Schildbürgerpreis für den „Spiegel“

oder: Spiegelleser kriegen nicht alles mit
Offener Brief an die Redaktion des „Spiegel“

Sehr geehrter Herr Mascolo, sehr geehrter Herr Müller von Blumencron,

seit einigen Jahren verfolge ich die Diskussionen zur Energiewende im „Spiegel“ und anderen einschlägigen Zeitungen. Eines ist frappierend: Von Solarthermie ist so gut wie nicht die Rede. Es wird in Politik und Medien seltsam an den Möglichkeiten vorbeigeredet, wenn als Nachteil der Sonnenenergie die Komplikationen und Kosten ins Feld geführt werden, die daraus entstehen, daß es nicht wirtschaftlich ist, Solarstrom zu speichern und er deshalb ins Netz eingespeist werden muß. Solarthermie hat längst wirtschaftliche Lösungen für das Speicherproblem: dazu braucht es nur einen Wassertank. Ich frage mich regelmäßig: Hat da jemand seine Hausaufgaben nicht gemacht oder soll eine ebenso effektive wie unaufwändige Technologie vorsätzlich totgeschwiegen werden? Längst sind mit Solarthermie energieautarke Häuser möglich, die für das ganze Jahr mehr als genug Wärme erwirtschaften, so daß sie nicht einmal schimmelfördernde Dämmung brauchen. Und dabei bleibt ihnen sogar noch genug Platz an der Sonne, um Haushaltsgeräte und Elektroautos photovoltaisch zu betreiben!

Im aktuellen Artikel von Jörg Schindler zu Herrn Altmaiers Konfliktscheu („Mensch Peter“, Spiegel Nr.35) wäre eine gute Gelegenheit gewesen den Minister noch aus einer weiteren Richtung naß zu spritzen und der Regierung einmal mehr vorzuhalten, wie durch ihre Lobbylastigkeit wieder einmal Bürger und Volkswirtschaft Nachteile haben:
– Es ist ärgerlich für die Bürger, die in den letzten Jahren gebaut und in allen möglichen Energieschnickschnack investiert haben, ohne aber vom Hauptkostentreiber unabhängiger zu werden: von Öl und Gas. Bevor sie im Portemonnaie ankommt, ist ein großer Teil der Einspeisevergütung durch den Schornstein wieder verschwunden.
– Es ist ärgerlich für die Mehrheit der Bürger, die nicht genug verdient, um sich ein Haus zu bauen, doch jetzt mit ihren Steuer- und Strompreisabgaben die Bessergestellten, die in Photovoltaik als Renditeobjekt investiert haben, noch wohlhabender machen muß.
–  Es ist volkswirtschaftlich ärgerlich, weil durch Investitionen in Solarthermie eine größere Unabhängigkeit von fossiler Energie erreicht werden würde, als wenn man alle Sonne in Strom verwandelt.

Daß das Thema von der Politik totgeschwiegen wird, wundert niemanden: die Silizium- und die Dämmstoffindustrie haben mächtige Lobbys. Die Solarthermie braucht keine Großindustrie, sondern nur schwarzes Blech und Wassertanks. Sie bräuchte aufgrund ihrer langfristigen Wirtschaftlichkeit wahrscheinlich nicht mal Subventionen oder Steuervorteile, um sich auf dem Markt durchzusetzen. Sie bräuchte nur mediale Förderung! Es reicht nicht, wenn Solarthermie in einigen wenigen verstreuten Artikeln mal vorkommt, die tägliche Diskussion aber keine Notiz von ihr nimmt. Das ist ungefähr so, als ob alle Welt heftig darüber diskutierte, wie man Infektionen in den Griff kriegen könnte, aber von Antibiotika außer in Apothekenzeitschriften nicht die Rede wäre.

Für Nichtfachleute ist es unglaubhaft, daß etwas, das bei einem so zentralen Thema wie der Energiewende keine mediale Präsenz hat, etwas taugt. Es ist schon ein gewisser selbständiger Rechercheaufwand notwendig, um diesen Irrtum zu korrigieren. Doch in einem Spiegelartikel von 2009 lese ich, Solarthermie könne eine fossile Heizung „nur ergänzen“: „Schließlich möchte man auch in der Nacht Warmwasser haben, wenn die Sonne nicht scheint.“ Für diesen Satz hat Ihr Magazin einen Extra-Schildbürgerpreis verdient! Es gibt keinen besseren Beleg dafür, wie mediale Präsenz ihre eigene Beschränktheit reproduziert, indem sie blind wird für alles außerhalb ihres Lichtkegels. Wenn selbst ein Fachjournalist den Rechercheaufwand zu Solarthermie so falsch einschätzt, bis zur Lächerlichkeit, wie sollen da die Bürger die Potentiale entdecken, die von den Lobbys in die Nischen gedrängt werden?

Indem der „Spiegel“ sich wie alle andern nur auf den ausgetretenen Diskussionspfaden bewegt, spielt er den Lobbys in die Hände.

Was hält den „Spiegel“ eigentlich davon ab, die Solarthermie in die Diskussion zu bringen? Dieses Thema bietet sich über seine Aktualität hinaus doch an, zum Vorschein zu bringen, wie die Lobbykratie nicht nur die Politik bestimmt sondern auch Wirklichkeit konstruiert!

Als leidenschaftlicher „Spiegel“-Leser würde ich mich riesig freuen, mich mit den Aussagen dieses Briefes bald ins Unrecht gesetzt zu sehen. Zumindest würden meine Leser und ich mich über eine Antwort von Ihnen freuen!

Mit freundlichen Grüßen

Winfried Lintzen

PS: Für die fachliche Beratung danke ich Herrn Prof. Timo Leukefeld, Dozent an der
TU Bergakademie Freiberg (www.timo-leukefeld.de).

Nachtrag 03.11.2012
Außer einer maschinellen Empfangsbestätigung hat der „Spiegel“ nicht auf meinen Brief geantwortet. Das sollten wir aber nicht falsch bewerten: Wer weiß, wieviele Briefe die Redaktionen bekommen! Es ist ihnen wahrscheinlich nicht möglich, jeder Internetseite zu antworten. Wäre ich Spiegelredakteur, hätte ich vermutlich – schweren Herzens – eine ähnliche Redaktionsentscheidung getroffen.
Bleibt zu hoffen – für uns Bürger und für den „Spiegel“ – daß mein Brief jemanden in der Redaktion darin bekräftigt hat, sich um das Thema Solarthermie zu kümmern. Denn ich kann mir gut vorstellen, daß die Solarthermie die Energiequelle der Zukunft ist. Sie bietet einfach ein denkbar günstiges Verhältnis von Aufwand und Wirkung – und Nachhaltigkeit! Vermutlich wird es aber noch mehr als 10 Jahre dauern, bis sie sich gegen die Lobbys durchsetzt. – Natürlich muß das nicht stimmen, bloß weil ich es mir so gut vorstellen kann. Aber wenns doch stimmen sollte, was könnte sich dann ein Magazin wie der „Spiegel“ für ein Verdienst erwerben, wenn er dem Besseren zügiger auf den Weg geholfen hätte gegen die Beharrlichkeit der Nutznießer des Schlechteren!

 

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