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Wir alle neigen zur Verstiegenheit. Der polemische Titel ist insofern unfair. In dem, was kollektiv selbstverständlich geworden ist, entsteht ein Phänomen, das die Sozialpsychologie „shifting baselines“ nennt: die Grenzen für das, was als okay gilt, verschieben sich unter der Hand immer weiter, bis Außenstehende nur noch den Kopf schütteln.
In den Geisteswissenschaften kann dieses Phänomen mit dem Begriff des Denkstils oder Paradigmas erklärt werden.
Hier nochmal das Zitat des Wissenschaftstheoretikers Fleck: „Zugehörig einer Gemeinschaft erfährt der kollektive Denkstil die soziale Verstärkung … die allen gesellschaftlichen Gebilden zuteil wird. … Er … bestimmt, was nicht anders gedacht werden kann. … Die … Abgeschlossenheit jeder Denkgemeinde geht parallel einer stilgemäßen Beschränkung der zugelassenen Probleme: es müssen immer viele Probleme unbeachtet bleiben oder als unwichtig oder sinnlos abgewiesen werden“. (Link zum Wikipediaartikel zu L. Fleck)
Zumindest an der älteren Philologie lassen sich diese Züge in lehrbuchhafter Deutlichkeit erkennen. Die aktuelle Philologie ist vielleicht reflektierter, doch wie reflektiert auch immer: Auch wir und die nach uns Kommenden müssen damit rechnen, unseren Denkstilen weit mehr auf den Leim zu gehen, als es in unser Selbstbild paßt. Daher kann eine Denkstilbeschreibung unsere Intuition für unsere eigene Beschränktheit stärken und Selbstreflektion erleichtern.
(1) Beispiel Schmidt
(1.1) Schmidt diagnostiziert einen „enthistorisierenden Trivialisierungsprozeß“ in der Rezeption von Goethes Faust. Ich frage mich, warum er kein Beispiel dafür anführt: Welche Gehalte werden durch Enthistorisierung trivialisiert, und wie reichern historische Informationen die Bedeutung der Dichtung an? Und was genau macht den Unterschied, ob ich historisch informiert bin oder nicht? – Da Schmidt zu diesen Fragen nichts ausführt, ist mir nicht klar, ob sie sich ihm gestellt haben oder seine Gedanken über den Status einer ungeklärten, unüberprüften Intuition nicht hinausgekommen sind.
(1.2) Schmidts Faust-Buch ist voraussetzunglos lesbar, es ist nicht auf einem Informations- und Abstraktionsniveau geschrieben das nur für Fachleute verstehbar ist. – Dennoch fand ich das Lesen äußerst mühselig und für die Interpretation kaum fruchtbar: Ich mußte mich durch einen Minimalismus durchwühlen, in dem ähnliche Aussagen immer wieder wiederholt werden mit immer neuen Informationen darüber, wo das alles so oder ähnlich schon von wem gesagt wurde, bis hinab in die Weiten der Antike. – Falls Schmidt daraus Schlüsse gezogen haben sollte, die für die Interpretation relevant sind, sind sie mir nicht aufgefallen, weil mein Kopf schwirrte vor Informationen, über deren Interpretationsrelevanz mein Kopf vergeblich versuchte sich Rechenschaft zu geben.
Sicher, die Philologie verschafft uns einen Einblick in die Werkstatt der Dichter. So zeigt Schmidt, daß Goethe seine Phantasien nicht willkürlich erzeugt hat („bloße poetische Imagination“) sondern sich an historischem Material orientiert: an der Art, wie Menschen mal tatsächlich gedacht haben. Schmidt zeigt, was aus Goethes Quellen alles eingegangen ist in Goethes Gebrauch alchemistischer, magischer, religiöser, esoterischer Begriffe und Vorstellungen, wie z.B. Makrokosmos, Erdgeist, Engelhierarchien usw.
Die Frage ist allerdings: Was genau fügt philologisches Wissen demjenigen Verständnis hinzu, das der Text selbst, ohne Kenntnis des „historischen Hintergrunds“ vermittelt? – Fausts Anfangsmonologe sind weitgehend selbsterklärend: daß Faust versucht, mit verfehmten und fragwürdigen Praktiken etwas zu erreichen, und daß er dabei entweder sich selbst betrügt oder mit etwas konfrontiert wird, dem untrainiert kein Mensch gewachsen ist. – Ich habe nicht den Eindruck, daß ich nach der Lektüre von Schmidts Ausführungen jetzt mit einer Lupe ausgestattet bin, die mir wichtige Strukturen und Zusammenhänge sichtbar macht, die mir ohne Lupe entgehen.
(Im Übrigen stellt sich mir eine grundsätzliche Frage: Was wäre eigentlich der Unterschied, ob ein Dichter auf historisch verbürgte mythologische Vorstellungen zurückgreift, oder auf Phantasiemythen? – Hinweise, wieso Goethe es vorteilhaft fand auf christliche und neuplatonische Figuren und Ideen zurückzugreifen (die er dann ja doch in seinem Sinne variierte), statt einfach eigene Bilder und Gleichnisse zu entwerfen, habe ich bisher bei allen PhilologInnen vergeblich gesucht.)
(1.3) Beispiele aus Schmidts Text:
(1.3.1) Daß Fausts Ergriffenheit nur „aus dem Kontext der empfindsamen und im Sturm und Drang aufs Höchste gesteigerten Gefühlskultur denkbar ist“ (77): was hilft diese Information zum Verständnis? Zumal, wenn diese Gefühlskultur den Lesenden dann nicht vor Augen geführt wird? Warum schreibt Schmidt dazu nichts? Das wäre weit instruktiver, als seitenweise Informationen darüber, wo überall schonmal ein Begriff aufgetaucht ist.
Sicher: Auf einem reichen Bildungshintergrund bezüglich der Goethezeit kann sich abzeichnen, was damals verstehbar war, was damals neu war, was damals provokant war, wie Goethe das Provokante des Sturm-und-Drangs dann weiterführt hat, teils höherentwickelt, teils verworfen oder lächerlich gemacht. – Die Frage ist jedoch: Wie relevant für die Aussage des Dramas ist diese Tiefenschärfe? Und steht der Aufwand, sie zu erschließen, in einem sinnvollen Verhältnis zum Gewinn? Läßt der „Faust“ rein „immanent“ interpretiert, so an Gehalt und Komplexität zu wünschen übrig, daß man ihn mit der Vermittlung historischer Informationen anreichern muß? Oder könnte es im Gegenteil sein, daß diese Information mehr an Gehalt verstellt, vom Wesentlichen ablenkt, das Erleben überfrachtet und so die Rezeption behindert?
Und was wissen wir wirklich, wenn wir lesen, daß Goethe das „Pansophische Modell“ (das bedeutungsschwer klingt, sich aber mit zwei Worten umschreiben läßt: Welt und Gott sind eins) mit dem „von Rousseau ausgehenden Natur- und Gefühlskult“ verbunden habe (78)? Oder daß man im Neuplatonismus glaubte, die Einheit von Gott und Welt „mystisch erfahren zu können“ (78)? – Auch hier wieder: Was nützt die Information über Rousseaus Naturkult, wenn Schmidt nichts dazu schreibt? Alle, die Rousseaus Naturkult kennen, werden die Verbindung auch ohne Schmidts Hinweis erkennen; für alle die ihn nicht kennen ist diese Information sinnlos. – Ohne die Zusammenhänge zwischen Text und Quelle auszubuchstabieren und ihre Bedeutung zu diskutieren, macht sich Schmidt zum Museumsführer: „Hier sehen Sie einen Rousseau und dort hinten links ein Sturmundunddrang.“ – „Aha“, kann ich da nur sagen.
(1.3.2) Schmidts Text Seite 74-75 ist eigentlich bloß eine Aufzählung, wer alles wann die Magie zur höchsten Weisheit und Wissenschaft erkoren hat. Was an diesem „geschichtlichen Horizont“ für die Deutung nützlich sein soll, wird mir nicht klar.
„Doch kommt dem feurigen Elementargeist … eine eigene naturphilosophische Qualität zu. Sie verleiht der Bezeichnung „Erdgeist“ erst ihre Füllung“ (86). Schmidt meint, der „Nachvollzug des historischen Prozesses, der diese Füllung vermittelt“, sei nicht „ideengeschichtlicher Selbstzweck“. Sondern: „nur so tritt die Tiefenschärfe einer Vorstellung ins Bewußtsein die nicht bloß der poetischen Imagination entspringt“ (87). – Doch was lesen wir dann? Inhaltlich ständige Wiederholung des Immer-Gleichen: daß Feuer die alldurchdringende Weltseele sei, schon bei Heraklit, dann in der Stoa und so weiter bis in die Renaissance. Was sagt uns das alles? – Alles was Schmidt auflistet, geht über das, was Goethe in seinen Versen darbietet, nicht hinaus. Insofern können wir auch den Text der Erdgeistszene als hinreichend selbsterklärend auffassen.
Was bringt uns so ein Satz: S. 80:
„Die auf- und niedersteigenden Himmelskräfte sind die Gestirne, auf deren goldenes Licht die „goldenen Eimer“ deuten – eine schon vorgegebene Metapher (von Jantz, 1953, in Miltons Paradise Lost VII 359-365, nachgewiesen) die der mystisch-neuplatonischen Vorstellung von der Emanation, vom „Fließen“ des göttlichen Lichts entspricht, das damit wie eine Flüssigkeit in „Eimer“ gefaßt werden kann (das fließende Licht der Gottheit lautet der Titel der mystischen Hauptschrift Mechthilds von Magdeburg)“.
Sicher, die Makrokosmosszene wird nicht völlig klar ohne Wissen über vormodernes metaphysisches Denken: Über die Phantasie von „Welt-Harmonien“, in denen alles, von den Sternen über die Menschennatur bis zur Musik „nach einem einheitlichen harmonischen Gesetz erfaßt werden sollte“ (78). In dieser Szene zeigt sich ja gerade Fausts moderne Redlichkeit: Er fragt sich: Ist ja ganz nett, aber was hilft mir das denn jetzt wirklich weiter?
Doch um zu verstehen, was es bedeutet, daß Faust so oft von Seele spricht, ist es da wirklich nötig, etwas zu wissen über die mittelalterlichen Vorstellungen der nicht körperlichen doch geistigen Verwandtschaft von Mikro- und Makrokosmos? Was genau gewinnen wir, wenn wir es auf diesem Hintergrund lesen? – Wenn überhaupt, wäre es in diesem Zusammenhang sinnvoll, etwas darüber zu lesen, nach welchen Regeln vormoderne Weltbilder aufgebaut sind und beim Ordnen ihrer Welt verfahren, und welche Voraussetzungen nötig sind, damit Menschen daran zweifeln und sie überwinden können. Soetwas läßt sich mühelos auf fünf Seiten in Grundzügen darstellen. Auf diesem Hintergrund würden die Angaben Schmidts dann auch von einer Aufzählung zu einem dreidimensionalen Bild. Eine Aufzählung allein führt nicht zu „Tiefenschärfe“.
Schmidt scheint einen Erkenntnisgewinn im Quellenstudium zu sehen. Schade, daß er bloß schreibt, daß die Recherchen, die er uns darbietet, zu einem Erkenntnisgewinn führen, statt daß er seinen Erkenntnisgewinn, vor allem seinen Erlebnisgewinn darstellt. Mit bleibt schleierhaft, was Schmidt sich von seinen Mühen verspricht. Schmidt bleibt es soweit ich sehe schuldig, zu erweisen, was es bringt, das „enorme Gegenwartspotential des Werks durch historische Reflexion zu vermitteln“.
(1.3.3) Schmidt stellt sich auch nicht die Frage, was seine Vorstellungen darüber, wie Quellenwissen den Text enttrivialisieren, für eine Inszenierung bedeuten: Haben wir nur die Wahl, die Leute zu einer trivialisierten Rezeption im Theater anzustiften oder sie während des Schauspiels ständig mit eingeblendeten Hintergrundinformationen zuzuballern? Oder den Eintrittskartenerwerb von der Vorlage eines Proseminarscheins abhängig zu machen?
(1.4) Schließlich meint Schmidt, „historische Tiefenschärfe“ würde „oberflächlichen Ideologisierungen entgegenwirken“. Doch im Schlußkapitel zeigt er selber, daß diese Ideologisierungen auch ohne jede historische Information ganz schnell sich verflüchtigen durch die Worte des Dramas selbst: „Man pries das Faustische Streben, ohne zu beachten, daß es schon im Prolog im Himmel heißt: „Es irrt der Mensch solang er strebt“, man identifizierte sich mit dem Kolonisator, ohne seine Opfer zu bemerken, man begeisterte sich für den Boden, den er gewann, ohne zu beachten, daß er als „Wasserboden“ bezeichnet wird, dem nicht zu trauen ist, man glaubte an Fausts Täter-Mission in der Welt, ohne zu sehen, daß sie in einem blinden Wahn endet“ (312f).
(1.5) Sprachlich und begrifflich halte ich Schmidts Ausführungen öfter für unklar. Was soll denn das heißen: „weltlose Innerlichkeit“ (68)? „unmittelbares Leben“ (71)? Oder: „Ganzheitserfahrung“ und „Erkenntnis des Wesentlichen“ (73)? – Beim Lesen scheint uns das irgendwas zu sagen, aber wenn wir versuchen uns Rechenschaft darüber abzulegen, was genau es uns sagt, wird es immer nichtssagender. – Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich einen Essay schreiben: „Wittgenstein als Erzieher“.
(2) Beispiel Lohmeyer
Das Wort „Verstiegenheit“ fiel mir ein, als ich in Lohmeyers „Faust und die Welt“ schmökerte. Nun könnte mir entgegnet werden, daß Lohmeyer schon im damaligen philologischen Denkstil nicht unumstritten war. So nannte Staiger einige ihrer Ausführungen „pedantisch“ (s.u. 2.2.3). – Aber so umstritten, daß das Buch von den „Gatekeepern“ renommierter Wissenschaftsverlage nicht angenommen wurde, war ihr Ansatz nunmal nicht. Nur was im Rahmen des Denkstils diskutabel ist, schafft es durchs Gatter. Und gerade solche Grenzfälle wie Lohmeyer sind geeignet, einem Denkstil auf den Zahn zu fühlen: Nach welcher Logik muß er funktionieren, welche unreflektierten Werte, Wünsche und Hintergrundannahmen spuken in ihm, wenn er soetwas durchwinkt?
(2.1) Lohmeier zitiert einen Kollegen (368 Anm.2): Goethe habe im Alter weitgehend in einer „Terminologie“ geschrieben, „viele Wörter bedeuten nicht das Gewöhnliche. Aus einer Privatmythologie ist ihnen ‚terminologisch‘ eine besondere Bedeutung zugefallen“. – Diese These nutzt Lohmeier als Freifahrtschein, um tendenziell jedem Wort eine terminologisch-allegorische Bedeutung beizumessen.
Dabei wären an die These des Philologen eine Menge Fragen zu stellen: Wie wurde erkannt, daß Goethe ein Wort in seiner „Privatsprache“ gebraucht? Wo in Goethes Spätwerk wurde das überall erkannt? Wie tragfähig ist die Verallgemeinerung von den bekannten Stellen auf den Rest des Spätwerks? Welche Kriterien gibt es, an denen überprüft werden kann, ob Goethe an einer bestimmten Stelle Privatterminologie nutzt oder nicht? Ohne solche Kriterien läuft die Philologie Gefahr, in jedes Wort Privatsprache reinzulesen, auch wenn es vielleicht gar nicht privatsprachlich verwendet wurde.
Ich gehe davon aus, daß Goethe unmittelbar verstanden werden wollte, und eine voraussetzungvolle Terminologie nur dort brauchte, wo er gewissermaßen „Fachliteratur“ schrieb, also keine Kunstwerke für alle. Ich schätze sein Terminologiegebrauch beschränkt sich auf bestimmte gut identifizierbare Kontexte – falls das mit dem Terminologiegebrauch überhaupt stimmt und nicht von einigen wenigen Fällen in alle anderen hineingeheimnist wurde, um Goethes Texte möglichst „tief“ zu machen. – Gemäß Humes Diktum halte ich immer bis auf Weiteres das kleinere Wunder für wahr: Ich halte es für wahrscheinlicher, daß hier ein Philologe unsachgemäß verallgemeinert, als daß Goethe es so egal gewesen wäre, wie unmittelbar oder voraussetzungsvoll seine Werke zugänglich sind. (Zu Humes Diktum vgl.: Das Faustische, Pkt. 2.2.)
(2.2) Doch nun zu Lohmeyer:
(2.2.1) Will Goethe tatsächlich, daß man sein „naturphilosophisches System“ aus dem Faust herauslese? Oder hatte es für ihn nur heuristische Funktion im kreativen Prozeß? – Würde Goethe es nicht viel mehr wünschen, daß wir über ihn hinausgehen, statt seine historisch bedingte naturphilosophische Beschränktheit durch minutiöse philologische Rekonstruktion in der Rezeption seiner Werke zu konservieren? (Zu den Seiten 43ff.)
(2.2.2) Lohmeyer begreift die Geschichte Fausts als „Metamorphosen einer menschlichen Entelechie“ (40) (was eigentlich nichts anderes bedeutet als: Menschen entfalten ihr Potential.) An anderer Stelle führt sie aus, daß die „mephistophelische Autonomie“ zur „entelechischen Bestimmung des Menschen“ gehöre (49). Ich würde Frau Lohmeyer gerne fragen, was sie für einen Erkenntnisgewinn in diesen geschraubten Formulierungen sieht.
Grundsätzlich ist zum Gebraucht von Terminologie in den Geisteswissenschaften das Diktum des Logikers Tarski anzumerken: Die natürliche Sprache ist die letzte Metasprache. Bei „Entelechie“ denken sich humanistische gebildete Menschen was, aber sie buchstabieren das Gedachte nicht aus. Was an Unklarheit und Irrtum darin liegt, bleibt im Dunkeln.
„Um Wahrheit bemühte Wissenschaft … bedient sich des schärfsten Werkzeugs: der Astromom der schärfsten Linsen, der Naturforscher der feinsten Waagen, genauesten Maßstäbe, klarster Vergrößerungsgläser. Die deutschen Geisteswissenschaftler bedienen sich trüber Linsen, plumper Waagen, roher Maßstäbe, so oft sie ihre Gedanken nicht mit den klarsten Worten gefühlter Muttersprache, sondern mit den schwammigen und entstellten aus allerlei fremden, ungefühlten Sprachen ausdrücken“ (Engel 1931). (Fremdworte durch muttersprachliche Worte zu ersetzen ist ein Geheimtipp für klares Denken und guten Stil! Versuchen Sie’s mal!)
Manchmal scheint es, als sei der professionelle akademische Apparat ein Blankoscheck für Schwafelei. So wenn Lohmeyer schreibt, Fausts Heilschlaf nach Margaretes Katastrophe bewirke für ihn eine Verwandlung „aus dem psychologischen in ein kosmisches Ich“ (61). Es ist nicht nur fraglich, ob Goethe eine solche grundlegende Veränderung Fausts hier oder an irgendeiner Stelle intendiert hat, es ist vor allem völlig unklar, was „kosmisches Ich“ heißen soll. – Das Bildungsbürgertum befriedigt fortwährend seinen Wunsch nach „Tiefe“ indem es Unklarheiten erzeugt und damit den Schein von Mehrwert ermöglicht („kosmisch“). – Schon merkwürdig, daß da offenbar generationenlang niemand gemerkt hat, wie abgeschmackt das ist!
(2.2.3) Lohmeyer durchallegorisiert die Euphoriongeschichte systematisch. Da darf nichts mehr sein, was es ist. Sie liest den Text als eine chiffrierte Abhandlung über Poesie. Die Frage, welchen Sinn es haben sollte, auf derart chiffrierte Art und Weise etwas zum Ausdruck zu bringen und das sogar noch auf der Bühne und ohne dabei in Lohmeyers Vokabelheft nachschlagen zu können, stellt sich Lohmeyer offenbar nicht.
Vermutlich sind auch die sachlichen Aussagen über Poesie, die Lohmeyer herausdechiffriert nicht besonders sinnvoll, weil sie ja nicht frei über die Sache nachdenken kann, sondern irgendwas zurecht denken muß, das zu dem Text als mutmaßlicher allegorischer Gehalt paßt.
Auch Lohmeyer würde ich gerne fragen, was Regieleute, die ihr Buch gelesen haben jetzt tun sollen: Sollen sie Vokabelhefte ausgeben und alle, die zuschauen wollen, vorher einem Vokabeltest unterziehen?: „Was bedeutet Dreifuß?“ „Was bedeuten die Sphinxe?“
Ich frage mich auch, wie Lohmeyer selbst mit ihrem eigenen Allegorienführer eine Aufführung erlebt. Z.B. wenn Mephisto von den Müttern erzählt („die einen sitzen, die andern stehen oder gehen“), und Lohmeyer davon überzeugt ist, die Mütter seien „das Prinzip des Seins, das in den drei Bereichen der Natur, dem mineralischen (sitzen) dem pflanzlichen (stehen) und dem tierischen (gehen) gleichermaßen bildend wirksam ist“ (128). – Diese „Übersetzung“ nannte Staiger „eine Goethe fremde Pedanterie“ (Staiger 308). Lohmeyer verwechselt das Mütterreich offenbar mit der Mummenschanz.
Auf mich wirkt Lohmyers Text wie absurdes Theater: Man schlage irgendwo auf und rezitiere zwei Stunden lang vor einem Publikum, dem man ein absurdes Theaterstück versprochen hat, und es wird viel Beifall geben. – Doch ich schätze, dieses Buch zu schreiben, war Knochenarbeit. Es würde mich daher freuen, wenn Lohmeyers Buch für Fachleute eine Fundgrube nützilicher Verweise darstellt, und nicht zuletzt eine Fundgrube instruktiver Irrtümer und Verkennungen.
Fazit und Nachsatz:
Wissenschaftliches Quellenstudium ist zweifellos unabdingbar. Aber mit dem Verständnis eines Kunstwerks hat das nicht immer viel zu tun. Im Gegenteil: Anspruch und Wirklichkeit der älteren Philologie klaffen oft weit auseinander: Die meisten Faust-Deutungen auf „wissenschaftlicher“ Grundlage sind überzogen, teilweise grotesk verkennend, lesen tendenziös in den Text etwas hinein und ignorieren alles, was ihnen widerspricht.
Eine der groteskesten und makabersten Tatsachen zur Faust-Philologie ist mit dem Buch „Faust und das Faustische“ verbunden, das die tendenzös-patriotischen Verkennungen der Faust-Philologie minutiös nachzeichnet – und von einem Autor stammt, der als Experte für ostpreußische Männertänze ein hoher SS-Ideologiefunktionär wurde, Tür an Tür mit Massenmordbürokraten arbeitete und nach dem Krieg unter neuem Namen Karriere als Hochschullehrer machte.
Für eine Hilfestellung zur Erschließung des Kunstwerks sind viele philologischen Arbeiten offensichtlich nicht nur sachlich ungeeignet und wenig hilfreich sondern – wie der Germanist Arens meinte – regelrecht ungenießbar: Die Leute quälen sich durch hunderte Seiten minimalistischen Infowust, und hinterher fragen sie sich, was sie da eigentlich alles gelesen haben. Die „Nachlese“ ist im Verhältnis zum Zeit- und Konzentrationsaufwand gleich null. – Das ist die zuverlässigste Art, Menschen von der Kunst abzuschrecken und Mißverständnisse aufkommen zu lassen, was es mit diesen Kunstwerken auf sich habe: daß sie ganz furchtbar voraussetzungsvoll seien. Das macht sie für die meisten Menschen uninteressant weil mit viel zu viel Erschließungsaufwand verbunden.
Was mich so sauer macht ist: Daß die bildungsbürgerliche Philologie alles, aber auch wirklich alles dafür getan hat, die großen Kunstwerke als mühselig und langweilig zu markieren. Wer geht denn ins Theater, um sich ein Stück anzusehen, das eine poetologische Diskussion, die vor 200 Jahren mal aktuell war, in chiffrierter Form darbietet? Oder für das man sich vorher Wissen über Plotin und Plutarch anlesen muß?
Es ist höchste Zeit, das bildungsbürgerliche Mißverständnis über klassische Kunst öffentlichkeitswirksam richtigzustellen!
Dazu weiterlesen: Initiative zur Entstaubung der klassischen Kunstwerke
Literaturnachweise
Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust II, Heidelberg 1989
Über Lohmeyers Interpretationen schreibt Arens: „In summa kann man sagen, daß diese „Anleitung zum Lesen des Textes“ die gerade den 3. Akt mit Symbolik und historischen Fakten stopft, ihn weithin ungenießbar macht [und auch die Anleitung selbst wird dadurch ungenießbar W.L.] Der Text verträgt das nicht, er ist reich facettiert und läßt an manches denken, er bildet es aber nicht ab und bedeutet es nicht“ (740).
Eduard Engel Deutsche Stilkunst (1931) Berlin 2016 (die andere Bibliothek) Bd.1 S.380f.
Engel war Deutscher jüdischer Herkunft. Sein Buch wurde von einem Nazi fast vollständig plagiiert, offenbar in der Sicherheit, daß Bücher jüdischer Autoren nie mehr zugänglich würden. Dieses Plagiat wurde nach dem Krieg ein Standartwerk für Journalisten bis ins neue Jahrtausend. Selbst ich habe als Student fasziniert davon gelernt und meine Erkenntnisgewinne dem Nazi-Heini zugeschrieben. Erst 2016 wurde das Original wieder publiziert.
Ludwik Fleck, : Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, (1935), Frankfurt a.m. 1980
Fleck war ein polnisch-jüdischer Arzt, Forscher und Pionier der Wissenschaftstheorie. Als hochrangiger Wissenschaftler wurde er im KZ verpflichtet, Impfstoffe für die deutsche Armee herzustellen. Er ließ die Deutschen im Unklaren darüber, wieviel Impfstoff mit den zur Verfügung gestelltn Mitteln tatsächlich herstellbar war, produzierte für die Armee Scheinimpfstoff und verwendete das wenige, was er an echten Impfstoff erzeugen konnte, für die KZ-Insassen. – Nach dem Krieg arbeitete er wieder als Forscher.
Lohmeyer, Dorothea, Faust und die Welt 350f – München 1977 (dtv)
Schmidt,Jochen, Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. 2. Auflage. C. H. Beck, München 2001
Schwerte/Schneider, Hans, Faust und das Faustische (Link zum Wikipediaartikel)
dazu: Claus Leggewie: Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte. Hanser, München 1998,