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Inhalt:
(1) Mißgunst und Häßlchkeit
(2) Scham und Schönheit
(3) Sinn und Sex
Zusatz: Schönheit als Falle
(1) Mißgunst und Häßlichkeit
Phorkyas galt wahrscheinlich schon in ihrer Jugend als häßlich, weil sie offenbar ein mißgebildetes Gesicht hat: „hohlen blutig-trüben Blicks seltsamer Bildung wie sie Aug und Geist verwirrt“. Möglicherweise kommt Phorkyas aber auch einfach nicht damit klar, alt zu sein, eine Greisin.
Jedenfalls portraitiert Goethe in ihr eine alte Frau, die voller Mißgunst ist gegen junge schöne Frauen, weil die haben, was sie nicht mehr hat: Jugend, Schönheit, Sex. – Möglicherweise könnte sie die Mißgunst im Zaum halten, solange die jungen Frauen ihr nicht blöd kommen. Aber genau das tun die hier: Sie beschimpfen die alte Frau wegen ihrer Häßlichkeit, sie sind empört darüber, daß sich so eine häßliche alte Frau noch auf der Straße blicken läßt.
Phorkyas Keiferei ist geprägt von Mißgunst und Vergeltung. Es geht bis hin zur Täter-Opfer-Umkehr, daß die jungen Frauen selber schuld daran seien, von Soldaten vergewaltigt worden zu sein, weil sie sich zu verführerisch verhalten hätten.
Phorkyas ist hier nicht solidarisch mit Frauen sondern zeigt sich bereit, sich mit den Männern gegen die Frauen zu verbünden.
(2) Scham und Schönheit
Selbst bei den beschränkten Hofleuten im 1. Akt, denen es bloß um Unterhaltung geht, würden Mephistos „Teufelsliebchen“ als Helena durchfallen, ja Gelächter auslösen. Daß Schönheit und Charakter unabhängig voneinander sind, ist ein Urproblem. In Gestalt der keifenden Phorkyas formuliert Mephisto das so: „Alt ist das Wort, doch bleibet hoch und wahr der Sinn, daß Scham und Schönheit nie zusammen Hand in Hand den Weg verfolgen über der Erde grünen Pfad. Tief eingewurzelt wohnt in beiden alter Haß!“
Menschen, bei denen Scham und Schönheit verbunden sind, sind sich bewußt, daß die Schönheit nicht ihr Verdienst ist; bei ihnen führt die Schönheit weder zu falschem Stolz noch dazu, sich Vorteile zu erschleichen.
Seit Menschengedenken ist es bekannt und mittlerweile durch wiederholte Experimente vielfach belegt, daß schöne Menschen besser behandelt werden, völlig unabhängig davon, ob sie es verdient haben oder nicht: Richter und Richterinnen bekamen das gleiche Vergehen vorgelegt, aber die einen mit einem Foto, das einen schönen, die andern mit einem, das einen unvorteilhaft aussehenden Menschen zeigte. Signifikant häufiger bekamen die schönen Verbrecher und Verbrecherinnen die milderen Strafen.
„Schönheit bändigt allen Zorn“ sagt der Wächter Lynkeus später, als er die Todesstrafe durch Helenas Richterspruch erwartet, weil er so hingerissen von ihrer Erscheinung war, daß er vergaß ihre Ankunft zu melden.
(3) Sinn und Sex
Die Zuschauer wissen zwar, daß Phorkyas keine alte Frau ist, sondern daß Mephisto sich diese Larve von den Phorkyaden entliehen hat, die Zuschauer durchschauen auch die Strategie der Mädchen, die sich der alten Frau nur anbiedern wollen, weil sie die Macht hat, sie zu retten; an der Oberfläche erscheint jedoch folgende Gestalt:
Eine alte Frau, offenbar angestachelt von uneingestandener sexueller Frustration, ergeht sich zunächst genüßlich in sexuell unterstellenden Schmähreden auf die jungen Frauen, wird aber wohlwollend gestimmt, sobald sie als Retterin für die jungen Frauen wichtig geworden ist, und sie sich interessiert um die Alte scharen, ihr ungeteilte Aufmerksamkeit schenken und sich ehrerbietig verhalten.
Die Szene ist eine „ethisch-ästhetische Formel“ dafür, wie Sinn über sexuelle Frustration hinwegtrösten kann: Die Alte partizipiert an der Jugend der jungen Frauen, weil deren Jugend ohne die Alte keine Zukunft hätte. Die Alte genießt die Bedeutung, die sie für die Jugend hat.
(Zum Begriff „ethisch-ästhetische Formel s. Euphorion Pkt. 3.1. – Ein anderes Beispiel für eine „ethisch-ästhetische Formel“ finden Sie in meiner Kritik der Stein-Inszenierung unter Nereus.
Weiterlesen: Euphorion – – – – Zum Faust-Pfad (Überblick über alle Artikel)
Zusatz: Schönheit als Falle
Schönheit ist seit altersher auch eine bekannte Falle für die Schönen selbst, wie die Blondinenwitze belegen: Wenn schöne Menschen es aufgrund ihres beschränkten Elternhauses nicht besser wissen, nutzen sie ihre Schönheit, um damit schöne Erlebnisse und materielle Erfolge zu erzielen und haben keinen Antrieb mehr, ihre anderen Potentiale zu üben und zu entfalten, Potentiale, von denen sie oft auch keine Ahnung haben, weil sie in der Beschränktheit ihres Elternhauses eine typische weibliche Sozialisation erfuhren, die sie von früh an auf die Weibchenrolle getrimmt hat. Über Blondinenwitze sollten wir nicht lachen sondern weinen.
Doch Schönheit als Falle gibt es nicht nur bei Frauen. Zweimal hatte ich mit besonders schönen Männern zu tun: Der eine Mann hatte Erfolg bei einer überdurchschnittlich tüchtigen Frau, die Karriere machte. Er hatte keinen Antrieb mehr für seine eigene Entwicklung und als die beiden sich trennten, wurde er zum Sozialhilfeempfänger. – Der andere lebte bis Anfang 40 das Leben eines Don Juan. Dann geriet er in eine Krise, weil ihm auf einmal die 20 Jahre, die ausschließlich mit erotischen Erlebnissen ausgefüllt waren, unerträglich sinnleer erschienen. Er beendete sein Studium, bekam eine Anstellung als Ingenieur und wurde glücklich.
Der nigerianische Schriftsteller Amos Tutuola schrieb eine kleine Kurzgeschichte über ein Duell von zwei unverschämten Schönen: Ein Schädel hört von einer stolzen Schönen, der kein Mann gut genug ist. Der Schädel wandert in ihr Dorf und unterwegs leiht er sich in jedem Dorf, durch das sein Weg führt, etwas, das ihn zu einem vollendeten Mann macht. So gelangt er als vollendeter Mann in das Dorf der Schönen, sie heiratet ihn und geht mit ihm zurück in sein Dorf. Doch unterwegs gibt der Schädel Dorf für Dorf das Geliehene zurück… – (Verwandt damit ist die Geschichte „Schmetterlinge“ von Lars Lehmann auf unserer Website, eine „Parallelgeschichte“ zu Faust und Margarete.)
(Zum Wikipediaartikel über Amos Tutuola)