Helena: Wie Persönlichkeit die Schönheit erhöht

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Schönheit bei welchem Geschlecht auch immer ist nicht einfach ein hübsches Frätzchen und ein geiles Figürchen, wie Mephisto schon in der Finsteren Galerie feststellte: „Doch Teufelsliebchen wenn auch nicht zu schelten, sie können nicht für Heroinen gelten“.

Was Schönheit ausmacht ist nicht zuletzt die Faszination, die von Persönlichkeit und Charakter ausgehen. Chiron, der weise Pferdemensch, brachte es auf den Punkt: „Was, Frauenschönheit will nichts heißen, ist gar zu oft ein starres Bild, nur solch ein Wesen kann ich preisen, das schön und lebenslustig quillt. Die Schöne ist sich selber selig, die Anmut macht unwiderstehlich, wie Helena, da ich sie trug.“

Das Äußerste an Schönheit ist nicht zu haben ohne die Erlebnisse, Taten und Leiden des naturschönen Menschen, ohne seine Verdienste um seine Würde. Wenn Faust die schönste Frau der Welt treffen will, muß er ein gemeistertes Schicksal treffen. (Ein Co-Autor unserer Website, Daniel Seefeld läßt einen Dichter ulken: „Es ist nunmal so, das Hirn wächst von selbst nicht so schön wie der Po“ (in: Die optimale Kombination).

Der Zusammenhang von Schönheit und Schicksal spricht für das Urteil des Germanisten Osterkamp, daß Helena eine der faszinierensten Frauengestalten in Goethes Werk ist. (Die Seitenangaben im Folgenden beziehen sich auf Osterkamps Text.)

Nicht notwendig aber möglich ist es, zu der Schönheit, die Faust sucht, den Status hinzuzudenken. Eine Frau, genauso schön, genauso faszinierend wie Helena, aber unbekannt, nicht sagenhaft, nicht prominent, nicht mit dem Status der umkämpftesten Frau der Weltgeschichte: Wäre die für Faust wirklich genauso schön wie Helena? (Es ist bekannt, daß Status schön macht und leicht entschädigt für Falten und dicken Bauch.)

Als Helena vom Burgherrn Faust hört, erkundigt sie sich als erstes, wie er aussieht. Das legen manche Interpreten gegen sie aus: daß sie nach der nächsten Männergeschichte giere und nicht bloß sich und ihre Dienerinnen retten wolle. Dem widerspricht allerdings, was Goethe aus seinen Skizzen nicht übernommen hat: In den Skizzen wirft Phorkyas Helena noch vor, sie sei mit „umschauenden Äuglein“ „umsichtig männerwechselnd oft“ (Zitate nach Osterkamp 426).

Freilich: beim unvorinformierten Zuschauen kann man sicherlich einiges so oder so sehen. Doch zählen wir einfach mal die Fakten auf:

  • Helena tut, was sich ziemt.
  • Sie faßt und ermannt sich, statt sich gehen zu lassen, zu klagen und zu verzagen.
  • Sie ist eine kompetente Cheffin, die hinter ihren Mitarbeitern auch dann steht, wenn die mal Mist gebaut haben, und sie schreitet gekonnt gegen Mobbing ein.
  • Sie erfüllt die Elternfunktion von Vorgesetzten auch da vorbildlich, wo es darum geht, die Last der eigenen Entscheidungen selber zu tragen und nicht ihren Untergebenen mit aufzubürden: „was die Königin dabei in tiefem Busen geheimnisvoll verbergen mag, bleib jedem unzugänglich“.
  • Sie fügt sich wie eine Meisterkriegerin stoisch in das Unabänderliche, und bleibt dadurch fähig bis zuletzt ihre Fassung und Handlungsfähigkeit zu behalten: „Dem Klugen Weitumsichtigen zeigt fürwahr sich oft Unmögliches noch als möglich“.

Darüberhinaus zeigt Helena Autonomie, indem sie sich durch die Gerüchteküche, die in der Klatschpresse über sie in Umlauf sind, nicht irre machen läßt. Sondern sie findet eine eigene Identität statt einer, die ihr zugeschrieben, angeboten zugebilligt,oder übergeholfen wird (395f; 419). – Und sie reflektiert ihr Schicksal: daß wegen ihr, wegen ihrer Schönheit, Kriege geführt wurden; und sie ist nicht stolz darauf sondern entsetzt, was angerichtet wird durch die Macht, mit der sie „begnadet“ ist, ohne daß es ihr Verdienst ist und ohne daß sie sich das gewünscht oder ausgesucht hätte, sondern die sie wie ein Schicksal tragen muß.

Helena entwickelt sich von einer Frau, die eine traditionelle hinnehmende Frauenrolle übernommen hat, weil es sich so ziemte, zu einer aktiv, selbst entscheidenden Frau. Sie schert aus der Rolle der Hinnehmenden aus, sie traut ihren eigenen Werten mehr als denen, die ihr in ihrer weiblichen Sozialisation eingetrichtert wurden: Sie hält die Werte ihres Gatten für nicht in Ordnung und folgt ihren eigenen Werten. Darin zeigt sich ein weiteres Wachstum ihrer Autonomie (426f).

Diese Stärken machen es wahrscheinlich, daß Helena die Chance, sich und ihre Dienerinnen in Fausts Burg vor der Rache ihres Gatten zu retten, nicht als günstige Gelegenheit für eine weitere Männergeschichte bewertet, sondern daß die Interpretation sinnvoller ist, sie schließe nicht aus, sich sexuell Faust prostituieren zu müssen, um ihre Dienerinnen zu retten. (Das scheint Osterkamps Interpretation zu sein.) Sinnvoll ist diese Interpretation, weil sie vorstellbar macht, welchen Konflikt Helena zu bewältigen hat und wie sie sich für ihre Leute aufzuopfern bereit ist (430). Die Frage, wie Faust aussieht, würde dann einen ganz anderen Sinn machen: Mit wieviel Ekel muß ich rechnen?

Lit.: Ernst Osterkamp, Sterne in stiller werdenden Nächten. Lektüren zu Goethes Spätwerk, Frankfurt a.M. 2023 (Vittorio Klostermann)

Nachsatz: Mangel an Erinnerungskultur als illusionsbildendes Vermeidungsverhalten

Es ist interessant, daß das antike Griechenland so idealisiert werden konnte wegen der schönen Skulpturen, und die unfaßbare Grausamkeit der „alten Griechen“ keine Rolle spielte – nicht nur die Grausamkeit gegen Kriegsgefangene sondern vor allem die gegen verschleppte Zivilisten, die unfaßbare Grausamkeit gegen Frauen und Kinder, die verkauft und versklavt wurden für Bordelle und Bergwerke, wo sie nie mehr rauskamen.

Sogar für die eigenen Kinder galt: daß sie „nicht das für uns selbstverständliche Recht auf Leben besaßen, sondern daß der Verkauf und die Aussetzung von Säuglingen … anhielt, als andere Rechte der väterlichen potestas längst veraltet waren“ (H.Arendt). – Dadurch bekommt Goethes Helenismusbegeisterung in Anbetracht der Tragödie von Margarete unfreiwillig eine bösartig grinsende Ironie.

Arendt schreibt weiter: „Es waren die Künste der Gewalt – „Krieg, Handel und Piraterie“, zu deren goethischer Dreieinigkeit sich noch die Kunst der despotischen Herrschaft über die Sklaven gesellte – welche den Siegern die Dienste der Besiegten sicherten“ (Arendt S.173).

Die freien Griechen fanden Sklaverei schlimmer als Tod und folgerten daraus: Menschen, die sich in Sklaverei nicht umbringen, sind Untermenschen, die darf man ruhig versklaven. Selbst Platon und Aristoteles fanden das logisch. Platon schrieb sinngemäß: Wenn die so blöd sind, sich nicht selber umzubringen, sind sie ihr Sklavendasein selber schuld.

(Dennoch schufen die Griechen mit der Idee der Polis den Grundstein für die Idee des „herrschaftsfreien Diskurses“ und die moderne Demokratie. Doch wir sollten nie vergessen: Sie konnten dies nur, weil die Menschen, die sie sich als Sklaven verdingt hatten, ihnen das ermöglicht haben! Den griechischen Sklaven, die den Bürgerlichen zum Reden und Denken den Rücken frei gehalten haben, haben wir die Idee der Demokratie zu verdanken.)

Obwohl diese Greuel im Text erwähnt werden, bleiben sie ausgeblendet, an den äußersten Rand des Blickfelds gerückt wie etwas was keiner größeren Aufmerksamkeit wert ist. Das gibt genau genommen dem Ganzen einen Stich.

Eine feministische Analyse würde sicher sogar den gesamten Text verreißen: sexistische Frauenbilder, sexistische Unterstellungen bis hin zu Täter-Opfer-Umkehr, Verleugnung der traumatisierenden Folgen von Gewalt gegen Frauen durch Bagatellisierung und Marginalisierung der Gewalt und schließlich der grundlegende Makel, daß hier ein Mann (Goethe) sich etwas über Frauen vorstellt, ohne zu reflektieren, wie begrenzt und irrtumsanfällig es ist, wenn wir uns Vorstellungen von anderen Geschlechtern machen, das hat naturgegeben immer einen sehr begrenzten und zweifelhaften Aussagewert, selbst bei einer so überragenden „Antizipationsfähigkeit“ wie der Goethes.

Es ist unabdingbar, diese Sachverhalte mit zu bedenken beim Lesen und Zuschauen. Aber auf einem von diesen unabdingbaren Bedenken gut ausgeleuchteten Hintergrund wird es sinnvoll, sich den Stärken und Gehalten des Kunstwerks hinzugeben. – Auf diese Weise tritt dann nicht zuletzt auch der Effekt ein, den Goethe im Epilog mit den Worten benennt: „Das Unzulängliche, hier wird es Ereignis“: Gerade am Unzulänglichen, am zeitlich und persönlich bedingten, zeichnet sich etwas ab über uns Menschen, es bereitet uns einen „Grund von Gegenteil“, damit wir Konturen besser erkennen, wie Rilke das später in einer Elegie beschreibt.

Weiterlesen:  Inhaltsangabe 3. Akt – Phorkyas, Keifen als Kunst – Euphorion – Faust in Arkadien, die Utopie als Crashtest

Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel)

Lit. Hannah Arendt, Vita aktiva und Vita kontemplativa, die Darstellungen über Sklaverei sind aus Kap.2, Anm. 15 und Anm. 30

Link zum Wikipediaartikel über Arends Werk