, ein Gelingen des Lebens ist grundsätzlich nicht möglich! Wenn wir ehrlich sind, werden wir selbst am Ende des denkbar besten Lebens feststellen: Das Erleben war zu flüchtig und das Schaffen zu begrenzt, es war alles lau und sinnlos.“
Der Erdgeist hat Faust beigebracht: Wir ertragen die Nähe zum Unendlichen gar nicht! Rilke drückt das so aus: „Wer wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme mich einer plötzlich ans Herz: Ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht uns zu zerstören“ (1. Duineser Elegie). – Für Faust heißt das: Es gibt für den Menschen keine Erfüllung, die seiner Würde gerecht würde.
(Hier ist zu bedenken: daß die Gewißheit, in jedem Fall zu scheitern, eigentlich damit in Widerspruch steht, kurz darauf darüber enttäuscht zu sein, alle Schätze des Menschengeists vergeblich auf sich herbeigerafft zu haben. Das könnte so gedeutet werden, daß bereits im Fragment zwei verschiedene Intentionen Fausts vorliegen! – Aber Faust könnte durchaus auch sowas meinen: „Scheitern werde ich sowieso, aber es ist ein Unterschied, in welcher Entfernung vom Unendlichen man scheitert!“)
Aufschluß über das, was Faust mit seinen Worten meint, können wir von Mephistos Erwiderung erhoffen: Selbst er als Teufel kaue seit Jahrtausenden an dieser „harten Speise“, da könne es in der Dauer eines Menschenlebens grundsätzlich nicht gelingen den „alten Sauerteig“ zu verdauen.
Die harte Speise, der alte Sauerteig: das scheint der Widerspruch zu meinen, der für alle mit Bewußtsein ausgestatteten Geschöpfe gleich ist: die Fähigkeit zu Gestaltung und Selbstbestimmung zu haben aber dennoch grundlegend fremdbestimmt zu sein. Dieser Widerspruch von Bewußtsein und Geschöpf-Sein bleibt unzerkaulich, unverdaulich; die vorgegebene Naturausstattung bleibt uns fremd, alles, was wir uns nicht aussuchen konnten, was wir nicht mitgestalten konnten, sondern hinnehmen müssen, all das können wir uns nie ganz anverwandeln, wir können uns, wenn wir ganz ehrlich sind, damit nie völlig identifizieren.
Wenn Mephisto erwidert, daß keiner den Sauerteig verdaut kriege, dann impliziert das, daß Faust glaubt, die Erweiterung zum Menschheitsselbst könne in irgendeiner Weise dazu beitragen, sich den Widerspruch zwischen Bewußtsein und Geschöpf-Sein „verdaulich“ machen. – Das wäre schon merkwürdig: Um das Leben zu verdauen schiene es Faust dann nicht nötig, daß das Leben gelingt, sondern selbst ein „verdautes“ Leben wäre zum Scheitern verurteilt. Wenn schon kein Gelingen, dann wenigstens Verdauen, das scheint Fausts Intention zu sein. Aber welchen Beitrag zum Verdauen die Krone leisten soll, müssen wir noch herausfinden.
Auf Mephistos Desillusionierungsversuch erwidert Faust nicht: „Du kannst mir viel erzählen, du Lügengeist, ich glaub dir kein Wort!“, sondern „Allein ich will!“ Das heißt soviel wie: „Das will ich selber sehen, ob das mit dem Verdauen klappt oder nicht, aber auf jeden Fall will ich der Menschheit Krone!“
Diese Wendung erhärtet meine Vermutung, daß Verdauen und Krone-Erringen verschiedene Intentionen sind: Faust will beweisen, daß selbst ein Leben, das alles Menschenmöglich erlebt hat, nur scheitern kann, und dabei schwingt die noch nicht ganz bewußte Vorstellung mit, der übermenschliche Zuwachs an Erlebnissen befriedige auch den Wunsch, dem Unendlichen näher zu kommen. – Nach Mephistos Einwänden sieht Faust, daß seine Intuitionen irrig waren: Was ein einzelner Mensch erleben kann ist grundsätzlich zu wenig um irgendetwas über die Existenz zu beweisen und erst recht um der menschlichen Beschränktheit zu entkommen.
Diese doppelte Einsicht Fausts läßt vermuten: Wenn trotzdem die Wette nicht sinnlos wird, muß der Wette noch eine weitere Intention zugrundeliegen, eine Leitintention, für die die gescheiterten Intentionen nur Nebenintentionen waren. – Ob Goethe, als er das Fragment schrieb, bereits eine Ahnung von dieser Intention hatte, können wir nicht wissen, aber es ist nicht ausgeschlossen. – Also mit dem Verdauen wird es nichts, mit der Menschheit Krone wird es nichts und mit der Nähe zum Unendlichen auch nicht. Was bleibt dann noch?
Überprüfung meiner Deutung:
Wieso könnte der Beweis, daß das Leben bloß scheitern kann, ein sinnvolles Ziel für Faust sein?
Nun, er weiß dann, woran er mit dem Leben ist. Er kann sich als Opfer fühlen und entsprechende Ansprüche stellen, im Sinne von: „Wenn das so ist, dann kann keiner von mir was verlangen…“. Und er hat die Gewißheit, daß das Scheitern nicht an ihm liegt, weil er zu blöd ist, aus seinem Leben was zu machen, sondern er hat für das Scheitern seines Lebens keine Verantwortung.
Aber das sind bloß unbewußt mitschwingende Intentionen. Die Metapher des „Verdauens“ bezieht sich auf eine bewußte Intention Fausts: Das Leben durchschaut haben, zu wissen, woran man ist, bedeutet: eine entschiedene, sichere Distanz dazu gewonnen zu haben, einen eigenen Standpunkt.
Eine Identität als starker Mann, unwiderstehlicher Liebhaber oder toller Vater wäre nur eine Identität die mit unserer natürlichen Ausstattung und ihren natürlichen Zwecken verbunden ist. Faust will aber eine selbstgeschaffene nicht-natürliche Identität: „Ich bin der, der sich nicht mit diesem Leben identifiziert, weil ich erkannt habe, daß es wirklich nichts gibt, mit dem ich mich identifizieren will, daß es nichts gibt, das ich von mir aus bejahen würde; niemals hätte ich mir selber diese Existenzform ausgesucht! Die Würde eines bewußten Wesens verlangt ein anderes Leben, nicht ein derart getriebenes, flüchtiges, verletzliches und begrenztes!
Wenn Fausts Bemerkung vom Scheitern als trotzige Pose gedeutet wird, dann kann seine Intention, das Leben „zu verdauen“ nur mit dem Erringen der Menschheitskrone verbunden sein. Das gibt aber weitere Fragen auf: Was soll dann „verdauen“ heißen? Und was sollen das für Erkenntnisse oder Erlebnisse sein, die dazu führen, daß wir mit dem Leben das Gefühl verbinden, es „verdaut“ zu haben? – Vielleicht könnte gemeint sein: Der Erkenntniszuwachs in der Nähe es Unendlichen ermögliche es, mit dem Dasein versöhnter zu sein, ermögliche mehr Würde. Aber trifft das die Metapher des Verdauens: „Ach, wenn ich doch wenigstens durch erleben von allem Wohl und Weh der Menschheit Krone erringen könnte! Sicher, auch damit würde ich bloß zerscheitern, aber mit Krone könnte ich es wenigstens verdauen!“
Die meisten Interpreten interpretieren das „Weh“ weg: Sie versuchen aus der Form von Fausts Worten herauszulesen, daß Faust gar nicht weiß, wovon er redet, daß das alles bloß hohles selbstmitleidges Geschwätz sei. (So Binder: Faust wolle das Weh genießen, es sei also kein Weh und außerdem gar nicht ernstgemeinte Absicht (Binder S.19). Oder daß das Weh nur als verschärftes Wohl verstanden werden soll. – Aber das sind nur herbeikonstruierte Hilfshypothesen!
Wie erleben die Zuschauenden das spontan, bei der Inszenierung? – Da scheint Faust irgendeine Form von Befriedigung aus der Vorstellung einer Verbindung von erweitern und scheitern zu ziehen. Das vermittelt die performative Oberfläche. Die Semantik verbindet entweder das Erweitern oder das Scheitern oder die Verbindung von beidem mit „Verdauen“.
Ich halte diesen Sinn für den naheliegensten: „Daß alle Menschen scheitern ist ja kein Wunder, weil keiner Alles hat. Aber selbst wenn man alles hätte, könnte das Leben bloß scheitern, da wett ich mit dir!“ Mögliche wäre zwar auch: „Scheitern werd ich sowieso, aber die Krone wäre wenigstens ein gewisser Trost“. Aber wie gesagt: Faust wirkt nicht wie ein Trostsucher.
3 Warum hat Goethe die ältere Konzeption nicht gestrichen?
Binder versteht die Fragment-Verse als eine eigenständige Alternative zu einer Paktszene, so daß zum Zeitpunkt der Abfassung des Fragmentes eine weitere Intention Goethes, wie Faust sich mit dem Teufel verbindet, nicht vorgelegen haben müsse: Faust träume davon, ein Übermensch zu werden, Mephisto läßt diese Blase platzen und macht ihm stattdessen des Lebens Freude schmackhaft. Danach glaube Faust, „das bisher versagte Vergnügen im noch unbekannten Lebensgenuß zu finden“ (Binder S. 69) und seine Frage „wie fangen wir das an“, sei eine Einwilligung, sich von Mephisto führen zu lassen (Binder S.37f). Es gebe keinen Pakt, es gebe nur beiderseitiges Bemühen, den andern über den Tisch zu ziehen: Faust dürfe den Teufel ausnutzen, müsse aber aufpassen, daß er ihm dabei nicht verfällt, und der Teufel dürfe versuchen, Faust mit Reizen derart den Kopf zu verdrehen, daß Faust ihm erliegt. (Binder interpretiert das „zappeln, starren, kleben“ als „physisch-moralischen Zusammenbruch“ (S.32).
Binder macht darauf aufmerksam, daß ein Pakt dramatisch wenig sinnvoll wäre, weil der Ausgang feststeht. Er vermutet, daß Goethe daher nie an einen Pakt gedacht hat, sondern sich mit dem Problem konfrontiert sah, eine ergebnisoffene Art der Verbindung zwischen den beiden hinzukriegen.
Die Frage ist: Warum strich Goethe nicht das überholte Konzept der Verbindung Faust-Teufel, nachdem er die Idee mit der Wette ausgearbeitet hatte? – Vielleicht ist die Antwort ganz einfach: Weil es schade wäre, so tolle Worte zu streichen.
Der Angelpunkt, der die Füllung der „großen Lücke“ mit dem Fragment verbindet, und möglicherweise auch der Kern ausmacht, aus dem sich die Intention Goethes vom Fragment zur Wette entwickelte, scheint mir die Unverdaulichkeit der harten Speise zu sein, die existentiellen Verdauungsprobleme bewußtseinsfähiger Geschöpfe. Faust will klarkommen mit seinem Dasein als Engel-Tier-Schimäre, er will sich eine Meinung bilden, was er davon zu halten hat; und nach dieser Klarheit unablässig zu streben ist das Einzige, von dem er glaubt, daß es Würde verleihen kann. Ob er diese Klarheit erreicht, ob der den alten Sauerteig verdaut kriegt, ist dabei egal, Hauptsache ist: alles versucht zu haben um zur Not damit klarzukommen, daß damit nicht klarzukommen ist.
Ohne die Fragmentverse würde diese Intention Fausts nicht klar, wie sie ja auch Mephisto nicht klar wurde, so daß Faust richtigstellen mußte: „Von Freude ist nicht die Rede!“ Und mit dieser Richtigstellung schließt Goethe an die Fragmentverse an und schafft mit Mephistos Erwiderung Klarheit über Fausts Intention: Worum es Faust in der Endfassung eigentlich geht ist: er will beweisen, daß Menschen fähig sind, sich durch keinen Genuß dazu bestechen zu lassen, das Streben, die Widersprüche und Würdewunden der menschlichen Existenz zu bewältigen, aufzugeben.
Gerade durch Mephistos Widerlegung von Fausts Nebenintentionen schält sich die Hauptintention, die mit der Wette verbunden ist, heraus. Auch psychologisch ist es glaubhafter, daß Faust seine Doktorflausen nicht auf Schlag alle verliert sondern erst in einem Klärungsprozess herausfindet, worauf es ihm allein ankommt.
Es bleiben allerdings die Widersprüche in Mephistos Verhalten. Auch hier wissen wir nicht, ob Goethe diese Widersprüche in der Konzeption der Mephistofigur nicht bereits vorschwebten. Auf dem Hintergrund von Fausts Intentionen scheint es, als ob Mephisto gar nicht glauben kann, daß Menschen zu einer so radikalen Redlichkeit fähig sind, wie sie nötig ist, um die eigene Standhaftigkeit mit allen Kräften zu testen, sondern daß Faust sich bloß was vormacht, um sein aufgeblasenes Selbstbild nicht Lügen zu strafen, und es ihm, wie allen andern Menschen auch, in Wirklichkeit doch bloß um Macht, Geld und Sex geht. – Gott sagt zu Mephisto eigentlich das Gleiche wie Faust: Du verkennst die Menschen. Aus Verkennung versucht Mephisto, Fausts Intention zu disqualifizieren und ihn auf manipulative Weise dazu zu bringen, an seinen Absichten zu zweifeln und sich einfach bloß ins Spaßbad eines vom Teufel aufgehübschten Lebens zu stürzen, in dem er ihn entweder moralisch zu Grunde richtet oder ihn dazu bringt, sich herabzuwürdigen, indem er um Erquicklung winselt und fleht.
4 Zusammenfassung
Faust sagt nicht: „Ich wette, du kannst mich nicht bestechen, mein Bestreben, das größte Werk der Menschheit zum Ruhme Gottes oder zum Nutzen der Menschen zu schaffen wegen Genuß scheitern zu lassen“ – Er wettet auch nicht: „Du kannst mich nicht davon abhalten, nach der wahren Erfüllung zu streben“, denn an die glaubt er nach dem Erdgeisterlebnis nicht mehr. – Fausts Wette geht also dahin: „Ich werde das Menschsein, so wie die Natur es vorsieht, nicht annehmen. Und ich werde beweisen, daß wir Menschen das schaffen können, weil alles andere eine Selbstentwürdigung wäre. – Ich lasse mich nicht abspeisen mit schönen Augenblicken!“
Literaturnachweis:
Binder, Wolfgang, „Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist“. Gießen 1944.
