Goethe hat in diesem Stück Aspekte des Menschlichen und der modernen Welt auf geniale Weise poetisch „auf den Punkt gebracht“.
- Poesie erzeugt Erlebnisse: Goethes „Poesie“ führt uns Mensch und Moderne so anschaulich und lebendig vor Augen, daß wir sie beispielhaft erleben d.h. nicht nur intellektuell erfassen wie bei einem philosophischen Text.
- Ein „Erlebnis“ ist immer mehr als ein Gedanke. Im Nachdenken kann ich mich an Erlebnisse, wie z.B. Trauer, nur erinnern und ich kann höchstens versuchen aus der Erinnerung ihre Bedeutung zu ermessen. Aber nur wenn ich Trauer aktuell verspüre, kann ich neue „Erkenntnisse“ aus der Trauer gewinnen – z.B. darüber, wie wichtig mir ein Mensch ist, dessen Abschied mich traurig macht. Das Erlebnis ist eine Quelle für das Denken: ohne Erleben ist das Denken sich selbst überlassen d.h. leer oder spekulativ. Allerdings: Denken ist die Art und Weise, wie wir den Gehalt des Erlebens zu Bewußtsein bringen.
- In dem Maße, wie die wiederholte Beschäftigung mit dem Drama immer mehr vom Gehalt dieser „poetischen Formeln“ erschließt, nimmt das „Grübeln“ darüber, was der Dichter uns damit sagen will ab und das „Erleben“ der poetischen Bilder zu. Es ermöglicht damit ein immer differenzierteres Bewußtsein für die Lebensprobleme in der modernen Welt und eine immer differenziertere Auseinandersetzung damit.
Zusammenhang von Erleben und Denken
Wenn wir etwas erlebt haben, versuchen wir, etwas von dem Gehalt des Erlebnisses mit unserem Bewußtsein, d.h. mit der Sprache zu erfassen, wir versuchen, die Gefühle, die das Erlebnis ausgelöst hat, zu artikulieren. So fragen wir uns z.B. was das Erlebte über uns selbst, über andere Menschen, über Beziehungen zwischen zwei Menschen oder über die Welt sagt. Ein unartikuliertes Erlebnis oder Gefühl ist für unser Bewußtsein eine black box: Wir wissen nicht, was es uns sagen will. Wir können davon höchstens sagen, daß wir da irgend etwas gespürt haben. Fühlen und Denken sind nicht zu trennen.
(Anmerkung zu Wittgensteins Sprachphilosophie: Vor Wittgenstein war die gängige Auffassung, daß die Wortbedeutung sich aus ihrer Bezeichnungsfunktion ergebe, so als ob, wie Wittgenstein ulkte, den Dingen Namenstäfelchen angeheftet würden. Wittgenstein arbeitete dagegen heraus, daß Sprache und soziale Lebensvollzüge sich gegenseitig konstituieren, d.h.: Es war für uns nie etwas vor der Sprache, das dann durch die Sprache nachträglich benannt wurde. Sondern unser Zusammenleben und -arbeiten ist bereits entwicklungsgeschichtlich durch unsere Sprachfähigkeit geprägt – und umgekehrt. Die Wortbedeutungen ergeben sich daraus, wofür wir Worte in unseren Lebensvollzügen brauchen. Die Sprache hat mehr mit den historisch sich herausgebildeten Ausprägungen menschlicher Wünschen und Bedürfnisse zu tun sowie den Weisen ihrer Befriedigung und den dazugehörigen Glaubensvorstellungen, als mit der objektiven Welt. Sprache und Welterkenntnis sind nicht objektiv, sondern „Gepflogenheiten“. (Eine Kurz-Einführung in die Philosophie Wittgensteins gibt es hier.)
Weiterlesen: Überblick über das Drama: Deutende Inhaltsangabe